Spruch:
Die Beschlüsse des Oberlandesgerichtes Innsbruck vom 8. Februar 1989, AZ 7 Ns 1201/89, und vom 21.März 1989, AZ 7 Ns 1210/89, mit welchen die Anträge des Rechtsanwaltes Dr. Wilfried Ludwig W*** auf Akteneinsicht im wesentlichen mit der Begründung abgewiesen wurden, daß Äußerungen der Oberstaatsanwaltschaft zu eingebrachten Rechtsmitteln als Teil der schriftlichen Aufzeichnungen des Berichterstatters nicht der Akteneinsicht durch die Parteien unterliegen, verletzen die Bestimmung des § 82 StPO.
Text
Gründe:
Gegen Alwin R*** war beim Landesgericht Feldkirch zum AZ 23 b E Vr 2744/84 ein Strafverfahren wegen des Vergehens des teils vollendeten, teils versuchten schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs. 2 und 15 StGB anhängig. In diesem Strafverfahren war auch das Oberlandesgericht Innsbruck zweimal mit der Sache befaßt:
Zunächst hat es das freisprechende Urteil des Landesgerichtes Feldkirch vom 9.Juli 1986 in Stattgebung der Berufung der Staatsanwaltschaft wegen Nichtigkeit mit Urteil vom 21.Oktober 1986, AZ 3 Bs 518/86, teilweise aufgehoben und später den im zweiten Rechtsgang vom Landesgericht Feldkirch verurteilten Alwin R*** in Stattgebung seiner Schuldberufung mit Urteil vom 22.Juni 1988, AZ 7 Bs 368/87, freigesprochen.
Mit Eingabe vom 10.Jänner 1989, sohin nach rechtskräftiger Beendigung des Strafverfahrens, hat Alwin R*** durch seinen Rechtsfreund Rechtsanwalt Dr. Wilfried Ludwig W*** beim Oberlandesgericht Innsbruck (unter Behauptung seines rechtlichen Interesses hieran) das Ersuchen gestellt, ihm Akteneinsicht in den "Originalakt" 3 Bs 518/86 zu gewähren und den Akt an das Bezirksgericht Bregenz als Rechtshilfegericht zu senden. Dieses Ersuchen wies das Oberlandesgericht Innsbruck mit Beschluß vom 8.Februar 1989, AZ 7 Ns 1201/89, ab. Es führte in dieser Entscheidung ua aus:
"Alle der Einsicht durch die Partei unterliegenden Aktenstücke in einem Strafverfahren befinden sich nach Durchführung eines Berufungsverfahrens wieder beim Erstgericht, nämlich im Strafakt selbst. Das Oberlandesgericht als Rechtsmittelgericht behält gemäß § 471 Abs. 2 Geo - diese Bestimmung gilt gemäß § 502 Abs. 6 Geo auch für Rechtsmittel in Strafsachen - lediglich den Entscheidungsentwurf des Berichterstatters, als welcher auch jener Urteilsentwurf zu betrachten ist, der letztlich vom Vorsitzenden durch seine Unterschrift genehmigt wurde, weiters sonstige Aufzeichnungen des Berichterstatters, zu denen auch die zur Vorbereitung seines Referates als Vorgriff auf die mündlichen Ausführungen beim Gerichtstag abgegebene schriftliche Äußerung der Oberstaatsanwaltschaft zum eingebrachten Rechtsmittel zählt, sowie das Beratungsprotokoll bzw. bei Entscheidung in nichtöffentlicher Sitzung den Abstimmungsvermerk zurück. All diese Stücke unterliegen aber nicht der Einsicht durch die Parteien (§ 170 Geo; § 35 StAG; SSt. 34/16; LSK 1980/116)."
Mit Eingabe vom 6.März 1989 stellte Alwin R*** unter Hinweis auf eine beabsichtigte Beschwerde an die Menschenrechtskommission durch Rechtsanwalt Dr. Wilfried Ludwig W*** beim Oberlandesgericht Innsbruck neuerlich den Antrag, ihm Einsicht in den dg. Akt 3 Bs 518/86 zu gewähren und insbesonders "sämtliche Schriftstücke, die von der Staatsanwaltschaft oder der Oberstaatsanwaltschaft stammen oder einen Antrag der Staatsanwaltschaft oder der Oberstaatsanwaltschaft enthalten", der Verteidigung zur Kenntnis zu bringen.
Mit Beschluß vom 21.März 1989, AZ 7 Ns 1210/89, wies das Oberlandesgericht Innsbruck diesen Antrag erneut ab und führte zur Begründung aus:
"Das Oberlandesgericht Innsbruck sieht keinen Anlaß, von seiner zu 7 Ns 1201/89 dargelegten Rechtsansicht abzugehen, wonach die Äußerung der Oberstaatsanwaltschaft zu einem eingebrachten Rechtsmittel zwar nicht einen Teil des Urteilsentwurfes darstellt, wohl aber in Vorgriff auf die mündlichen Ausführungen am Gerichtstag zu den schriftlichen Aufzeichnungen des Berichterstatters, die der Akteneinsicht durch die Partei nicht unterliegen, gehört. Es darf ja nicht übersehen werden, daß die Oberstaatsanwaltschaft keineswegs verpflichtet ist, überhaupt eine schriftliche Stellungnahme abzugeben. Darin liegt auch der wesentliche Unterschied zu der vom Antragsteller angeführten Situation beim Obersten Gerichtshof. Bei diesem hat die Generalprokuratur von Gesetzes wegen auch schriftliche Stellungnahmen abzugeben. Bei dieser Situation kann auch von einer Verletzung der Waffengleichheit, wie sie in der Eingabe behauptet wird, nicht gesprochen werden".
