OGH 10ObS179/89

OGH10ObS179/896.6.1989

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Tschochner (Arbeitgeber) und Dr. Simperl (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Irene F***, ohne Beschäftigung, 9545 Radenthein, Schulstraße 3, wider die beklagte Partei

P*** DER A***, 1021 Wien, Friedrich

Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Erich und Dr. Richard Proksch, Rechtsanwälte in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 12. Jänner 1989, GZ 7 Rs 222/88-12, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 26. August 1988, GZ 31 Cgs 180/88-8, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben.

Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Prozeßgericht erster Instanz zurückverwiesen.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 25. 3. 1988 wies die beklagte Partei den Antrag der am 6.5.1932 geborenen Klägerin auf Berufsunfähigkeitspension ab, weil sie nicht als berufsunfähig iS des § 273 Abs 1 oder Abs 3 ASVG gelte.

Die dagegen rechtzeitig erhobene Klage richtet sich auf eine Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1.3.1988 und stützt sich darauf, daß die in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag halbtags als Verkäuferin im Fotogeschäft ihres Ehegatten tätig gewesene Klägerin aus gesundheitlichen Gründen keine Arbeit annehmen könne.

Die beklagte Partei beantragt die Abweisung der Klage, weil die Klägerin ihre bisherige oder eine dieser ähnliche Tätigkeit ausüben könne.

Der Sachverständige für Innere Medizin diagnostizierte einen erhöhten Blutdruck, der medikamentös behandelt werden sollte, erhöhte Blutfettwerte, die bei entsprechender Diät und Therapie ebenfalls zu bessern wären, und Kreuzschmerzen. Nach seinem Gutachten sind der Klägerin leichte und mittelschwere Arbeiten zuzumuten, jedoch nicht "in exponierter Lage" und nicht an schnell laufenden Maschinen (ON 4).

Der Sachverständige für Orthopädie stellte ein Übergewicht von etwa 30 kg in den Vordergrund, das in Verbindung mit der Spondylose im Bereich der Brust- und Lendenwirbelsäule die Belastbarkeit des Achsenorganes so weit herabsetze, daß der Klägerin nur mehr leichte, während der halben Arbeitszeit auch mittelschwere Arbeiten zumutbar seien. Sie könne ständig im Sitzen arbeiten, bis zur Hälfte der Arbeitszeit aber auch stehen und gehen. Das Heben und Tragen von Lasten über 8 bis 10 kg sei ihr nicht zuzumuten. "Tätigkeiten in gebückter Haltung" seien ihr nicht mehr möglich. Bei Verrichtung von dieser Leistungsfähigkeit entsprechenden Tätigkeiten reichten die üblichen Arbeitspausen aus. Eine wesentliche Besserung durch eine erhebliche Gewichtsreduktion sei nicht zu erreichen (ON 5 und 7). Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin ab 1.3.1988 die Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß zu zahlen, trug der beklagten Partei aber entgegen § 89 Abs 2 ASGG keine vorläufige Zahlung auf.

