OGH 10ObS334/88

OGH10ObS334/8820.12.1988

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Kellner als weitere Richter sowie durch die fachkundigen Laienrichter Dr. Robert Prohaska (AG) und Günter Eberhard (AN) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Gertrude M***, Annahof 4/9, 2120 Wolkersdorf, vertreten durch Dr. Rudolf Müller, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei P*** DER A***,

Friedrich Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vertreten durch Dr. Erich und Dr. Richard Proksch, Rechtsanwälte in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 9. September 1988, GZ 32 Rs 194/88-41, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Kreisgerichtes Korneuburg als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 10. Mai 1988, GZ 17 Cgs 319/87-36, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin eine Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. Oktober 1986 zu gewähren und trug der beklagten Partei eine vorläufige Zahlung von S 1.000,-- monatlich auf. Es traf folgende wesentliche Feststellungen:

Die am 7. September 1937 geborene Klägerin hat die Handelsschule absolviert und war in den letzten 15 Jahren vor Antragstellung als kaufmännische Angestellte, befaßt mit allgemeinen Büroarbeiten, Buchhaltung und Lohnverrechnung, tätig. Die Klägerin leidet seit ihrem 23. Lebensjahr an insulinpflichtiger labiler Zuckerkrankheit mit Neigung zu Hypoglykämie und Hypertonie. Die Klägerin ist für alle leichten Arbeiten im Sitzen und Stehen in der normalen Arbeitszeit mit den üblichen Pausen geeignet. Arbeiten unter besonderem Zeitdruck sind nicht möglich. Es sind mehrere kurze Pausen während der Arbeitszeit zur Einnahme kleinerer Mahlzeiten - neben drei warmen Mahlzeiten morgens, mittags und abends beschränkt sich die Essenaufnahme außerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Mittagspause auf maximal etwa zwei Wurstsemmeln oder dergleichen - im Laufe des Tages erforderlich. Die Klägerin besitzt ein Meßgerät für Blutzuckermessung, die mehrmals während der Arbeitszeit kurze Pausen erfordern kann. Das Zurücklegen der Anmarschwege unter städtischen und ländlichen Bedingungen ist sowohl im Sommer als auch im Winter möglich, wobei der Weg (Fußweg oder öffentliches Verkehrsmittel) nicht länger als 30 Minuten dauern sollte. Die Klägerin verfügt über normale durchschnittliche Intelligenz, ist unterweisbar und kann eingeordnet werden. Die Klägerin wäre auf einfache nicht schematische oder mechanische Arbeiten in der Verwendungsgruppe 2 des Kollektivvertrages der Angestellten wie etwa Fakturistin mit einfachen Verrechnungsaufgaben, Lohnrechnerin oder auch in der Verwendungsgruppe 3 im Ein- und Verkauf, als Lager- und Magazinangestellte oder Expedientin verweisbar.

Rechtlich leitete das Erstgericht aus diesem Sachverhalt ab, die Klägerin sei berufsunfähig, weil sie wegen der durch die Zuckerkrankheit bedingten Pausen zur Nahrungsaufnahme und Blutzuckermessung eine Störung des Dienstbetriebes hervorrufen würde und daher auf ein besonderes Entgegenkommen des Dienstgebers angewiesen wäre. Bei der gegebenen Arbeitslosigkeit und dem Arbeitsmarkt im Raume Wolkersdorf (wo die Klägerin wohnt) könne kein Arbeitgeber gefunden werden, der die zuckerkranke Klägerin als Angestellte aufnehme, der Arbeitsmarkt im Raum Wien aber scheide wegen der Beschränkung des Anmarschweges mit 30 Minuten Dauer aus. Das Berufungsgericht gab der wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens, unrichtiger Beweiswürdigung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung der beklagten Partei aus rechtlichen Gründen Folge und änderte das Ersturteil im Sinne einer Klageabweisung ab.

