Spruch:
Der Revision der klagenden Partei wird nicht Folge gegeben.
Der Revision der beklagten Partei wird teilweise Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, daß es zu lauten hat:
"Das auf Zahlung von S 309.570,23 sA gerichtete Klagebegehren besteht dem Grunde nach mit 2/3 zu Recht und mit 1/3 nicht zu Recht. Die Kostenentscheidung bleibt dem Endurteil vorbehalten."
Text
Entscheidungsgründe:
Am 14.Dezember 1985 stürzte die Klägerin im Ortskern von Reutte auf dem rechten Gehsteig von der Hauptstraße Richtung Untermarkt und verletzte sich schwer. Die beklagte Partei ist für den ordnungsgemäßen Zustand des Gehsteiges als Halter verantwortlich. Die Klägerin begehrt ein Schmerzengeld von S 200.000, den Ersatz von Heilbehandlungskosten von S 74.246,01, den Ersatz unfallskausaler Nebenkosten von S 24.958,22 und den Ersatz der Kosten einer Haushaltshilfe von S 10.366, zusammen S 309.570,23 sA. Der Höhe nach steht jeder der Teilansprüche mit einem Schilling außer Streit (AS 158). Mit ihrem Leistungsbegehren verband die Klägerin ein Feststellungsbegehren.
Das Erstgericht erkannte mit Teilurteil (richtig Zwischen- und Teilurteil) zu Recht, daß das Klagebegehren dem Grunde nach mit 75 % zu Recht besteht. Das Mehrbegehren, gerichtet auf Zahlung von S 77.392,55 sA wies es ab. Es sprach aus, daß die beklagte Partei der Klägerin zu 75 % für alle Schäden aus dem Unfall vom 14. Dezember 1985 haftet und wies das Feststellungsmehrbegehren ab. Nach den Feststellungen des Erstgerichtes ging die im Unfallszeitpunkt knapp 50jährige Klägerin in Begleitung ihrer Mutter gegen 11,30 Uhr von der Hauptkreuzung in Reutte auf dem rechten Gehsteig - in Gehrichtung gesehen - in Richtung Allgäuer Straße. Beim Haus Untermarkt 12 befand sich in Gehsteigmitte eine etwa kreisförmige, 50 cm breite und 3 bis 4 cm tiefe Schadstelle im Asphalt. Die Klägerin bemerkte diese nicht, trat auf den Rand derselben und kam zu Sturz. Der Gehsteig ist im Unfallsbereich 3 m breit und teilweise längs der Fahrbahn ca. 1 m als Kurzparkzone markiert. Der Gehsteig ist nicht völlig plan, sondern teilweise mit Kopfsteinpflaster versehen und auf Grund diverser Ausbesserungsarbeiten teilweise uneben. Der Gehsteig war am Unfallstag relativ stark frequentiert. Bei ihrer Annäherung an die Unfallstelle hatte die Klägerin allerdings ungehinderte Sicht auf die Schadstelle. Der Gehsteig war trocken und schneefrei. Die Klägerin, die am Unfallstag Moonboots mit profilierter Gummisohle trug, erlitt durch ihren Sturz einen Trümmerbruch des linken Oberarms.
Der Vorarbeiter des Gemeindebauhofes der beklagten Partei, Reinhold W***, erteilt den Arbeitern des Gemeindebauhofes jeweils konkrete Anweisungen zur Durchführung von Reparaturarbeiten an Straßen, Wegen und Gehsteigen im Gemeindegebiet. Solche Anweisungen werden teilweise auf einzelne Stellen bezogen, teilweise gelten sie für ganze Straßenzüge. Nur fallweise wird die Ausführung der Arbeiten kontrolliert. Im Herbst 1985 wurden die letzten Instandsetzungsarbeiten am 1. und 2. Oktober durchgeführt. Zu diesem Zeitpunkt war im Bereich der Unfallstelle die Schadstelle bereits vorhanden. Außer dieser Schadstelle befanden sich auf dem Gehsteig weitere Asphaltaufbrüche bis zu einem halben Meter Durchmesser. Die Beschädigungen bestanden bereits seit Sommer 1985.
Nach der Ansicht des Erstgerichtes hätten die Beklagte bzw. deren Leute den Mangel des Gehsteiges grob fahrlässig verschuldet. Die Klägerin habe aber auch selbst eine gewisse Sorglosigkeit zu vertreten, sodaß eine Schadensteilung von 3 : 1 zu Lasten der beklagten Partei gerechtfertigt sei.
Das Berufungsgericht bestätigte das Zwischenurteil und paßte lediglich den Spruch dem Inhalt eines solchen Urteils an. Die Entscheidung über das Feststellungsbegehren hob das Berufungsgericht ohne Rechtskraftvorbehalt auf und trug dem Erstgericht nach Verfahrensergänzung eine neue Entscheidung auf.