Nach den wesentlichen Feststellungen war die Klägerin seit 1973 (bis Ende 1987) halbtags als kaufmännische Angestellte im Fotohandelsgeschäft ihres Ehegatten beschäftigt. Sie bediente die Kunden. Dabei kam es "immer wieder" vor, daß sie Leitern besteigen mußte, um Waren aus Regalen zu nehmen. (Die letztgenannte Feststellung stützt sich auf die Aussage der Klägerin "Ich mußte im Geschäft manchmal auch Leitern besteigen, um zu Waren dazuzukommen" (ON 7 AS 37) Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen und die Leistungsfähigkeit der Klägerin stellte das Erstgericht wie in den schon wiedergegebenen Diagnosen und den vom Orthopäden zusammengefaßten Leistungskalkülen der beiden ärztlichen Sachverständigen fest, ergänzte jedoch, ohne daß einer dieser Sachverständigen dies ausdrücklich gesagt hätte, daß der Klägerin auch das Besteigen von Leitern unzumutbar ist. Ohne ausdrückliche Bezugnahme auf das mündliche Gutachten des Sachverständigen für Berufskunde stellte das Erstgericht auch fest, daß die Arbeiten einer kaufmännischen Angestellten im Fotohandel mit leichter körperlicher Arbeit verbunden sind und ausschließlich im Gehen und Stehen ausgeübt werden. Die Äußerungen dieses Sachverständigen, es komme dabei immer wieder vor, daß Gewichte über 5 kg gehoben oder getragen werden müßten, auch fallweises Bücken komme immer wieder vor, fanden in den Feststellungen keinen Niederschlag. Während dieser Sachverständige aussagte, "fallweises Bücken kommt immer wieder vor. Ebenso fallweise das Besteigen von Leitern", stellte das Erstgericht fest, "es kommt immer wieder vor, daß Leitern bestiegen werden müssen, um Waren aus Regalen zu holen".

Nach der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes kann die in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag ausschließlich als kaufmännische Angestellte im Fotohandel beschäftigt gewesene Klägerin diese Tätigkeit nicht mehr verrichten. Sie gelte daher als berufsunfähig iS des § 273 Abs 3 ASVG.

In ihrer Berufung rügte die beklagte Partei die Feststellungen, daß der Klägerin das Besteigen von Leitern unzumutbar sei und daß es (bei einer Angestellten im Fotohandel) immer wieder vorkomme, daß Leitern bestiegen werden müssen, um Waren aus Regalen zu holen, als aktenwidrig. Die Berufungswerberin bekämpfte auch die rechtliche Beurteilung, daß die Klägerin infolge ihres körperlichen Zustandes nicht mehr imstande sei, durch die während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag ausgeübte Halbtagstätigkeit als Verkäuferin in einem Fotohandelsgeschäft wenigstens die Hälfte des dadurch regelmäßig zu erzielenden Entgeltes zu erwerben. Das fallweise Besteigen einer drei- oder viersprossigen Leiter in einem Fotogeschäft stelle keine Arbeit in exponierter Lage dar. Die Klägerin sei daher nicht berufsunfähig iS des § 273 Abs 3 ASVG. Daß sie nicht berufsunfähig iS des Abs 1 dieser Gesetzesstelle sei, liege auf der Hand. Das Berufungsgericht gab der Berufung nicht Folge und bestätigte das angefochtene Urteil mit der Maßgabe, daß das Klagebegehren auf Leistung der Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab dem 1.3.1988 dem Grunde nach zu Recht bestehe und der beklagten Partei aufgetragen werde, der Klägerin ab 26.8.1988 (Schluß der Verhandlung erster Instanz) bis zur Erlassung des die Höhe der Pensionsleistung festsetzenden Bescheides eine vorläufige Zahlung von monatlich 2.000 S zu erbringen, die bisher fälligen Beträge binnen 14 Tagen, die künftig fällig werdenden Beträge am Ersten eines jeden Monats im vorhinein.

Das Berufungsgericht ließ offen, ob die Feststellung, es komme immer wieder vor, daß Leitern bestiegen werden müßten, um Waren aus Regalen zu holen, aktenwidrig sei. Unbekämpft sei, daß die Klägerin als kaufmännische Angestellte im Fotohandel fallweise auch Leitern besteigen mußte, um Waren aus Regalen zu holen. Sollte die erstgerichtliche Feststellung, daß dies "immer wieder" vorkomme, in diesem Sinn gemeint sein, dann wäre sie nicht aktenwidrig, sondern ein dem berufskundlichen Gutachten und der Aussage der Klägerin entsprechendes unbedenkliches Beweisergebnis.