Der Wohnort des Versicherten habe bei Prüfung der Berufsunfähigkeit als persönliches Moment außer Betracht zu bleiben. Hinsichtlich der kurzen Pausen, die die Klägerin für die Blutzuckermessungen bzw. eine Nahrungsaufnahme, eventuell nur Einnahme einer Traubenzuckertablette, benötige, sei sie nicht auf das Entgegenkommen des Arbeitgebers angewiesen, weil solche nur wenige Minuten dauernde Verrichtungen ohne weiteres von Arbeitgebern geduldet werden, wenn sie nicht das Ausmaß einer längeren 10minütigen Pause erreichten. Für die Durchführung von Blutzuckermessungen genüge das in Betrieben selbstverständliche Vorhandensein von Sanitärräumen. Da der Klägerin eine große Zahl von Verweisungsberufen offen stehe, sei sie nicht berufsunfähig im Sinne des § 273 ASVG.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung und Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens mit dem Antrag, es dahin abzuändern, daß das Ersturteil wiederhergestellt werde.

Die beklagte Partei beantragt, der Revision keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revision kommt keine Berechtigung zu.

Die geltend gemachte Mangelhaftigkeit des Verfahrens liegt nicht

vor (§ 510 Abs 3 ZPO).

Auch die Rechtsrüge ist nicht begründet.

Der Versicherungsfall der verminderten Arbeitsfähigkeit ist zwar unabhängig davon, ob der körperliche und geistige Zustand des Versicherten noch den mit der Berufstätigkeit selbst verbundenen Anforderungen entspricht, auch dann eingetreten, wenn der Versicherte nicht mehr imstande ist, in zumutbarer Weise einen Arbeitsplatz zu erreichen. Bei Beurteilung dieser Frage kommt es nicht auf die Verhältnisse am Wohnort des Versicherten, sondern auf die Verhältnisse am allgemeinen Arbeitsmarkt an, weil der Versicherte sonst durch die Wahl seines Wohnortes die Voraussetzungen für die Gewährung einer Pension beeinflussen könnte (SSV-NF 1/20 ua).

Gestützt auf eine vom Österreichischen Institut für Raumplanung in den letzten Jahren durchgeführte umfangreiche Untersuchung über die Erreichbarkeitsverhältnisse in Österreich, aus welcher hervorgeht, daß im gesamtösterreichischen Durchschnitt 73 % der Berufstätigen innerhalb einer Entfernung von 500 m zur nächsten Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels wohnen und daher bis dorthin höchstens einen Weg von 500 m zurücklegen müssen (die Werte für Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern liegen um 90 %), hat der Oberste Gerichtshof - abweichend von der Rechtsprechung des Oberlandesgerichtes Wien als damaligem Höchstgericht - eine Einschränkung der Gehleistung auf eine Wegstrecke von rund 500 m noch nicht als Ausschluß vom allgemeinen Arbeitsmarkt gewertet (10 Ob S 182/88). Berücksichtigt man, daß in der Zeit von einer halben Stunde allein zu Fuß bei normalem Gehtempo jedenfalls zwei Kilometer zurückgelegt werden können und daß, wie sich aus der erwähnten Untersuchung ebenfalls ergibt, bezogen auf ganz Österreich, die Erreichbarkeit des nächstgelegenen Arbeitszentrums für 76,6 % der Berufstätigen 0 bis 30 Minuten beträgt, dann kann jedenfalls nicht davon gesprochen werden, daß die Klägerin wegen ihrer festgestellten, nur zeitlichen Einschränkung bei der Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen wäre.

Zu Recht hat das Berufungsgericht auch ausgeführt, daß für die Einnahme kleiner Zwischenmahlzeiten, wie zweimal eine Wurstsemmel (wie auch der berufskundliche Sachverständige ausführte) ebensowenig das Entgegenkommen des Dienstgebers erforderlich ist, weil solche kleine Nahrungsaufnahmen während der Arbeitszeit gerade bei Bürotätigkeiten, die nicht mit Kundenverkehr verbunden sind, ganz allgemein geduldet werden, wie für gegebenenfalls erforderliche Blutzuckermessungen. Diese bedingen einen Zeitaufwand von nur wenigen Minuten und können ohne Störung des Dienstbetriebes in Sanitärräumen durchgeführt werden. Nicht nur im internistischen Sachverständigengutachten, sondern auch im Bericht des Krankenhauses der Stadt Wien-Lainz wird ausdrücklich betont, daß eine Zuckerkrankheit, wie sie die Klägerin aufweist, durchaus mit leichter Büroarbeit vereinbar ist. Für die Feststellung, daß eine weitere Arbeitsleistung der Klägerin zu einer Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes führen könnte, bestanden somit keine Anhaltspunkte.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Entscheidung über die Revisionskosten beruht auf § 77 Abs. 1 Z 2 lit. b ASGG.

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