OGH 11Os72/89 (11Os73/89)

OGH11Os72/89 (11Os73/89)28.6.1989

Der Oberste Gerichtshof hat am 28.Juni 1989 durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Piska als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kießwetter, Dr. Walenta, Dr. Felzmann und Dr. Rzeszut als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Sanda als Schriftführerin in der Strafsache gegen Kurt T*** wegen des Vergehens der fahrlässigen Gemeingefährdung nach dem § 177 Abs. 1 und 2 StGB über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen die Urteile des Kreisgerichtes Krems a.d. Donau vom 21.April 1987, GZ 9 c E Vr 53/87-53, und des Oberlandesgerichtes Wien vom 10.Februar 1988, AZ 22 Bs 602/87, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Bassler, und des Verteidigers Dr. Schöner, jedoch in Abwesenheit des Verurteilten zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Das Urteil des Kreisgerichtes Krems a.d. Donau vom 21.April 1987, GZ 9 c E Vr 53/87-53, womit der Angeklagte Kurt T*** des Vergehens der fahrlässigen Gemeingefährdung nach dem § 177 Abs. 1 und 2 StGB schuldig erkannt wurde, und das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien vom 10.Februar 1988, AZ 22 Bs 602/87 (= 9 c E Vr 53/87-72), mit dem der Berufung des Angeklagten wegen Nichtigkeit und Schuld nicht Folge gegeben wurde, verletzen das Gesetz in den Bestimmungen des § 177 Abs. 1 und 2 StGB und der §§ 3, 19 Abs. 7 der StVO.

Die beiden Urteile werden aufgehoben und es wird gemäß dem § 288 Abs. 2 Z 3 StPO in der Sache selbst erkannt:

Kurt T*** wird von der Anklage, er habe am 13.November 1986 im Bereich der Kreuzung der Bundesstraße 4 mit der Landesstraße 1243 und der Gemeindestraße aus Richtung Amelsdorf als Lenker des Autobusses der Firma Karl K*** der Marke MAN SR 320 FR mit dem behördlichen Kennzeichen N 38.331 dadurch, daß er bei extremer Sichtbehinderung infolge starken Nebels mit Sichtweite von höchstens 20 bis 30 m unter Mißachtung des in seiner Fahrtrichtung vor dem Kreuzungsbereich befindlichen Zeichens "Vorrang geben" (§ 52 lit. c Z. 23 StVO) und des auf der Bundesstraße 4 befindlichen bevorrangten Querverkehrs in den Kreuzungsbereich einfuhr, wodurch der auf der Bundesstraße 4 aus Richtung Maissau kommende und bevorrangte Lenker des Autobusses der Firma B***-B*** der Marke Setra S 215 RL mit dem behördlichen Kennzeichen W 770.026, der gesondert verfolgte Anton E***, infolge der in seiner Fahrtrichtung durch den Autobus des Beschuldigten blockierten Fahrbahnhälfte sein Fahrzeug nach links auf die linke Fahrbahnhälfte verriß, wo es zum Zusammenstoß mit dem vom gesondert verfolgten Erich J*** gelenkten, aus Richtung Wien kommenden Autobus der Fa. Oskar P*** der Marke Mercedes Benz 0302- 12R mit dem behördlichen Kennzeichen N 20.450, welcher mit 45 Personen besetzt war, kam, fahrlässig eine Gefahr für Leib und Leben (§ 89 StGB) einer größeren Zahl von Menschen und für fremdes Eigentum in großem Ausmaß herbeigeführt, wobei die Tat die im § 170 Abs. 2 StGB genannten Folgen hatte, nämlich den Tod der Theresia S***, der Theresia H***, des Johann K*** und der Angela J***, sowie schwere Körperverletzungen einer größeren Zahl von Menschen, und zwar der Anna B***, des Rupert K***, des Walter B***, der Elenore R***, der Hermine W***, des Franz J***, der Maria K***, der Anna S***, der Roswitha J***, der Paula W***, der Maria S***, der Paula B***, der Josefa H***, der Aloisia K***, der Katharina M***, des Josef P*** und der Pauline P***, gemäß dem § 259 Z 3 StPO freigesprochen.