Richtig sei, daß der Sachverständige für Orthopädie das Besteigen von Leitern nicht ausdrücklich ausgeschlossen habe. Nach beiden ärztlichen Sachverständigen könnten der Klägerin Arbeiten "in exponierter Lage" nicht zugemutet werden. Eine solche liege nicht nur auf Gerüsten, Dächern udgl vor, sondern auf allen gegenüber der Umgebung erhöhten Arbeitsplätzen, mit denen Absturz- und erhebliche Verletzungsgefahr verbunden seien. Arbeiten auf Leitern, um Wandregale zu erreichen, könnten durchaus dazu zählen. Eine nähere Feststellung, ob im Fotohandel Leitern solcher Höhe bestiegen werden müßten, daß von exponierter Lage gesprochen werden könne, sei jedoch aus rechtlichen Gründen nicht erforderlich.

Die Klägerin sei nämlich schon mangels der Fähigkeit zur im Fotofachhandel erforderlichen ganztägigen gehenden und stehenden Arbeitsleistung nach § 273 Abs 3 ASVG berufsunfähig. Die Verweisung auf Halbtagsarbeit sei, auch wenn bisher nur solche geleistet worden sei, unzulässig (SSV 19/83). Die Beurteilung der Berufsunfähigkeit orientiere sich am Vergleich zwischen dem konkreten Anspruchswerber und einer körperlich und geistig gesunden Person, die jedenfalls Ganztagsarbeit leisten könne und würde. Wäre die Verweisung auf Halbtagsarbeit bei einem Versicherten, der bisher eine solche geleistet habe, zulässig, wäre dieser gegenüber einem Ganztagsarbeiter unzulässigerweise schlechter gestellt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der beklagten Partei bekämpft das Berufungsurteil in seinem gesamten Umfang wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache mit den Anträgen, es im klageabweisenden Sinn abzuändern oder es, allenfalls auch das erstgerichtliche Urteil zwecks Verhandlung und Entscheidung durch eine Vorinstanz aufzuheben.

Die von der Klägerin nicht beantwortete Revision ist nach §§ 46 Abs 4 ASGG ohne die Beschränkungen des Abs 2 dieser Gesetzesstelle zulässig. Sie ist auch berechtigt.

Daß die Arbeitsfähigkeit der Klägerin infolge ihres Gesundheitszustandes noch nicht auf weniger als die Hälfte derjenigen einer gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in der Berufsgruppe der kaufmännischen Angestellten herabgesunken ist, so daß die Klägerin nicht als berufsunfähig iS des § 273 Abs 1 ASVG gilt, bedarf bei einem Vergleich ihres in dieser Beziehung ausreichend festgestellten Leistungskalküls mit den offenkundigen Anforderungen in vielen Büroangestelltenberufen keiner weiteren Begründung. Da die Revisionswerberin ausdrücklich zugesteht, daß die im § 273 Abs 3 lit a bis c ASVG genannten Voraussetzungen auf die Klägerin zutreffen, ist nur mehr zu prüfen, ob diese infolge ihres Gesundheitszustandes seit dem 1.3.1988 imstand ist, durch die während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag ausgeübte Tätigkeit als halbtägig beschäftigte Verkäuferin in einem Foto(kleinhandels)geschäft die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, das ein gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt. Diese Tätigkeit bildet den Rahmen, innerhalb dessen die Klägerin verwiesen werden darf (SSV-NF 2/53 mwN). Ob ein halbtags beschäftigt gewesener Versicherter, dessen Berufsunfähigkeit nur nach § 273 Abs 1 ASVG zu beurteilen ist - ein solcher Fall wurde in der vom Berufungsgericht zitierten Entscheidung des Oberlandesgerichtes Wien SSV 19/83 behandelt, weil Abs 3 dieser Gesetzesstelle erst durch die 39. ASVGNov BGBl 1983/590 angefügt wurde -, oder ein ganztägig beschäftigt gewesener Versicherter, dessen Berufsunfähigkeit auch nach dem letztgenannten Absatz zu prüfen ist, auf eine Halbtagsbeschäftigung verwiesen werden darf, kann in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem es um die Berufsunfähigkeit einer Halbtagskraft iS des § 273 Abs 3 ASVG geht, dahingestellt bleiben.

Nach lit d des zitierten Absatzes kommt es nämlich nur darauf an, ob der Versicherte infolge seines Gesundheitszustandes noch imstande ist, durch "diese Tätigkeit (lit c)", also durch die Tätigkeit, die er in mindestens der Hälfte der Beitragsmonate nach dem ASVG während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag ausgeübt hat, wenigstens die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, das ein gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt.

Diese Tätigkeit war bei der Klägerin nicht die einer ganztägig, sondern die einer nur halbtägig beschäftigten Verkäuferin in einem Geschäft des Foto(klein)handels. Deshalb kommt es auch nicht darauf an, ob die Klägerin infolge ihres Gesundheitszustandes noch imstande ist, durch diese Tätigkeit das übliche Entgelt einer gesunden Ganztagsverkäuferin zu erwerben, sondern darauf, ob sie noch das übliche Entgelt einer gesunden Halbstagsverkäuferin erzielen kann. Diese Auslegung entspricht auch dem Zweck des § 273 Abs 3 ASVG, der den Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit (Berufsunfähigkeit) bei Versicherten, die das 55. Lebensjahr vollendet haben, nicht erst dann annimmt, wenn der Versicherte wegen seines Gesundheitszustandes nicht mehr halb so viel verdienen kann wie ein nach seiner Ausbildung und seinen Kenntnissen und Fähigkeiten vergleichbarer gesunder Versicherter seiner gesamten Berufsgruppe, sondern schon dann, wenn der Versicherte, der am Stichtag mindestens 15 für die Bemessung der Leistung zu berücksichtigende Versicherungsjahre erworben hat und in mindestens der Hälfte der Beitragsmonate nach dem ASVG während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag eine gleiche oder gleichartige Tätigkeit ausgeübt hat, nicht wenigstens die Hälfte des dafür üblichen Entgeltes erzielen kann.

Ob dies bei der Klägerin seit dem 1.3.1988 der Fall ist, kann aufgrund der bisherigen Feststellungen noch nicht verläßlich beurteilt werden.

Zunächst steht nicht eindeutig fest, was unter der auf das interne Gutachten zurückgehenden, vermutlich auf die behandelbare Hypertonie zurückzuführenden, für medizinische Laien aber nicht ausreichend begründeten Einschränkung "nicht in exponierter Lage" wirklich zu verstehen ist, insbesondere, ob deshalb auch - wie vom Erstgericht ohne ausreichende Grundlage angenommen - das hinsichtlich seiner Umstände (Häufigkeit und Höhe) genauer festzustellende Besteigen von Leitern (oder ähnlichen Hilfsmitteln) unter Bedachtnahme auf mögliche Sicherungen (zB einen Haltegriff), um Waren aus Regalen zu holen, auszuschließen ist. Weiters wäre zu klären, ob die auf das orthopädische Gutachten zurückgehende Einschränkung "Tätigkeiten in gebückter Haltung" auch das hinsichtlich seiner Umstände (Häufigkeit und Tiefe) näher festzustellende Bücken einer Verkäuferin im Fotoeinzelhandelsfachgeschäft umfaßt.

Schließlich wäre festzustellen, seit wann die die Arbeitsfähigkeit der Klägerin beeinträchtigenden Gesundheitsstörungen bestehen und ob und unter welchen Umständen sie (mit Ausnahme der Übergewichtigkeit, hinsichtlich der dies bereits festgestellt ist) mit Auswirkungen auf das Leistungskalkül besserungsfähig sind.

Die Urteile der Vorinstanzen waren daher mit Beschluß aufzuheben (§§ 496, 499, 510 Abs 1 und § 513 ZPO), und die Sozialrechtssache war zur Verhandlung und Entscheidung an das Prozeßgericht erster Instanz zurückzuverweisen.

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