Rechtliche Beurteilung
Die Beschlüsse des Oberlandesgerichtes Innsbruck vom 8. Februar 1989, AZ 7 Ns 1201/89, und vom 21.März 1989, AZ 7 Ns 1210/89, stehen mit dem Gesetz nicht im Einklang:
Gemäß § 82 StPO ist es der Beurteilung der Gerichte überlassen, ob es zulässig erscheine, einer Partei oder ihrem ausgewiesenen Vertreter auch außer den in der Strafprozeßordnung insbesondere bezeichneten Fällen die Einsicht in strafgerichtliche Akten oder die Ausfolgung von Abschriften aus solchen zu bewilligen, soferne diese Personen glaubwürdig dartun, daß sie ihnen zur Ausführung eines Entschädigungsanspruches oder zum Zwecke des Begehrens um Wiederaufnahme oder aus anderen Gründen notwendig sei. Die insoweit in Betracht kommenden, den Verteidiger und den (unvertretenen) Beschuldigten betreffenden Sonderregelungen für das Verfahren vor Urteilsrechtskraft finden sich in § 45 Abs. 2 der StPO. Darnach hat der Untersuchungsrichter dem Verteidiger auf Verlangen zu gestatten, in den Amtsräumen des Gerichtes in die Strafakten, mit Ausnahme der Beratungsprotokolle, Einsicht zu nehmen und von ihnen Abschriften herzustellen; der Untersuchungsrichter kann dem Verteidiger statt dessen auch Ablichtungen ausfolgen. Bis zur Mitteilung der Anklageschrift kann der Untersuchungsrichter (unter besonderen Umständen) einzelne Aktenstücke von der Einsicht- und Abschriftnahme durch Verteidiger oder Beschuldigten ausnehmen.
In Ergänzung dazu finden sich im § 170 Abs. 6 der Geo Durchführungsvorschriften.
Demnach steht dem Beschuldigten im Erkenntnisverfahren nach Mitteilung der Anklageschrift grundsätzlich volle und unbeschränkte Akteneinsicht zu, von der nur Beratungsprotokolle ausgenommen sind, wozu auch sämtliche damit in unmittelbarem Zusammenhang stehenden, die Willensbildung des Senates betreffenden und daher dem Beratungsgeheimnis unterliegenden Anträge, Stellungnahmen und Äußerungen von Senatsmitgliedern und Aufzeichnungen des Berichterstatters (etwa der Entscheidungsentwurf) zählen. Nach Rechtskraft des Urteiles ist es dem richterlichen Ermessen anheimgestellt, ob und inwieweit einer Partei Akteneinsicht zu gewähren ist oder nicht, wobei dieses Ermessen nach den Umständen des Einzelfalles auszuüben ist (LSK 1979/301).
Die Beschlüsse des Oberlandesgerichtes Innsbruck vom 8. Februar 1989, AZ 7 Ns 1201/89, und vom 21.März 1989, AZ 7 Ns 1210/89, tragen dieser Rechtslage nicht Rechnung. Denn abgesehen davon, daß zwischen Akteneinsicht während des anhängigen Strafverfahrens (§ 45 Abs. 2 StPO) und Einsicht in strafgerichtliche Akten nach dessen rechtskräftiger Beendigung (§ 82 StPO) nicht unterschieden wird, findet die Rechtsansicht im Gesetz keine Deckung, wonach (schriftliche) Äußerungen der Oberstaatsanwaltschaft zu eingebrachten Rechtsmitteln "in Vorgriff auf die mündlichen Ausführungen im Gerichtstag zu den schriftlichen Aufzeichnungen des Berichterstatters gehören" und daher der Akteneinsicht durch die Parteien nicht unterliegen. Denn unter "Aufzeichnungen des Berichterstatters" (§§ 471 Abs. 2, 502 Abs. 6 Geo), die Gegenstand der Beratung bilden (Entscheidungsentwürfe, Stellungnahmen der Senatsmitglieder) und daher einen Bestandteil des der Einsichtnahme durch den Beschuldigten oder seinen Verteidiger entzogenen Beratungsprotokolls darstellen, sind nur Schriftstücke zu verstehen, die der Berichterstatter oder ein anderes Senatsmitglied hergestellt und zum Akt genommen hat, nicht aber - nach dem Gesetz (wenn auch ohne Verpflichtung) zulässige - schriftliche Äußerungen, Erklärungen oder Anträge eines Prozeßbeteiligten. Dies gilt naturgemäß ausschließlich für den unveränderten Text und nicht für Schriftstücke, die von Senatsmitgliedern mit Glossen, Zusätzen und Streichungen versehen wurden und die daher aus ihrem äußeren Erscheinungsbild Rückschlüsse auf die Willensbildung innerhalb des entscheidenden Kollegialorgans, also auf dem Beratungsgeheimnis unterliegende Vorgänge zulassen könnten (11 Ns 11/89). Da die erwähnten Beschlüsse (wie gezeigt) auf einer unrichtigen Rechtsansicht beruhen, sind sie ungeachtet des Umstandes, daß es sich dabei an sich um Ermessensentscheidungen handelt, zur Wahrung des Gesetzes einer Anfechtung mit Nichtigkeitsbeschwerde zugänglich (vgl. EvBl. 1980/116; LSK 1977/46 = RZ 1977/53 ua). Die aufgezeigten Gesetzesverletzungen wirken sich zum Nachteil des Beschuldigten aus, bedürfen aber neben ihrer Konstatierung keiner Korrektur durch den Obersten Gerichtshof, weil die vom Rechtsfreund des Alwin R***, Rechtsanwalt Dr. Wilfried Ludwig W***, gestellten und vom Oberlandesgericht Innsbruck rechtswidrig abgewiesenen Anträge jederzeit wiederholt werden können.
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