Text

Gründe:

Mit Urteil des Kreisgerichtes Krems a.d. Donau vom 21.April 1987, GZ 9 c E Vr 53/87-53, wurde der am 31.Mai 1943

geborene Autobuschauffeur Kurt T*** des Vergehens der fahrlässigen Gemeingefährdung nach dem § 177 Abs. 1 und 2 StGB schuldig erkannt. Seiner dagegen erhobenen Berufung wegen Nichtigkeit und Schuld gab das Oberlandesgericht Wien mit Urteil vom 10.Februar 1988, AZ 22 Bs 602/87 (= GZ 9 c E Vr 53/87-72), nicht Folge.

Nach den wesentlichen, vom Berufungsgericht übernommenen Feststellungen im Ersturteil näherte sich der Angeklagte Kurt T*** am 13.November 1986 gegen 7 Uhr 35 zur Zeit des Überganges von der Morgendämmerung zum Tageslicht mit dem von ihm gelenkten Autobus (Kennzeichen N 38.331), der mit ca. 30 Schulkindern besetzt war, aus Richtung Amelsdorf kommend auf der Landesstraße 1243 der Kreuzung mit der bevorrangten B 4 (§ 52 lit. c, Z 23 StVO: "Vorrang geben"). Wegen des starken Nebels, der auf unbeleuchtete Fahrzeuge nur eine Sicht von maximal 30 bis 35 m und auf beleuchtete Fahrzeuge eine solche im Bereich von 65 bis 75 m gestattete, hielt der Angeklagte, der die, wie er wußte, stark frequentierte B 4 in einem Winkel von etwa 45 überqueren wollte, knapp außerhalb des nördlichen Fahrbahnrandes dieser Bundesstraße im Bereich der unterbrochenen Haltelinie an, kurbelte das linke Seitenfenster neben dem Fahrersitz herunter und versuchte solcherart zu hören, ob sich auf der Bundesstraße von links aus Richtung Maissau Fahrzeuge der Kreuzung näherten.

Da er keine Annäherungsgeräusche wahrnahm, fuhr er mit einer Beschleunigung von 0,5/sec2 in die Kreuzung ein. Nach einer Wegstrecke von 3,2 m auf der er eine Geschwindigkeit von etwa 5,9 km/h erreichte, bemerkte er die Lichter des aus Richtung Maissau kommenden, von Anton E*** mit einer Geschwindigkeit von rund 75 km/h auf der Bundesstraße in Richtung Kreuzung gelenkten Autobusses und brachte hierauf sein Fahrzeug innerhalb von 0,5 Sekunden auf einer Wegstrecke von 0,4 m zum Stillstand.

Anton E***, der den vom Angeklagten gelenkten Autobus erst aus einer Entfernung von 30 bis 35 m sah, verriß sein Fahrzeug sofort nach links, streifte jedoch an den linken Außenspiegel des mit seiner Front bereits 3,6 m in die Bundesstraße hineinragenden (und seit 1,7 bis 2,3 Sekunden stehenden) Autobusses des Angeklagten und stieß frontal mit dem auf der Bundesstraße entgegenkommenden, von Erich J*** gelenkten und mit 45 Personen besetzten Autobus der Firma P*** zusammen; hiedurch erlitten in jenem Autobus 4 Personen tödliche und 17 Personen schwere Verletzungen (AS 444, 445).