Das Berufungsgericht führte eine Beweisergänzung durch und stellte zusätzlich fest, daß der Zustand des Gehsteiges im weiten Bereich der Unfallstelle außerordentlich mangelhaft war. Der Asphaltbelag war in größeren Flächen ausgebrochen und das darunter befindliche Kopfsteinpflaster freigelegt. Es zeigten sich ausgeprägte Schadstellen, die im Vergleich zur unfallsauslösenden Schadstelle wesentlich größer waren. Die Asphaltdecke wies zahlreiche kreuz- und querverlaufende Risse auf, der Gehsteig selbst verlief schräg abfallend zur Fahrbahn hin.
Im übrigen übernahm das Berufungsgericht die Feststellungen des Erstgerichtes und teilte auch dessen Rechtsansicht.
Rechtliche Beurteilung
Die gegen das Urteil des Berufungsgerichtes erhobene Revision der Klägerin ist nicht, die Revision der beklagten Partei ist nur zum Teil berechtigt.
1.) Zur Revision der Klägerin:
Die Klägerin wendet sich gegen den Vorwurf der eigenen Sorglosigkeit. Ihrem Standpunkt kann jedoch nicht gefolgt werden. Der Oberste Gerichtshof hat bereits mehrfach ausgesprochen, daß von jedem Fußgänger verlangt werden muß, beim Gehen auch "vor die Füße zu schauen" (ZVR 1987/82; 7 Ob 729/88). Fest steht, daß die Klägerin ungehinderte Sicht auf die Schadstelle hatte, diese jedoch nicht bemerkte. Aus dem festgestellten Ausmaß der Vertiefung und den vorliegenden Lichtbildern ergibt sich, daß die Schadstelle auch mühelos erkennbar und ihr leicht auszuweichen war. Es kann daher keine Rede davon sein, daß die Klägerin mit der Aufmerksamkeit gegangen ist, die von einem Fußgänger - auch auf einem im Ortskern gelegenen Gehsteig - erwartet werden kann.
Demgemäß ist der Revision der Klägerin ein Erfolg zu versagen.
2.) Zur Revision der beklagten Partei:
Der behauptete Verfahrensmangel liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO).
Die Vorinstanzen sind zutreffend davon ausgegangen, daß unter grober Fahrlässigkeit im Sinne des § 1319 a ABGB eine auffallende Sorglosigkeit zu verstehen ist, bei der die gebotene Sorgfalt nach den Umständen des Falles in ungewÄhnlicher Weise verletzt wird und der Eintritt des Schadens nicht nur als möglich, sondern geradezu als wahrscheinlich vorauszusehen ist (ZVR 1988/127; ZVR 1986/11; ZVR 1984/176). Beizupflichten ist den Vorinstanzen auch darin, daß die beklagte Partei hier nach den Umständen des Falles grobe Fahrlässigkeit zu vertreten hat. Nach den Feststellungen ist der Aufbruch nicht erst in der winterlichen Jahreszeit des Jahres 1985 entstanden, sondern bestand zumindest schon seit dem Sommer 1985. Der Gehsteig liegt im Ortskern, wo sich zahlreiche Geschäfte mit Schaufenstern befinden, und wird von Fußgängern stark frequentiert. Daß sich darunter auch zahlreiche ältere Leute befinden, kann nicht zweifelhaft sein. Es war daher als geradezu wahrscheinlich anzunehmen, daß bei Nichtbehebung des Mangels durch längere Zeit ein Fußgänger, insbesondere ein älterer Mensch, einmal zu Sturz kommt. Die Nichtbehebung der Schadstelle durch mehrere Monate ist auch unter dem Gesichtspunkt nicht zu tolerieren, daß die Vertiefung nur 3 bis 4 cm betrug, weil eine solche Vertiefung jedenfalls für ältere Menschen eine erhebliche Gefahrenquelle darstellt.
Beizupflichten ist allerdings der Revision insoweit, als sie sich gegen die Wertung der Sorglosigkeit der Klägerin durch die Vorinstanzen wendet. Zu Lasten der Klägerin fällt nämlich hiebei ins Gewicht, daß sie freie Sicht auf die Schadstelle hatte und diese nach ihrer Beschaffenheit bei Anwendung der auch von einem Fußgänger zu fordernden Aufmerksamkeit - wie bereits oben zur Revision der Klägerin dargelegt wurde - leicht erkennbar war und ihr auch leicht auszuweichen gewesen wäre. Eine Schadensteilung von 1 : 1 wie in den von der Revision der beklagten Partei zitierten Entscheidungen ist hier jedoch nicht angebracht. Ein Vergleich mit Vorentscheidungen ist problematisch, weil immer die Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen sind (7 Ob 729/88). Im vorliegenden Fall ist zugunsten der Klägerin darauf Bedacht zu nehmen, daß Geschäfte und Auslagen und ein starker Fußgängerverkehr Umstände sind, die die Sorgfaltsanspannung erfahrungsgemäß beeinträchtigen. Unter Abwägung aller Umstände ist daher eine Schadensteilung von 2 : 1 zu Lasten der beklagten Partei gerechtfertigt.
Demgemäß ist der Revision der beklagten Partei teilweise Folge zu geben.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 393 Abs 4 und 52 Abs 2 ZPO.
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