Spruch:
Die Strafverfügung des Strafbezirksgerichtes Wien vom 25. Oktober 1988, GZ 7 U 2.527/88-3, mit der Ernst V*** des Vergehens nach den §§ 15, 141 StGB schuldig erkannt wurde, verletzt das Gesetz in der Bestimmung des § 42 StGB.
Gemäß dem § 292 StPO wird diese Strafverfügung aufgehoben und das Strafverfahren gegen Ernst V*** wegen des Vergehens der versuchten Entwendung nach den §§ 15, 141 StGB gemäß dem § 451 Abs. 2 StPO eingestellt.
Text
Gründe:
Am 25.Oktober 1988 erließ das Strafbezirksgericht Wien im Verfahren AZ 7 U 2.527/88 gegen den am 21.März 1944 geborenen Ernst V*** - dem Antrag des Bezirksanwaltes (§ 451 Abs. 1 StPO) entsprechend - eine Strafverfügung wegen des Vergehens der versuchten Entwendung nach den §§ 15, 141 StGB. Ernst V*** wurde zur Last gelegt, am 27.August 1988 in Wien aus Unbesonnenheit versucht zu haben, Sachen geringen Wertes, nämlich zwei Packungen Herrenslips im Gesamtwert von 39,60 S, Verfügungsberechtigten der Fa. M***-Warenhandelsgesellschaft mit dem Vorsatz zu entziehen, sich durch die Sachzueignung unrechtmäßig zu bereichern. Über ihn wurde deshalb eine Geldstrafe von zwanzig Tagessätzen zu je 50 S, für den Fall der Uneinbringlichkeit eine Ersatzfreiheitsstrafe im Ausmaß von zehn Tagen, verhängt.
Diese am 1.Dezember 1988 in Rechtskraft erwachsene Strafverfügung verletzt nach Auffassung der Generalprokuratur zufolge Nichtannahme des Strafausschließungsgrundes der mangelnden Strafwürdigkeit der Tat das Gesetz in der Bestimmung des § 42 StGB. Zur Begründung ihrer Beschwerde nach dem § 33 Abs. 2 StPO führte die Generalprokuratur im einzelnen aus:
"Nach dieser Gesetzesbestimmung (§ 42 StGB) ist eine von Amts wegen zu verfolgende Tat, die nur mit Geldstrafe, mit nicht mehr als drei Jahren Freiheitsstrafe oder mit einer solchen Freiheitsstrafe und Geldstrafe bedroht ist, nicht strafbar, wenn
- 1. die Schuld des Täters gering ist,
- 2. die Tat keine oder nur unbedeutende Folgen nach sich gezogen hat oder, sofern sich der Täter zumindest ernstlich darum bemüht hat, die Folgen der Tat im wesentlichen beseitigt, gutgemacht oder sonst ausgeglichen worden sind und
3. eine Bestrafung nicht geboten ist, um den Täter von strafbaren Handlungen abzuhalten oder der Begehung strafbarer Handlungen durch andere entgegenzuwirken.
Von diesen Voraussetzungen für die Anwendung des § 42 StGB - die kumulativ vorliegen müssen (vgl ÖJZ-LSK 1977/293) - bedürfen angesichts der im § 141 Abs. 1 StGB normierten Strafdrohung, der Tatsache, daß der Angriff auf fremdes Vermögen beim Versuch geblieben ist und nach der Aktenlage auch keine sonstigen Folgen nach sich gezogen hat sowie des Umstandes, daß Erwägungen der Spezialprävention im Hinblick auf die bisherige Unbescholtenheit des Angeklagten hintangestellt werden können, lediglich die Frage des Grades der Schuld des Täters (§ 42 Z 1 StGB) und die Notwendigkeit der Bestrafung aus generalpräventiven Erwägungen (§ 42 Z 3 zweiter Fall StGB) einer näheren Prüfung, die zum Vorteil des Täters ausfällt:
Rechtliche Beurteilung
Geringe Schuld iS des § 42 Z 1 StGB liegt vor, wenn diese sowohl absolut wie auch im Vergleich zu den typischen Fällen des Deliktes als geringfügig zu werten ist. Das tatbildmäßige Verhalten muß - ohne Anlegung eines extrem strengen Maßstabes (SSt 47/55 ua) - im konkreten Fall hinter dem in der betreffenden Strafdrohung typisierten Unrechts- und Schuldgehalt erheblich zurückbleiben (vgl SSt 47/55, EvBl 1986/82, Foregger-Serini StGB4 Erl III zu § 42), wobei neben dem Schuldgrad die Sozialschädlichkeit und der Störwert für die Umwelt, insbesonders auch die besonderen Eigenschaften des Täters und die Umstände der Tatbegehung in den Vordergrund gerückt werden (Pallin im WK zu § 42 StGB Rz 9). Diese Voraussetzungen treffen im gegenständlichen Fall zu, weil der geständige und unbescholtene Täter bloß aus