Beide Instanzen beurteilten diesen von T*** verwirklichten Sachverhalt als Vergehen der fahrlässigen Gemeingefährdung nach dem § 177 Abs. 1 und 2 StGB und erblickten die objektive Sorgfaltswidrigkeit in einem Verstoß gegen § 19 Abs. 4 und Abs. 7 StVO. Während das Erstgericht meinte, der Angeklagte hätte bei den herrschenden Sichtverhältnissen die Fahrt überhaupt nicht fortsetzen dürfen, sondern sein Fahrzeug vor der Kreuzung abstellen müssen (AS 388 bis 390), spricht das Oberlandesgericht aus, der Verstoß des Angeklagten gegen die objektiv gebotene Sorgfalt liege in dem Umstand, daß er bei den gegebenen Sichtverhältnissen "ungeachtet der für ihn bestehenden Verpflichtung, sich in Erfüllung seiner Wartepflicht nach dem § 19 Abs. 7 StVO nötigenfalls schritt-, ja zentimeterweise in die Kreuzung vorzutasten" versucht hatte, die bevorrangte Straße in einem Zug mit "mäßig durchschnittlicher mittlerer Beschleunigung" zu übersetzen (AS 448). Im übrigen hätte, so meint das Oberlandesgericht, nach Lage des Falles, insbesondere unter Berücksichtigung der Örtlichkeiten, die - dem Angeklagten zumutbare (AS 450) und das Risiko eines Unfalles vermindernde (sinngemäß AS 449) - Möglichkeit bestanden, nach rechts in die bevorrangte B 4 einzubiegen und sie in Richtung Horn so lange zu befahren, bis ein Umkehren unter Beachtung der Bestimmungen des § 14 StVO und einer aufgrund geänderter Geländeformation und anderer Windverhältnisse bewirkten geringeren Nebeldichte "gefahrlos möglich gewesen wäre". Sodann hätte der Angeklagte auf der B 4 zur Kreuzung zurückkehren und dort seine Fahrt in Richtung Sachsendorf durch abermaliges Abbiegen nach rechts fortsetzen können. Der Schuldspruch steht mit dem Gesetz nicht in Einklang, weil beide Instanzen den die Straßenverkehrsordnung beherrschenden Vertrauensgrundsatz (§ 3 StVO) und dessen Konsequenzen außer acht lassen und allein auf den Verstoß gegen § 19 Abs. 4 und Abs. 7 StVO abstellen, ohne diesen eine objektive Sorgfaltswidrigkeit bloß indizierenden "Regelverstoß" im konkreten Fall unter dem Gesichtspunkt der Tatbestandmäßigkeit (§§ 80, 177 Abs. 1 und 2 StGB: Außerachtlassung der gebotenen Sorgfalt) zu prüfen. Die Ansicht des Erstgerichtes, wonach der Angeklagte bei den infolge Nebels herrschenden Sichtverhältnissen von maximal 30 bis 35 m auf unbeleuchtete Fahrzeuge und von 65 bis 75 m auf beleuchtete Fahrzeuge seine Fahrt überhaupt nicht hätte fortsetzen dürfen, sondern sein Fahrzeug vor der Kreuzung hätte abstellen und mit dem Überqueren der B 4 so lange hätte zuwarten müssen, bis - infolge Auflösung des Nebels - ein gefahrloses Überqueren möglich gewesen wäre, wird vom Oberlandesgericht Wien zu Recht nicht übernommen. Denn gemäß dem § 3 der StVO darf jeder Straßenbenützer darauf vertrauen, daß andere Personen - ein in dieser Gesetzesstelle angeführter Ausnahmefall liegt hier nicht vor - die für die Benützung der Straße maßgebenden Rechtsvorschriften befolgen. Demgemäß durfte der Angeklagte T*** ungeachtet des Umstandes, daß er dem Querverkehr den Vorrang einzuräumen hatte, nach seinem Anhalten vor der Kreuzung und besonders sorgfältiger, visueller und akustischer Prüfung der für ihn wahrnehmbaren Verkehrssituation auf der Vorrangstraße in diese Straße einfahren, zumal für ihn kein vernünftiger Grund zur Befürchtung bestand, ein von ihm noch nicht wahrgenommener Verkehrsteilnehmer auf der Vorrangstraße würde die fundamentale Vorschrift des § 20 Abs. 1 StVO mißachten. Denn bei einer Sicht des Angeklagten T*** von 65 bis 75 m auf beleuchtete, die Vorrangstraße benützende Verkehrsteilnehmer und einer für den Benützer der Vorrangstraße maßgebenden Sicht von 30 bis 35 m auf unbeleuchtete Fahrzeuge, die nur eine entsprechend geringe Fahrgeschwindigkeit zuließ (§ 20 Abs. 1 StVO), konnte der Angeklagte bei seiner Einfahrt in die Kreuzung im Vertrauen auf das vorschriftsmäßige Verhalten aller anderen Fahrzeuglenker - auch unter Berücksichtigung des Umstandes, daß der Vorrang durch vorschriftswidriges Verhalten des Bevorrangten nicht verloren geht - gar nicht erkennen, daß er den Vorrang des Anton E***, der sich ungeachtet der beschränkten Sichtverhältnisse mit dem von ihm gelenkten Autobus mit einer relativ weit überhöhten Fahrgeschwindigkeit von ca. 75 km/h (vgl. Gutachten S 373 iVm S 453) näherte, beeinträchtigen werde. Die Wartepflicht nach dem § 19 Abs. 7 StVO setzt aber die Wahrnehmbarkeit des Fahrzeuges eines (sodann) Vorfahrtsberechtigten durch den (demzufolge) Wartepflichtigen voraus (ZVR 1981, 247 uva). Der Angeklagte T*** hat darum durch seine Einfahrt in die Kreuzung seine Wartepflicht nicht verletzt, zumal er (ohne einen ihm unterlaufenen Aufmerksamkeitsfehler) die Lichter des von Anton E*** gelenkten Autobusses (aus einer Entfernung von 65 bis 75 m) erst 3,9 sec später und nach Zurücklegung eines Weges von 3,2 m wahrnehmen konnte (und darauf sofort reagierte).

