OGH 2Ob104/89

OGH2Ob104/8912.9.1989

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Kralik, Dr.Vogel, Dr.Melber und Dr.Kropfitsch als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei A*** U***, Landesstelle

Salzburg, Dr.-Franz-Rehrl-Platz 5, 5010 Salzburg, vertreten durch Dr.Ludwig Hoffmann, Rechtsanwalt in Innsbruck, wider die beklagte Partei WIENER S*** Versicherungs-AG, Ringturm, 1010 Wien, vertreten durch Dr.Albert Heiss, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen S 233.889,30 sA und Feststellung, infolge Rekurses der beklagten Partei gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes vom 6.April 1989, GZ 2 R 14/89-34, womit das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 21.Oktober 1988, GZ 6 Cg 235/84-29, aufgehoben wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Am 8.Juni 1979 ereignete sich auf dem Baustellenbereich der Inntal-Autobahn im Gemeindegebiet von Angath gegen 16,50 Uhr ein Arbeitsunfall. Gerhard Harald H*** fuhr mit dem Sattelkraftfahrzeug mit Aufleger, Kennzeichen B 5.700 und B 57.827, für welches bei der beklagten Partei zum Unfallszeitpunkt ein aufrechter Haftpflichtversicherungsvertrag bestand, im Baustellenbereich rückwärts. Er erfaßte dabei mit dem LKW den auf der Baustelle beschäftigten Arbeiter Johann L*** beim Überqueren der von Gerhard Harald H*** benützten Fahrspur, stieß ihn nieder und überrollte ihn mit den linken hinteren Zwillingsrädern des Sattelanhängers. Johann L*** starb auf Grund der erlittenen Verletzungen. Gerhard Harald H*** wurde im Strafverfahren des Landesgerichtes Eisenstadt zu 8 E Hv 81/81 freigesprochen.

Johann L*** war bei der klagenden Partei pflichtversichert. Die klagende Partei erbrachte an die Witwe Pauline L*** in der Zeit vom 8.Juni 1979 bis 31.März 1984 Leistungen an Witwenrente, die inklusive Sonderzahlungen S 217.731,40 betrugen.

Die klagende Partei begehrte von der beklagten Partei die Bezahlung von S 233.889,13 samt gestaffelten Zinsen und beantragte die Feststellung der Haftung für alle künftigen Pflichtleistungen, wobei ein Mitverschulden ihres Versicherungsnehmers Johann L*** von 1/3 zu berücksichtigen und die Haftung insoweit beschränkt sei, als die Leistungen im Schaden Deckung finden, den die Witwe ohne Berücksichtigung der Legalzession nach § 332 ASVG gegenüber der beklagten Partei geltend machen könnte; die Haftpflicht sei schließlich auf die gesetzliche Haftpflichtversicherungssumme beschränkt. Gerhard Harald H*** treffe ein Verschulden von mindestens 2/3 am Unfall, weil er beim Rückwärtsfahren eine überhöhte Geschwindigkeit eingehalten und sich keines Einweisers bedient habe. Darüber hinaus hätte er auch durch Abgabe von akustischen Schallzeichen auf das herannahende Fahrzeug aufmerksam machen müssen. Es wäre notwendig gewesen, den LKW mit einer automatischen Signalgebung beim Einlegen des Rückwärtsgangens auszustatten oder eine Beschränkung der Fahrgeschwindigkeit vorzunehmen. Auch wären größere Rückspiegel an die Fahrerkabine einzubauen oder allenfalls die Rückwärtsfahrstrecke an beiden Seiten abzusperren gewesen. Die beklagte Partei hafte auch nach dem EKHG, weil sie für den Fahrzeuglenker keinen Entlastungsbeweis erbringen könne. Die Leistungen der klagenden Partei seien im Rahmen des Deckungsfonds erfolgt. Auch in Zukunft würden Leistungen erbracht werden müssen.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Den Fahrzeuglenker treffe kein Verschulden am Unfall. Johann L*** habe im toten Winkel des LKWs die Fahrbahn überquert. Die Verpflichtung, sich eines Einweisers zu bedienen, habe im gegenständlichen Fall nicht bestanden. Auch wenn H*** mit einer Geschwindigkeit von nur 4 km/h zurückgefahren wäre, hätte sich der Unfall auf die gleiche Art und mit denselben Folgen ereignet. Eine Ausrüstung der Fahrzeuge mit einer automatischen Signalgebung sei nicht vorgeschrieben gewesen. Außerdem habe unter den gegebenen Umständen keine Verpflichtung bestanden, beim Rückwärtsfahren akustische Warnzeichen abzugeben. Der getötete Arbeiter Johann L*** habe den Unfall zumindest überwiegend verschuldet. Auch der Deckungsfonds werde bestritten.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es

traf zusammengefaßt dargestellt - nachstehende Feststellungen:

Johann L*** hatte am 5.Juni 1979 die Arbeit bei der ARGE Autobahn-Betondecke Inntal aufgenommen. Bauleiter der ARGE war Ing.Hermann B***. Subunternehmer für die Betonzulieferung war die Firma Adolf H***, Transport Gesellschaft mbH aus Riedlingsdorf. Die Zulieferfahrzeuge mußten auf der Baustelle jeweils längere Strecken bis zu 500 m nach rückwärts fahren. Zu diesem Zweck wurden weder von der ARGE noch von der Transportfirma Einweiser abgestellt. Einweiser befanden sich jeweils nur direkt bei der Betonabladestelle. Auf Großbaustellen, wo Fahrzeuge in großer Zahl häufig rückwärts fahren, ist die Beistellung eines Einweisers nicht möglich. Die Fahrspur, welche die Betonlieferfahrzeuge benützten, war durch Hütchen ausgezeichnet. Weitere Absperrungen waren nicht vorhanden, lediglich vor und nach der Baustelle war eine Absperrung mit rot-weiß-roten Abschrankungen vorgenommen worden. Längsabsperrungen sind bei Zulieferung von Beton nicht möglich, da ständig neuer Beton zugeliefert wird. Es waren alle Arbeiter der ARGE angewiesen worden, sich nicht im Zufahrtsbereich eines LKWs zu bewegen. An österreichischen LKW waren zum Unfallszeitpunkt keine akustischen Signale eingebaut, die automatisch beim Rückwärtsfahren ertönten. Wohl haben schwedische LKW eine derartige Hupe eingebaut. Dieses Signal übertönt den normalen Baustellenlärm. Wenn viele Fahrzeuge rückwärts fahren - im gegenständlichen Bereich waren bis zu 20 LKW im Einsatz - so würde durch dieses ständige Hupen ein derartiger Lärm entstehen, daß der Einsatz auch nicht mehr sinnvoll wäre. Vorgeschrieben waren derartige Signalanlagen nicht. Für das Durchfahren der Betonlieferfahrzeuge war eine Fahrbahnbreite von etwa 6,5 m vorhanden. In den restlichen 2 m arbeiteten die Arbeiter, die die Verschalung anbrachten. Sie hatten das Werkzeug vorwiegend in ihrem Bereich. Wenn jedoch Werkzeuge gewechselt wurden, mußte die Fahrbahn überquert werden. Auch Johann L*** war deshalb über die LKW-Zufahrtsspur gegangen. Die LKWLenker, darunter auch Gerhard H***, wurden wiederholt angewiesen, bei den Betonzulieferungen langsam und vorsichtig zu fahren. Es erfolgten aber immer wieder Beanstandungen wegen zu schnellen Fahrens. Gerhard H*** war als rasanter Fahrer bekannt. Er ist immer wieder aufgefordert worden, langsamer zu fahren. Diese Ermahnungen bezogen sich ganz allgemein auf das Fahren. Es wurde nicht unterschieden zwischen Vorwärts- und Rückwärtsfahren. Das von Gerhard H*** gelenkte Fahrzeug war am 8.März 1979 mit dem Kennzeichen B 5.700 zum Verkehr zugelassen worden. Bei dem LKW handelte es sich um die Type Steyr 1290/320 K 35. Am 8.März 1979 erfolgte die Anmeldung auf die Firma H*** Waren- und Transport Gesellschaft mbH in Riedlingsdorf. Der LKW besaß einen Allradantrieb. Unmittelbar vor dem Unfall hatte der Motor eine Umdrehungszahl zwischen 2.650 und 2.730. Bei einer Drehzahl von 2,730 U/Min. in Verbindung mit der am LKW montierten Bereifung war dabei eine Geschwindigkeit von 6,05 km/h zu erreichen. Unmittelbar vor dem Unfall fuhr Gerhard H*** daher mit höchstens 6,05 km/h. Johann L*** achtete auf den im Rückwärtsgang herankommenden Sattelaufleger nicht und überquerte vor dem Fahrzeug die Fahrbahn. Zurufe von Arbeitskollegen hörte er offenbar nicht. Er wurde vom Ladebrückenende des Sattelkraftfahrzeuges erfaßt, kam zu Sturz und wurde von den linken hinteren Zwillingsrädern des Sattelanhängers bis zum Bauch überrollt. Gerhard H*** hatte beim Rückwärtsfahren abwechselnd in den rechten und linken Außenspiegel seines Fahrzeuges gesehen. Erst durch Schreien und Gestikulieren eines Arbeiters wurde Gerhard H*** aufmerksam und bremste sein Fahrzeug, das ein Gesamtgewicht von 35.800 kg hatte, ab. Es zeichnete sich eine 2,7 m lange Bremsspur ab.