Unbesonnenheit in einem einmaligen Angriff (ohne einen intensiven Tätervorsatz indizierende Begleitumstände) Sachen zu entziehen versuchte, deren Wert (39,60 S) als äußerst geringfügig anzusehen ist. Auch Belange generalpräventiver Art stehen unter den gegebenen Umständen eines Massendelikts einer Anwendung des § 42 StGB nicht entgegen, weil zweifellos schon durch die Tatsache der polizeilichen Amtshandlung am Tatort, der Festnahme des Ernst V*** und der sofortigen Rückgabe der beiden Sachen im Beisein des Filialleiters (S 9 und 10 d.A) sowie die strafgerichtliche Verfolgung des Täters keine Ermunterung für andere zur Begehung solcher Delikte zu befürchten ist (Mayerhofer-Rieder StGB3 ENr 40 zu § 42), sondern vielmehr ein gewisser Abschreckungseffekt für Menschen in gesteigerter Legalitätsnähe eingetreten ist (EvBl 1986/82; Pallin "Die Strafzumessung in rechtlicher Sicht" Rz 157 sowie im WK zu § 42 StGB Rz 17). Damit wurde aber im vorliegenden Fall den Bedürfnissen der Generalprävention vollauf Genüge getan (Mayerhofer-Rieder StGB3 ENr 41 und 41 a zu § 42 StGB). Bei richtiger Rechtsanwendung wäre sohin das Verfahren gegen Ernst V*** vom Strafbezirksgericht Wien gemäß § 451 Abs. 2 StPO einzustellen gewesen."
Hiezu erwog der Oberste Gerichtshof:
Bei der Prüfung der - von der Generalprokuratur richtig zitierten - Voraussetzungen des § 42 StGB, dessen Anwendbarkeit durch das StRÄG 1987 auf alle amtswegig zu verfolgenden gerichtlich strafbaren Handlungen bis zu einer Strafdrohung von drei Jahren Freiheitsstrafe, sohin weit über die eigentlichen Bagatelldelikte hinaus, ausgedehnt wurde, ist vorweg klarzustellen, daß es nicht auf die Geringfügigkeit des Deliktes an sich (hier also des nur mit höchstens einmonatiger Freiheitsstrafe bedrohten Ermächtigungsdeliktes der Entwendung nach dem § 141 StGB) ankommt; vielmehr sind die genannten kumulativ geforderten Voraussetzungen mangelnder Strafwürdigkeit ausschließlich am deliktsspezifischen Schuld- und Unrechtsgehalt des anzeige- oder anklagegegenständlichen Vergehens in jedem Einzelfall zu messen. Demnach setzt geringe Schuld iS des § 42 Z 1 StGB nach gefestigter Judikatur stets voraus, daß das Gewicht der Einzeltat hinter dem in der betreffenden Strafdrohung typisierten Schuld- und Unrechtsgehalt erheblich zurückbleibt (SSt 47/55, 51/21, RZ 1983/25 uva). Die Schuld des Täters muß absolut und im Vergleich zu den typischen Fällen der jeweiligen Deliktsverwirklichung gering sein; dabei ist im Verhältnis zwischen allgemeinem Grunddelikt (etwa Diebstahl) und privilegierter Deliktsform (wie hier: Entwendung) grundsätzlich auf den allgemeinen, nicht aber auf den privilegierten Tatbestand abzustellen, weil Tatprivilegierungen begriffsessentiell nicht zum Nachteil des Täters ausschlagen dürfen (so schon 10 Os 11/80, 12 Os 67-69/80). Nur in jenen Fällen, in denen als schuld- und unrechtsmindernde Faktoren des allgemeinen Deliktes ausschließlich gesetzliche Privilegierungskriterien zum Tragen kommen, muß wenigstens eines von ihnen in hohem, über das Privilegierungserfordernis hinausgreifendem Maß verwirklicht sein, um mangelnde Strafwürdigkeit zu begründen. Ein anderes Verständnis stünde mit dem Sinn der Aufrechterhaltung gesetzlicher Strafbedrohung privilegierter Taten, wie hier der Entwendung, nicht im Einklang. Es kann daher dem von der Generalprokuratur zur Bejahung des unter Z 1 des § 42 StGB angeführten Erfordernisses hervorgekehrten Umstand, daß die Tat aus bloßer (nicht durch weitere schuldmindernde Merkmale gekennzeichneter) Unbesonnenheit begangen wurde, keine für die Beurteilung mangelnder Strafwürdigkeit ausschlaggebende Bedeutung zukommen. Ein ebensolcher Beurteilungsmaßstab ist auch unter dem Gesichtspunkt der in der Z 2 des § 42 StGB genannten Folgen an das Tatbestandserfordernis des geringen Wertes im § 141 StGB anzulegen.