Nach Lage des Falles verfehlt ist der Schuldvorwurf des Oberlandesgerichtes, der Angeklagte hätte sich "in Befolgung seiner Wartepflicht nach dem § 19 Abs. 7 StVO nötigenfalls schritt- ja zentimeterweise in die Kreuzung vortasten" müssen. Denn ein schrittweises Einfahren des Wartepflichtigen in eine Kreuzung ist jedenfalls nur dort sinnvoll, wo infolge einer bloß örtlichen Sichtbehinderung (etwa durch Geländeform, Bauwerke, oder auf der bevorrangten Verkehrsfläche abgestellte Fahrzeuge) durch ein solches Fahrverhalten das Sehen (durch Veränderung des Sichtwinkels) und das Gesehenwerden (durch Vergrößerung des Auffälligkeitswertes) gefahrenmindernd verbessert werden kann.

Der Versuch, die Kreuzung in einem Zug, "mit mäßig durchschnittlicher mittlerer Beschleunigung" zu überqueren, ist sohin dem Angeklagten T*** nicht als Fahrfehler anzulasten, zumal er darin weder einen Verstoß gegen die Vorrangregel des § 19 Abs. 7 StVO - wie bereits dargelegt - noch die Herbeiführung einer konkreten Individualgefährdung oder einer Gemeingefahr erkennen konnte.

Rechtliche Beurteilung

Nach dem Gesagten trifft ein Verschulden an dem gegenständlichen Verkehrsunfall (im Hinblick auf die gewählte, den gegebenen Sichtverhältnissen nicht angepaßte, weit überhöhte Fahrgeschwindigkeit den gesondert verfolgten (und diesbezüglich auch rechtskräftig verurteilten - AZ 9 a E Vr 527/87 des Kreisgerichtes Krems a.d. Donau) Anton E***, ohne daß der Angeklagte Kurt T*** aus der Tatsache, daß er dem von E*** gelenkten Fahrzeug den Vorrang nahm, eine subjektiv vorwerfbare Sorgfaltswidrigkeit zu verantworten hat.

Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, daß der vom Oberlandesgericht Wien zur Begründung des Schuldspruchs des Angeklagten T*** zusätzlich herangezogenen Annahme, der Angeklagte habe die (ihm zumutbare) Möglichkeit rechtmäßigen Alternativverhaltens außer acht gelassen, seine Fahrtroute so zu ändern (indem er an der Kreuzung nach rechts abgebogen, an geeigneter Stelle umgekehrt und zur Kreuzung zurückgekehrt wäre, wo er sodann durch abermaliges Abbiegen nach rechts die Fahrt nach Sachsendorf fortsetzen hätte können), daß den bevorrangten Verkehrsteilnehmern die Möglichkeit eröffnet worden wäre, "notfalls durch ein Ausweichen auf die Sperrfläche ein Auffahren zu verhindern" (AS 449), eine Überschreitung des zu fordernden Maßes objektiv gebotener Sorgfalt zugrunde liegt.

Mithin war in Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gemäß dem § 292 StPO wie aus dem Spruch ersichtlich zu erkennen.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte