OGH 10ObS193/88

OGH10ObS193/8818.4.1989

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Manfred Dafert (Arbeitgeber) und Alfred Klair (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ruth H***, Angestellte, 1040 Wien, Johann Strauß-Gasse 26/1/12, vertreten durch Dr. Gustav Teicht und Dr. Gerhard Jöchl, Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagte Partei P*** DER A***,

1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Erich Proksch und Dr. Richard Proksch, Rechtsanwälte in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25. März 1988, GZ 34 Rs 5/88-33, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 13. Oktober 1987, GZ 2 Cgs 1017/87-27, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, daß es zu lauten hat:

"Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der Klägerin die Berufsunfähigkeitspension in der gesetzlichen Höhe über den 30. Juni 1986 hinaus zu gewähren, wird abgewiesen."

Die Klägerin hat die Verfahrenskosten selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die beklagte Partei gewährte der Klägerin für die Zeit vom 1. April 1985 bis 30. Juni 1986 eine zeitlich begrenzte Berufsunfähigkeitspension. Den am 21. Juli 1986 eingebrachten Antrag der Klägerin auf Weitergewährung der Pension wies sie ab. Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin die Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß über den 30. Juni 1986 hinaus weiter zu gewähren. Es stellte im wesentlichen folgenden Sachverhalt fest:

Die Klägerin war seit 1969 Angestellte eines Handelsunternehmens, das in je einem Geschäft in Wien und in Salzburg Modeschmuck verkauft. Die Klägerin leitete diese Geschäfte selbständig. Es oblagen ihr die Einstellung, Kündigung, Einstufung, Beurteilung und Beförderung des Personals. Sie war mitverantwortlich für den Einkauf und die Zusammenstellung der Kollektion, wobei sie auch an wichtigen Einkaufsreisen teilnehmen mußte. Sie hatte ferner den Wareneingang zu überwachen, die Zollformalitäten abzuwickeln, die Kalkulationsvorschläge zu erstellen und (gemeint wohl: in Wien) auch für die Präsentation und Dekoration im Geschäft und den Schaufenstern zu sorgen. Sie war außerdem selbst im Ladengeschäft (gemeint wohl: in Wien) im Verkauf tätig und hatte Kontrollbesuche in der Filiale in Salzburg, deren Leiterin ihr unterstand, auszuführen. Aufgrund ihrer Tätigkeit und Bezahlung ist sie in die Beschäftigungsgruppe 5 des Kollektivvertrags für die Handelsangestellten Österreichs einzureihen.

Im Geschäft (gemeint wohl: in Wien) sind ständig vier bis fünf Personen mit dem Verkauf beschäftigt, wobei an einem Tag sehr viele Einzelumsätze getätigt und viele Einzelstücke verkauft werden. Die Klägerin hatte sowohl die Kunden zu beraten als auch das Personal und die Kunden zu beaufsichtigen, damit kein Schmuck verschwindet. Bei der Klägerin besteht im Bereich der mittleren und unteren Halswirbelsäule ein beträchtliches Zervikalsyndrom mit teilweiser Wirbelblockierung, Bewegungseinschränkung des Kopfes und der Halswirbelsäule sowie Irritation der Nervenwurzeln. Sie ist imstande, alle leichten körperlichen Arbeiten während der üblichen Arbeitszeiten und mip den üblichen Pausen auszuführen, wobei häufige kombinierte Drehbewegungen des Kopfes und der Halswirbelsäule sowie Arbeiten an exponierten Stellen und mit Nässe- und Kälteexposition auszuschließen sind.

Eine Arbeitskraft mit den Leistungseinschränkungen der Klägerin ist nicht mehr imstande, in Verkaufsberufen zu arbeiten. Sie könnte noch einfache Büroberufe, wie etwa die einer Telefonistin mit mehr als fünf Amtsstellenanschlüssen, ausüben, was die Einstufung in die Beschäftigungsgruppe 3 (des Kollektivvertrages für die Handelsangestellten) zur Folge hätte.

