OGH 2Ob6/89

OGH2Ob6/8928.2.1989

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Vogel, Dr. Melber und Dr. Kropfitsch als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei A*** E*** Versicherungs-AG, 5024 Salzburg, Max Ott-Platz 6, vertreten durch Dr. Heinrich Hofrichter, Dr. Erwin Bajc, Rechtsanwälte in Bruck/Mur, wider die beklagten Parteien 1.) Heinrich E***, Gendarmeriebeamter, und 2.) Margot E***, Hausfrau, beide 8130 Frohnleiten, Dr.Amannstraße 3, beide vertreten durch Dr. Anton Kern, Rechtsanwalt in Frohnleiten, wegen Leistung (S 60.360,--) und Feststellung (S 25.000,--), infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes vom 24. Oktober 1988, GZ 4b R 95/88-27, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz vom 19. Juni 1988, GZ 13 Cg 135/87-21, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien die mit S 4.668,18 (darin keine Barauslagen und S 424,38 Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 13. Mai 1983 wurde der am 21. Jänner 1980 geborene mj. Martin E*** auf der Fahrbahn der Salzkammergut-Bundesstraße 154 von einem LKW niedergestoßen und schwer verletzt. In dem darüber geführten Schadenersatzprozeß sprach das Kreisgericht Leoben dem verletzten Kind einen Betrag von S 120.360,-- s.A. zu und stellte fest, daß die (damaligen) Beklagten, nämlich Ernst Lothar S*** als Lenker, die Firma F*** I*** G.m.b.H. & Co KG als Halterin und die A*** E*** Versicherungs-AG als Haftpflichtversicherer (im Rahmen der vertraglichen Höchstversicherungssummen) solidarisch für alle zukünftigen Schäden aus diesem Verkehrsunfall haften. Dieses Urteil wurde vom Oberlandesgericht Graz als Rechtsmittelgericht bestätigt und damit rechtskräftig.

Mit der vorliegenden Klage begehrte die A*** E*** Versicherungs-AG als Haftpflichtversicherer im Rückgriffsweg von den beklagten Eltern des verletzten Kindes einen Betrag von S 60.360,-- s.A. sowie die Feststellung, daß die Beklagten zur ungeteilten Hand schuldig seien, die Hälfte des Schadens zu bezahlen, den die Klägerin auf Grund des genannten Urteils dem minderjährigen Martin zu bezahlen haben werde. Sie machte geltend, daß die Beklagte ihre Aufsichts- und Obsorgepflicht gegenüber dem Kind gröblich verletzt hätten, indem sie zugelassen hätten, daß ihr noch nicht dreijähriger Sohn unbeaufsichtigt in unmittelbarer Nähe der gefährlichen Bundesstraße spielte.

Die Beklagten beantragten die Abweisung dieses Klagebegehrens und wendeten ein, daß die Aufsicht zum Unfallszeitpunkt nur der Zweitbeklagten oblegen sei. Auch diese habe ihre Aufsichtspflicht aber nicht verletzt, da der Unfall nicht zu erwarten gewesen sei, zumal die Kinder die Bundesstraße, die auf einem hohen steilen Damm liege, zuvor nie betreten hätten. Außerdem sei das Begehren auf ungeteilte Haftung der Beklagten unberechtigt, da der Regreß eines Schädigers gegen mithaftende Mitschädiger nicht nach § 1302 ABGB, sondern nach § 896 ABGB zu erfolgen habe. An einer Feststellung der elterlichen Haftung hätte die Klägerin kein Interesse, sie habe auch bisher nicht gezahlt.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab, wobei es im wesentlichen von folgenden Feststellungen ausging:

Am 13. Mai 1983 befanden sich die Beklagten mit ihren Kindern, dem dreijährigen Martin und der viereinhalbjährigen Claudia, auf Urlaub bei den Eltern des Erstbeklagten in Bad Mitterndorf. Deren Haus ist etwa 150 m von der Salzkammergut-Bundesstraße 154 entfernt, die auf einer hohen und steilen Böschung verläuft. Von dem Haus führt eine gerade Zufahrtsstraße durch eine Unterführung unter der Bundesstraße hindurch. Die Kinder der Beklagten spielten bei ihren Urlaubsaufenthalten immer mit anderen Kindern aus der Nachbarschaft. Sie suchten dabei öfters einen 8 bis 10 m von der Böschungsunterkante der Bundesstraße entfernten Tümpel auf, um dort Frösche und Kaulquappen zu fangen, was den Beklagten auch bekannt und den Kindern nicht verboten war. Vor dem Unfall hatten die Kinder noch nie die Bundesstraße betreten und waren nicht einmal durch die Unterführung gegangen. Sie besuchten auch oft befreundete Kinder in einem unmittelbar neben der Bundesstraße gelegenen Haus. Da sie schon öfters bei ihren Großeltern auf Urlaub gewesen waren, kannten sie die örtlichen Verhältnisse gut. Zur Mittagszeit des 13. Mai 1983 befand sich der Erstbeklagte, ein Gendarmeriebeamter, im Haus seiner Eltern und hatte sich niedergelegt, um sich vom vorangegangenen Nachtdienst auszuruhen, was seine Frau, die Zweitbeklagte, auch wußte. Ihre Kinder spielten mit anderen Kindern beim erwähnten Tümpel, was die Zweitbeklagte ebenso wußte. Diese bereitete gerade ein Grillessen im Freien vor. Kurz vor dem Unfall, nachdem ihnen ihre Mutter mitgeteilt hatte, daß das Essen noch nicht fertig sei, gingen die Kinder wieder zum Tümpel zurück. Während die Zweitbeklagte kurz ins Haus und auf die Toilette ging, erkletterte der mj. Martin plötzlich die Böschung und lief auf die Bundesstraße hinaus, wo er von einem LKW niedergestoßen und schwer verletzt wurde. Zur Rechtsfrage führte das Erstgericht aus, daß den Erstbeklagten im vorliegenden Fall keine Aufsichtspflicht getroffen habe, weil seine Ehefrau, die Zweitbeklagte, die Aufsicht über die Kinder ausgeübt habe. Auch deren Aufsichtspflicht dürfe nicht überspannt werden, dies insbesondere in Anbetracht des ländlichen Bereichs, in dem Kinder beim Spielen auch in etwas größerer Entfernung ohne ständige Beaufsichtigung gelassen werden könnten. Die Kinder hätten die Örtlichkeit gekannt, wiederholt an dem Tümpel gespielt, aber nie die Bundesstraße betreten. Die Zweitbeklagte habe im großen und ganzen Sichtverbindung zu den Kindern gehabt und habe nicht annehmen können, daß ihr kleiner Sohn plötzlich die steile Böschung hinaufklettern und die Bundesstraße betreten werde. Der Unfall sei nur durch eine Verkettung unglücklicher Umstände eingetreten.

Die Berufung der Klägerin blieb erfolglos; das Berufungsgericht sprach aus, daß der Wert des Streitgegenstandes, über den es entschieden hat, zusammen mit dem in einem Geldbetrag bestehenden Teil den Betrag von S 300.000,-- übersteigt; es übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes mit Ausnahme jener, daß der mj. Martin die Böschung plötzlich erklettert habe, als unbedenklich und billigte auch die rechtliche Beurteilung der ersten Instanz. Gegen das Urteil des Berufungsgerichtes wendet sich die Revision der Klägerin aus den Anfechtungsgründen nach § 503 Abs 1 Z 2 und 4 ZPO mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer Klagsstattgebung; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagten beantragen in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Der Revisionsgrund nach § 503 Abs 1 Z 2 ZPO liegt nicht vor, was nicht näher zu begründen ist (§ 510 Abs 3 ZPO). In der Rechtsrüge führt die Klägerin aus, im vorliegenden Fall seien die Aufsichtspflichtigen bei den Eltern bzw. Schwiegereltern zu Gast in einem Haus gewesen, das einen eigenen Garten besitze, in welchem ein dreijähriges Kind ohne weiters hätte spielen können. Der Vater des Kindes, der Erstbeklagte sei als Gendarmeriebeamter mit den Gefahren des Straßenverkehrs besser vertraut als jeder andere Staatsbürger. Es wäre sowohl ihm als auch der Zweitbeklagten ohne weiteres zumutbar gewesen, das dreijährige Kind anzuhalten, im Garten zu spielen und nicht im unmittelbaren Bereich der Schnellstraße. Das Kind sei nach seinem Alter nicht in der Lage gewesen, die Gefahren des Straßenverkehrs abzuschätzen und sich danach zu verhalten. Aus den Feststellungen der beiden Unterinstanzen ergebe sich, daß beide Beklagten von dem Umstand Kenntnis hatten, daß das dreijährige Kind bei dem Tümpel, unmittelbar neben der Bundesstraße, spiele. Es sei dies dem Kind weder verboten noch auch sei ihm verboten worden, die Bundesstraße zu betreten, noch sei auch sonst das Kind angehalten worden, sich von der Straße fernzuhalten, was im übrigen bei einem dreijährigen Kind auch wirkungslos und ohne Bedeutung gewesen wäre. Die beiden Beklagten hätten es mehr oder minder dem Zufall überlassen, ob das Kind die Bundesstraße betrete oder nicht. Die Liegenschaft, auf welcher sich die Beklagten aufgehalten hätten, liege 150 m von der Bundesstraße entfernt und sohin nicht einmal in Rufweite der Bundesstraße, insbesondere wenn man dazu noch den Straßenlärm berücksichtige. Es hätte daher selbst dann, wenn die Mutter "mit einem Auge" das Kind auf eine Entfernung von 150 m auf der Böschung gesehen hätte, von ihr keinerlei Einfluß auf das Kind ausgeübt werden können. Letztlich sei auch die Rechtsauffassung des Berufungsgerichtes verfehlt, daß den Erstbeklagten keinesfalls eine Aufsichtspflicht treffe, weil er sich hingelegt habe, um sich auszuruhen. Es habe nicht nur die Zweitbeklagte die Aufsichtspflicht verletzt, sondern auch der Erstbeklagte, der angegeben habe, daß beiden Elternteilen bekannt war, daß der minderjährige Martin in der Nähe der Bundesstraße beim Tümpel spiele, um dort Frösche zu fangen u. dgl. Es wäre daher auch seine Aufgabe gewesen, die Zweitbeklagte, insbesondere weil er als Gendarmeriebeamter über die notwendige Erfahrung verfügte, zu verhalten, dem Kind den Aufenthalt in unmittelbarer Nähe der Bundesstraße zu verbieten und sowohl die Zweitbeklagte als auch das Kind entsprechend zu belehren. Diesen Ausführungen kann nicht gefolgt werden.

Für die Frage, ob der Aufsichtspflichtige seiner Obsorgepflicht iSd § 1309 ABGB genügt hat, kommt es auf das Alter, die Entwicklung und die Eigenart des Kindes, auf die Voraussehbarkeit eines schädigenden Verhaltens des Pflegebefohlenen, auf das Maß der vom Pflegebefohlenen ausgehenden, dritten Personen drohenden Gefahr sowie darauf an, was den Aufsichtspflichtigen in ihren jeweiligen Verhältnissen zugemutet werden kann. Entscheidend ist, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen im konkreten Fall unternehmen müssen, um die Schädigung Dritter durch ihre Kinder zu verhindern, welchen Anlaß zu bestimmten Aufsichtsmaßnahmen sie hatten. Es entspricht durchaus den Anschauungen des Verkehrs, daß im ländlichen Bereich Kinder auch in etwas größere Entfernung von der aufsichtspflichtigen Mutter, welche im Haushalt oder in der Landwirtschaft oder in einem Gewerbebetrieb tätig ist, beim Spiel im Freien ohne ständige Überwachung gelassen werden, sofern im Einzelfall nicht begründeter Anlaß zu strengeren Aufsichtsmaßnahmen besteht. Die Möglichkeit des Spielens im Freien muß, wenn es mit den örtlichen Verhältnissen irgendwie vereinbar ist, Kindern erhalten bleiben; ihre Überwachung auf Schritt und Tritt kann in der Regel nicht verlangt werden (vgl. EvBl 1978/52 mwN, ZVR 1960/18, ZVR 1982/109 ua). Maßgebend für das Maß der Aufsichtspflicht der Eltern sind hiebei immer die besonderen Verhältnisse des einzelnen Falles (vgl. EvBl 1967/349 ua).

Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall ist zu berücksichtigen, daß nach den vom Berufungsgericht übernommenen Feststellungen des Erstgerichtes der mj. Martin und seine viereinhalbjährige Schwester mit anderen Kindern aus der Nachbarschaft zu spielen pflegten, wobei sie öfters, so auch vor dem Unfall, einen 8 bis 10 m von der Unterkante der hohen und steilen Böschung der Bundesstraße entfernten Tümpel aufsuchten, um dort Frösche und Kaulquappen zu fangen, daß ferner die Kinder die örtlichen Verhältnisse gut kannten und vor dem Unfall noch nie die Bundesstraße betreten hatten oder auch nur durch die Unterführung gegangen waren und daß schließlich die Zweitbeklagte Sichtverbindung zu den Kindern hatte, jedenfalls wenn sie, wie auch vor dem Unfall, im Freien arbeitete. In der Auffassung des Berufungsgerichtes, daß für die Zweitbeklagte unter Bedachtnahme auf die Umstände des vorliegenden Einzelfalles eine objektive Vorhersehbarkeit des Verhaltens des mj. Martin, nämlich des erstmaligen und auch unerwarteten Erkletterns der Straßenböschung sowie des Betretens der Fahrbahn nicht angenommen werden konnte und ihr daher eine Verletzung ihrer Aufsichtspflicht nicht anzulasten ist, kann daher keine unrichtige rechtliche Beurteilung erblickt werden. Dasselbe gilt bezüglich der Verneinung einer Verletzung der Aufsichtspflicht durch den Erstbeklagten, der, wie das Berufungsgericht richtig erkannte, keinen Grund hatte, an der Aufsicht über die Kinder durch seine Ehefrau zu zweifeln, während er sich im Hause ausruhte.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41 und 50 ZPO.

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