Sieht man den vorliegenden Fall unter diesen Aspekten, kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die im Versuchsstadium gebliebene Tat - mit einem im übrigen angestrebten Beutewert von weniger als einem Zehntel des für den Privilegierungstatbestand bedeutsamen Grenzwertes (vgl 11 Os 2/89 = RZ 1989/60, 11 Os 22/89 ua) - dem Erfordernis der Z 2 des § 42 StGB entspricht. Darüber hinaus ergibt sich aus der Anzeige, daß der bisher unbescholtene und auch verwaltungsstrafrechtlich nicht vorgemerkte Verurteilte zum Tatzeitpunkt nicht nur arbeitslos war, sondern auch keine Arbeitslosenunterstützung oder sonstige Sozialhilfe bezog. In diesem exzeptionellen wirtschaftlichen Engpaß versuchte er (nach seiner unwiderlegten Darstellung), lediglich in dem Maß Waren ohne Bezahlung an sich zu nehmen, in dem die Notwendigkeit der Befriedigung elementarer Lebensbedürfnisse, zu denen auch der Wunsch nach notwendiger Bekleidung zu zählen ist, seine finanziellen Möglichkeiten überstieg. Er gab die Tat bei seiner Anhaltung an der Kassa sofort zu, auch konnten die intervenierenden Polizeibeamten bei seiner Visitierung keine Anhaltspunkte für eine weiterreichende Delinquenz finden. Alle diese Besonderheiten lassen hier die Voraussetzungen der Z 1 und 2 des § 42 StGB als gegeben erscheinen. Im Hinblick auf die Einmaligkeit der aus Unbesonnenheit begangenen Verfehlung kann auf die Verfolgung des bisher unbescholtenen Täters auch unter dem Gesichtspunkt der Spezialprävention verzichtet werden.
Selbst in Würdigung des Umstandes, daß es sich um einen "Ladendiebstahl", somit um ein Massendelikt mit insgesamt volkswirtschaftlich spürbaren Auswirkungen, handelt und in der Öffentlichkeit nicht der Eindruck entstehen darf, es werde auf den Eigentumsschutz in diesem Bereich verzichtet, fällt die weitere Prüfung, ob eine Bestrafung auch aus generalpräventiven Erwägungen unterbleiben kann, bei dem aktenkundigen Tat- und Geschehensablauf zugunsten des Verurteilten aus: Denn als Ergebnis dieser Prüfung, der grundsätzlich eine Gesamtbetrachtung aller Tatfaktoren (Vorleben, Ausmaß der Schuld, Beutewert, Ausmaß der Zurechnungsfähigkeit, Intensität des deliktischen
Verhaltens - vgl hiezu Burgstaller, der Ladendiebstahl und seine private Bekämpfung im österreichischen Strafrecht, S 66 ff) zugrundezulegen ist, stellt sich die Festnahme und sicherheitsbehördliche Eskortierung des bis dahin unbescholtenen Arbeitslosen insgesamt nicht nur dem legalitätsverbundenen Betrachter, sondern auch dem einschlägig anfälligen potentiellen Täterkreis als dermaßen deutliche gesellschaftliche Reaktion auf den (bloß geringwertige Unterwäsche betreffenden) Entwendungsversuch dar, daß im konkreten Fall nicht zu befürchten bleibt, das allgemeine Rechtsbewußtsein könnte in der Abgrenzung zwischen mangelnder Strafwürdigkeit (rechtswidrigen) deliktischen Handelns und aus der Sanktionslosigkeit etwa irrig abzuleitender Rechtmäßigkeit solchen Verhaltens überfordert und entsprechend irritiert werden.
Aus all dem folgt, daß in diesem Fall alle Voraussetzungen des § 42 StGB erfüllt sind, deren Vorliegen der Oberste Gerichtshof auf Grund der sich aus den Akten ergebenden Sachlage selbst abschließend feststellen konnte.
Es war daher der von der Generalprokuratur erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes stattzugeben und gemäß dem § 292 letzter Satz StPO iS des § 451 Abs. 2 StPO wie aus dem Spruch ersichtlich zu erkennen.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)