Rechtlich war das Erstgericht der Meinung, daß die Arbeitsfähigkeit der Klägerin infolge ihrer gesundheitlichen Einschränkungen im Sinn des § 273 Abs 1 ASVG unter die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken sei, zumal sie nicht auf eine um zwei Beschäftigungsgruppen niedriger eingestufte Tätigkeit verwiesen werden dürfe.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge, wobei es sich der Auffassung des Erstgerichtes anschloß, daß bei der Klägerin infolge des damit verbundenen sozialen Abstiegs die Verweisung auf einfache Bürotätigkeiten nicht in Betracht komme. Gegen die Feststellung, daß die Klägerin ständig im Verkauf gearbeitet hat, bestünden keine Bedenken. Die Annahme einer 80 - 85 %igen Verkaufstätigkeit der Klägerin in der Wiener Niederlassung sei nachvollziehbar. Es entspreche der Lebenserfahrung, daß in einer Verkaufsniederlassung mit 5 Dienstnehmern schon aus Gründen der Kontrolle deren Leiterin neben ihrer administrativen Tätigkeit vorwiegend im Verkauf tätig sein müsse, um den geschäftlichen Erfolg sicherzustellen. Gegen das Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, es im Sinn der Abweisung des Klagebegehrens abzuändern oder es allenfalls aufzuheben und die Rechtssache an das Berufungsgericht oder an das Erstgericht zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Ein Mangel des Berufungsverfahrens wird in der Revision nicht geltend gemacht. Dem Berufungsgericht wird in diesem Zusammenhang vorgeworfen, es habe nicht darauf Bedacht genommen, daß für die Klägerin eine Reihe von - im einzelnen in der Revision näher bezeichneten - Berufstätigkeiten in Betracht kommen, die nach dem Kollektivvertrag für die Handelsangestellten in der Beschäftigungsgruppe 4 aufgezählt seien und auf die die Klägerin verwiesen werden dürfe, weil dies keinen unzumutbaren sozialen Abstieg zur Folge habe. Da diese Ausführungen der Rechtsrüge zuzuordnen sind, wird hierauf im folgenden Bedacht genommen werden. Die beklagte Partei macht mit Recht geltend, daß es nicht Aufgabe des Sachverständigen für Berufskunde ist, zu beurteilen, auf welche Berufstätigkeiten der Versicherte verwiesen werden darf. Hiebei handelt es sich um eine Rechtsfrage, die allein von den Gerichten zu entscheiden ist. Aufgabe des Sachverständigen für Berufskunde ist es bloß, eine Aussage darüber zu machen, welche Leistungsanforderungen an die einzelnen Berufstätigkeiten gestellt werden und, falls dies für die Entscheidung von Bedeutung ist, welche Entlohnung hiefür üblicherweise bezahlt wird. Es war daher unrichtig, daß der Sachverständige für Berufskunde ausführte, die Klägerin dürfe nicht auf einfache Bürotätigkeiten verwiesen werden, weil diese nur in die Beschäftigungsgruppe 3 des Kollektivvertrages für die Handelsangestellten einzuordnen seien. Ebenso unrichtig war es, daß das Erstgericht diese Auffassung im Rahmen der Tatsachenfeststellungen wiedergab. Dies schadet jedoch nicht, weil die entsprechenden Ausführungen seines Urteils der rechtlichen Beurteilung zuzuordnen sind und daher überprüft werden können. Die Frage der Berufsunfähigkeit der Klägerin ist nach § 273 Abs 1 ASVG zu beurteilen. In dieser Bestimmung ist eine Berufs(gruppen)versicherung vorgesehen, deren Leistungen einsetzen, wenn der Versicherte infolge seines körperlichen oder geistigen Zustands keinen Beruf seiner Berufsgruppe mehr ausüben kann (I*** 1989/S 16). Bei der Lösung dieser Frage kommt es zwar auf die zuletzt ausgeübte Berufstätigkeit an (SSV-NF 1/68; I*** 1989/S 16), dies jedoch nur der Art nach und nicht nach der Gestaltung der Tätigkeit an einem bestimmten Arbeitsplatz. Hierauf kann nur gemäß § 273 Abs 3 ASVG Bedacht genommen werden. Diese Bestimmung wäre überflüssig, wenn es schon nach dem vorangehenden Absatz 1 nur auf den konkreten Arbeitsplatz des Versicherten ankäme. Die Klägerin kann in die Beschäftigungsgruppe 5 des hier maßgebenden Kollektivvertrags für die Handelsangestellten vom 14. Dezember 1983 nur eingestuft werden, wenn man ihre Ausbildung und ihre Kenntnisse und Fähigkeiten berücksichtigt, die für jenen Teil ihrer Tätigkeit erforderlich waren, den sie neben der Verkaufstätigkeit ausgeübt hat. Hiefür ergibt sich aber aus dem medizinischen Leistungskalkül keinerlei Einschränkung, weil durch dieses nur die Tätigkeit in Verkaufsberufen ausgeschlossen wird. Die Klägerin muß sich daher in erster Linie auf die Tätigkeiten der Beschäftigungsgruppe 5 des Kollektivvertrages verweisen lassen, wobei davon etwa die Tätigkeit eines selbständigen Einkäufers oder auch eines Abteilungsleiters einer größeren Abteilung in Betracht kommt. Daß bei diesen Tätigkeiten die Einschränkungen ihres Leistungskalküls ohne Bedeutung sind, ist offenkundig und kann daher der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zugrunde gelegt werden, ohne daß es besonderer Feststellungen hierüber bedarf (§ 2 Abs 1 ASGG i.V.m. § 269 ZPO).

Sollten die Ausbildung sowie die Fähigkeiten und Kenntnisse der Klägerin nicht ausreichen, um diese Berufstätigkeiten auszuüben, so wäre für sie nichts gewonnen. Sie kann dann nicht den Berufsschutz der Beschäftigungsgruppe 5, sondern nur den einer niedrigeren Beschäftigungsgruppe in Anspruch nehmen. In diesem Fall müßte sie sich aber auch auf die einfachen Bürotätigkeiten der Beschäftigungsgruppe 3 verweisen lassen, die sie nach den Feststellungen des Erstgerichtes noch ausüben kann, weil in einem solchen Fall kein unzumutbarer sozialer Abstieg gegeben wäre. Dies gilt umso mehr, als neben der vom Erstgericht angeführten Tätigkeit einer Telefonistin noch die Tätigkeit einer Angestellten im Einkauf in Betracht kommt, die nach den Anforderungen, die in den hier maßgebenden Punkten ebenfalls offenkundig sind, auch noch dem Leistungskalkül der Klägerin entsprechen.

Die Vorinstanzen haben daher zu Unrecht angenommen, daß die Klägerin nur auf Berufstätigkeiten verwiesen werden könnte, deren Ausübung für sie einen unzumutbaren sozialen Abstieg bedeuten würden. Da ihr noch die Ausübung anderer Berufstätigkeiten zugemutet werden kann, ist sie nicht berufsunfähig im Sinn des für sie maßgebenden § 273 Abs 1 ASVG, weshalb die Klage abzuweisen ist. Der Ausspruch über die Verfahrenskosten beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASVG.

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