OGH 10ObS223/89

OGH10ObS223/897.11.1989

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Angst und Dr. Bauer als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christian Kleemann (Arbeitgeber) und Dr. Norbert Bartolomai (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Hermine W***, Angestellte, 5571 Maria Pfarr, Bruckdorf 52, vertreten durch Dr. Wolfgang Rohringer, Rechtsanwalt in Tamsweg, wider die beklagte Partei P*** DER A***, 1021 Wien, Friedrich

Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Alfred Kasamas, Rechtsanwalt in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 18. April 1989, GZ. 12 Rs 64/89-24, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Salzburg als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 10. Jänner 1989, GZ. 17 Cgs 79/88-18, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin ab 1. November 1987 die Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren, und trug ihr eine vorläufige Leistung von 3.000 S monatlich auf. Es stellte im wesentlichen folgendes fest:

Die am 18. August 1930 geborene Klägerin war von 1944 bis 1955 als Landarbeiterin und anschließend bis 1977 als Haushälterin in einer Landwirtschaft beschäftigt. Seit 1978 ist sie Angestellte im Betrieb ihres Ehegatten. Es handelt sich dabei um eine Landmaschinenwerkstätte mit Schmiede und einen Landmaschinenhandel. Das Arbeitsgebiet der Klägerin umfaßt Bürotätigkeiten, wie die Bearbeitung der täglichen Post und der Bankbelege und die üblichen Schreibarbeiten. Zu ihrem Aufgabengebiet gehört es auch, bei der Beschaffung der im Betrieb benötigten Ersatzteile mitzuwirken. Zu diesem Zweck muß sie ausgedehnte Autofahrten unternehmen. Außerdem ergibt sich dabei die Notwendigkeit, Maschinenteile und Geräte mit einem Gewicht von über 5 kg auf- und abzuladen, zu heben und zu tragen. Da Kunden oft nach Dienstschluß kommen oder aus einem anderen Grund die in der Werkstätte Beschäftigten nicht anwesend sind, muß die Klägerin auch Kunden, die Ersatzteile und ähnliches kaufen, beim Aufladen helfen. Ferner hat sie reparaturbedürftige Maschinen abzuholen. Diese manipulativen Tätigkeiten sind mit Bückbelastungen und mit vorgebeugter Körperhaltung verbunden und nicht auf eine Viertelstunde im Freien in jeweils zwei Stunden beschränkt. Ferner ist dabei das Heben und Tragen von mehr als 8 kg und häufiges Bücken und "Überkopfarbeiten" erforderlich. Die Klägerin ist auf Grund ihres - im einzelnen näher beschriebenen - körperlichen und geistigen Zustands noch imstande, leichte und mittelschwere Arbeiten im Sitzen, Gehen und Stehen in geschlossenen Räumen, fallweise auch im Freien bei einer täglichen Arbeitszeit von 8 Stunden zu verrichten, wenn Unterkühlungen und Durchnässungen vermieden werden. Das Arbeiten im Freien ist in der kalten Jahreszeit oder bei Niederschlägen alle zwei Stunden jeweils für eine Viertelstunde möglich, wenn sie sich dabei warm anziehen und vor Kälte oder Durchnässung schützen kann. Heben und Tragen kann sie bis zu einem Gewicht von 5 kg, fallweise 8 kg. Bückbelastungen und Arbeiten in vorgebeugter Körperhaltung dürfen nur gelegentlich vorkommen, wobei sich dies auf eine vorgebeugte Körperhaltung im Stehen bezieht. Büroarbeiten sind nicht ausgeschlossen. Längeres "Überkopfarbeiten" ist zu vermeiden. Für Arbeiten an exponierten, absturzgefährdeten Stellen, wie Leitern und Gerüsten, ist die Klägerin nicht geeignet. Ausgeschlossen sind ferner Tätigkeiten, die ein gutes Hörvermögen erfordern und Tätigkeiten, die unter ständigem Zeitdruck verrichtet werden müssen, wie Akkord-, Fließband- oder Schichtarbeiten. Die Klägerin kann Autofahrten bis zu zwei Stunden unternehmen. Nach zweistündigem Sitzen oder Stehen muß sie Gelegenheit haben, für eine Viertelstunde in einer anderen Körperhaltung zu arbeiten. Sitzbelastungen dürfen zwei Drittel der Arbeitszeit nicht übersteigen, ebenso dürfen "Steh-" (gemeint wohl: Geh-) und Stehbelastungen nicht mehr als zwei Drittel der Arbeitszeit ausmachen. Der Anmarschweg zur Arbeitsstätte ist nicht beschränkt.

Die Klägerin hat zum Stichtag mehr als 180 für die Bemessung der Leistung zu berücksichtigende Versicherungsmonate erworben. Sie ist nicht mehr imstande, die zuletzt ausgeübte Tätigkeit weiter auszuüben.

Rechtlich beurteilte das Erstgericht den festgestellten Sachverhalt dahin, daß die Klägerin berufsunfähig im Sinn des für sie maßgebenden § 273 Abs 3 ASVG sei, weil sie die zuletzt ausgeübte Berufstätigkeit nicht mehr ausüben könne. Es sei hierauf und nicht auf eine Bürotätigkeit, wie sie üblicherweise verrichtet werde, abzustellen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Der Verweisungsrahmen werde im Fall des § 273 Abs 3 ASVG ebenso wie im Fall des § 255 Abs 4 ASVG durch die konkrete, vom Pensionswerber überwiegend ausgeübte Beschäftigung bestimmt. Es komme hingegen nicht darauf an, wie die Tätigkeit üblicherweise von Angestellten dieser Berufsgruppe verrichtet werde. Bei anderer Betrachtungsweise würde der durch § 273 Abs 3 ASVG beabsichtigte besondere Schutz älterer Versicherter, die jahrelang eine bestimmte gleiche oder gleichartige Tätigkeit ausgeübt haben, unterlaufen. Gerade bei kaufmännischen Diensten wären nämlich sehr weite Verweisungsmöglichkeiten gegeben, wenn man von einem abstrakt üblichen Berufsbild ausgehe.

Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache mit dem Antrag, es im Sinn der Abweisung des Klagebegehrens abzuändern oder allenfalls die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an die zweite oder erste Instanz zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragte, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Die beklagte Partei beruft sich in ihrer Revision zu Recht auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes SSV-NF 2/53. Der Oberste Gerichtshof hat darin zu dem hier anzuwendenden § 273 Abs 3 ASVG ausgesprochen, daß die Unfähigkeit, eine mit oder neben der Haupttätigkeit verrichtete Nebentätigkeit auszuüben, nur dann zur Berufsunfähigkeit führt, wenn die Nebentätigkeit mit der Haupttätigkeit typischerweise so verbunden ist, daß beide nur gemeinsam auf dem Arbeitsmarkt gefragt sind. In der Entscheidung wurde auch ausgeführt, daß dies nicht eine Verweisung auf eine bisher nicht ausgeübte Tätigkeit, also eine der angeführten Gesetzesstelle widersprechende Verweisung auf der überwiegend ausgeübten Tätigkeit ähnliche Erwerbstätigkeiten bedeute. Der Oberste Gerichtshof ist damit der Rechtsprechung des Oberlandesgerichtes Wien als damaligem Höchstgericht, auf die das Berufungsgericht Bezug nimmt (vgl. etwa SSV 25/74), nicht gefolgt. Da das Berufungsgericht keine neuen Argumente anführt, bietet seine Entscheidung keinen Anlaß, von der dargelegten Rechtsansicht abzugehen, zumal sie auch im Schrifttum vertreten wird (Müller, Entscheidungsbesprechung in ZAS 1983, 195).

Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichtes führt die Rechtsansicht des Obersten Gerichtshofs nicht zu einem ungerechtfertigten "Unterlaufen" des vom Gesetzgeber angestrebten Berufsschutzes, weil entsprechend dem Gesetzeswortlaut (vgl. "durch diese Tätigkeit" im § 255 Abs 4 lit d und § 273 Abs 3 lit d ASVG) nur auf die während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag in mindestens der Hälfte der Beitragsmonate ausgeübte gleiche oder gleichartige Tätigkeit, allerdings nicht mit dem auf einen bestimmten Arbeitsplatz, sondern mit dem am allgemeinen Arbeitsmarkt typischerweise gefragten Inhalt, abgestellt wird. Dies steht aber weder mit dem Wortlaut noch mit dem Zweck des Gesetzes im Widerspruch. Der Versicherte darf nur nicht auf andere als die bisher überwiegend geleisteten Tätigkeiten verwiesen werden. Wohl aber ist es zulässig, ihn auf Tätigkeiten zu verweisen, die zwar im Kernbereich (vgl. SSV-NF 2/53) völlig mit der bisherigen Tätigkeit übereinstimmen, bei denen jedoch Nebentätigkeiten wegfallen, die mit der Haupttätigkeit nicht typischerweise verbunden sind. Nach den bisher vorhandenen Verfahrensergebnissen war die Berufstätigkeit, welche die Klägerin während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag in mindestens der Hälfte der Beitragsmonate ausübte, die Tätigkeit einer mit einfacheren Kanzleiarbeiten befaßten Angestellten in einem Betrieb, der die Reparatur von und den Handel mit Landmaschinen zum Gegenstand hat. Entscheidend ist also, ob die Klägerin imstande ist, durch diese Tätigkeit, allerdings nicht mit dem an ihrem Arbeitsplatz, sondern mit dem am allgemeinen Arbeitsmarkt typischerweise gefragten Inhalt, wenigstens die Hälfte des Entgelts zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt (§ 273 Abs 3 lit d ASVG).

Die Feststellungen des Erstgerichtes reichen nicht aus, um die dargestellte rechtliche Beurteilung vornehmen zu können. Einerseits wurde nicht festgestellt, ob die Tätigkeit einer mit einfacheren Kanzleiarbeiten befaßten Angestellten in einem Betrieb, der die Reparatur von und den Handel mit Landmaschinen zum Gegenstand hat, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt typischerweise mit den von der Klägerin geforderten körperlichen Tätigkeiten, nämlich dem Heranbringen der Ersatzteile, der Hilfe beim Aufladen von gekauften Maschinen oder dem Abholen von Maschinen, verbunden ist. Trifft dies zu, ist die Klägerin berufsunfähig, weil die körperlichen Tätigkeiten dann keine für die Berufsunfähigkeit unbeachtlichen Nebentätigkeiten bilden würden und sie ihr auf Grund ihres Leistungskalküls nicht mehr zugemutet werden können. Sollte es sich aber ausschließlich um solche Nebentätigkeiten handeln, müßte geklärt werden, inwieweit die Klägerin noch die Tätigkeit einer mit einfacheren Kanzleiarbeiten betrauten Angestellten eines Betriebes, der die Reparatur von und den Handel mit landwirtschaftlichen Maschinen zum Gegenstand hat, ausüben kann. Auch dies ist nämlich zweifelhaft, weil sich aus ihrem Leistungskalkül erhebliche Einschränkungen für die zumutbare Sitzbelastung ergeben. Daß nach den Feststellungen (allgemein) Bürotätigkeiten nicht ausgeschlossen sind, ändert daran nichts.

Zur Ergänzung des Verfahrens in der aufgezeigten Richtung mußte die Rechtssache an das Erstgericht zurückverwiesen werden. Der Ausspruch über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf § 2 Abs 1 ASGG iVm § 52 Abs 1 ZPO.

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