Als sich der Unfall ereignete, war Gerhard H*** etwa 30 bis 40 m zurückgefahren gewesen. Insgesamt hätte er im Retourgang ca. 150 m zurücklegen müssen. Das von Gerhard H*** gelenkte Fahrzeug war 2,5 m breit. Es war mit übergroßen beidseitigen Rückblickspiegeln ausgestattet. In der Mitte der Fahrzeugbreite ist der tote Sichtwinkel bezogen auf die Länge hinter das Fahrzeug zumindest mit 15 m anzunehmen. Ein Mensch in diesem Bereich, d.h. näher als 15 m am Heck des zurückschiebenden Sattelauflegers, und im Bereich der hinteren Bordwandbreite ist dann für den Fahrer zuerst im Mittelbereich des Fahrzeuges und sehr rasch bis an die Ränder der Breite des Gesamtfahrzeuges nicht mehr zu sehen, d.h. außerhalb seines Sichtbereiches. Bei einer Geschwindigkeit von rund 6 km/h werden die vorgenannten 15 m in einem Zeitraum von 8,88 also rund 9 Sekunden zurückgelegt. In dieser Zeit befand sich Johann L*** im toten Blickwinkel und war für Gerhard H*** nicht sichtbar. Johann L*** wäre lediglich für H*** einen Moment lang im rechten Rückspiegel sichtbar gewesen, als L*** entlang der rechten Flanke des Fahrzeuges in den Bereich des zurückschiebenden Fahrzeuges hineinging. Offenbar hatte H*** zu diesem Zeitpunkt gerade nicht in den rechten Rückspiegel geschaut. Ein Lenker eines derartigen Sattelzuges muß beim Zurückschieben selbstverständlich pausenlos mit seinen Blickrichtungen zwischen beiden Außenspiegeln pendeln. Rechtlich war das Erstgericht der Ansicht, daß Gerhard H*** kein Verschulden am Unfall anzulasten sei. Auch eine Haftung nach dem EKHG scheide aus, weil der beklagten Partei der Entlastungsbeweis nach § 9 Abs 2 EKHG gelungen sei. Das Berufungsgericht gab der Berufung der klagenden Partei Folge, hob das angefochtene Urteil auf und verwies die Rechtssache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurück. Es sprach aus, daß der Wert des Streitgegenstandes S 300.000,-- übersteigt, und fügte seiner Entscheidung einen Rechtskraftvorbehalt an. Es treffe zu, daß dem Fahrzeuglenker kein Verschulden am Unfall anzulasten sei; die Haftung nach dem EKHG könne jedoch nicht verneint werden. Es komme hiebei darauf an, ob auch für einen nicht bloß durchschnittlichen, sondern besonders sorgfältigen Fahrer bei der gegebenen Sachlage der Unfall unvermeidbar war. An die Sorgfaltspflicht des Lenkers seien nicht nur billige, sondern höchste Anforderungen zu stellen. Die erhöhte Sorgfaltspflicht, die § 9 EKHG anwendbar mache, setze nicht erst in der Gefahrenlage ein, sondern verlange, daß von vorneherein vermieden wird, in eine Lage zu kommen, aus der eine Gefahr entstehen kann. Dazu komme noch, daß bei der Erbringung des Entlastungsbeweises nach § 9 EKHG nicht aufklärbare Ungewißheiten über wesentliche Einzelheiten des Unfallsgeschehens zu Lasten des Halters gehen. Gerhard H*** habe nicht jenes voraufgezeigte Maß an Sorgfalt angewendet. Er wäre bei Anwendung der erhöhten Sorgfaltspflicht verhalten gewesen, dafür Sorge zu tragen, daß er den Fahrbahnrand ständig beobachten und somit das Hereintreten eines Arbeiters in den toten Winkel seines Fahrzeuges jederzeit und rechtzeitig wahrnehmen hätte können, oder auf die Anbringung von akustischen Vorrichtungen zu dringen, daß das Herannahen seines Fahrzeuges auf alle Fälle, auch von unbedachtsamen Arbeitern wahrgenommen wird. Nur bei Ausschöpfung aller Möglichkeiten einer ständigen Beobachtung der Fahrbahn beim Rückwärtsfahren und bei Gewährleistung, daß trotz des Baustellenlärms das Herankommen seines Fahrzeuges wahrgenommen wird, hätte Gerhard H*** jenen besonderen Anforderungen an die Sorgfaltspflicht entsprochen, die das Entstehen einer Gefahrenlage von vornherein weitgehend ausgeschlossen hätte. Gegen die Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz richtet sich der Rekurs der beklagten Partei, in welchem sie unrichtige rechtliche Beurteilung geltend macht und beantragt, den angefochtenen Beschluß aufzuheben und die Berufung der klagenden Partei abzuweisen, bzw. dem Berufungsgericht eine neue Entscheidung aufzutragen.

Die klagende Partei beantragt in der Revisionsbeantwortung, der Revision - allenfalls unter Miteinbeziehung einer Verschuldenshaftung - nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist nicht berechtigt.

Die beklagte Partei stellt sich auf den Standpunkt, daß ihr Versicherungsnehmer jede Sorgfalt angewendet habe, die ihm vernünftigerweise zugemutet werden konnte. Demgegenüber hat jedoch das Berufungsgericht mit Recht darauf verwiesen, daß unter Sorgfalt des § 9 Abs 2 EKHG die äußerste, nach den Umständen des Falles mögliche Sorgfalt zu verstehen ist (ZVR 1984/332; ZVR 1986/19 uza). Der Oberste Gerichtshof hat bereits einmal darauf hingewiesen, daß ein Kraftfahrer mit einem unvorsichtigen Verhalten von Arbeitern auf einer Baustelle auf alle Fälle rechnen muß (2 Ob 24/77); es wird daher eine über die gewöhnliche Sorgfalt hinausgehende besondere Aufmerksamkeit und Umsicht verlangt (5 Ob 582/88), die noch über die Sorgfalt hinausreicht, die beim Rückwärtsfahren in Betrieben und auf Baustellen ohnedies zu fordern ist (ZVR 1971/29; ZVR 1979/119 ua). Der Versicherungsnehmer der beklagten Partei ist jedoch mit dem Sattelaufleger die Strecke von 30 bis 40 m im Rückwärtsgang so zurückgefahren, daß er den trotz des toten Winkels für ihn jedenfalls einen Moment lang im rechten Rückspiegel wahrnehmbaren Baustellenarbeiter übersah. Wegen der Bedrängtheit der Situation des Fahrzeuglenkers, der gewissermaßen gleichzeitig beide Rückspiegel im Auge behalten mußte, kann ihm zwar einerseits ein meßbares Verschulden am Unfall nicht angelastet werden, es kann aber andererseits auch nicht mehr davon die Rede sein, daß er jede nach den Umständen des Falles erforderliche Sorgfalt angewendet hat, um den Unfall zu verhindern. Dies hat das Berufungsgericht unter Anwendung der ständig judizierten Grundsätze richtig erkannt. Es hat aber auch eine den Umständen entsprechende Schadensteilung im Verhältnis 1 : 1 vorgenommen, gegen deren Berechtigung die beklagte Partei in ihrem Rekurs nichts Stichhältiges vorzubringen vermag. Dem Rekurs war somit der Erfolg zu versagen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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