OGH 10ObS281/88

OGH10ObS281/8825.10.1988

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Bauer als weitere Richter und durch die fachkundigen Laienrichter Mag. Robert Renner (AG) und Dipl.-Ing. Herbert Ehrlich (AN) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Franz H***, ohne Beschäftigung, 2354 Neu-Guntramsdorf, Föhrengasse 3, vertreten durch Dr. Oswald Karminski-Pielsticker, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei P*** DER A*** (Landesstelle Wien), 1092 Wien, Roßauer Lände 3, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten wegen Invaliditätspension infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 8. April 1988, GZ 32 Rs 56/88-15, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 11. November 1987, GZ 20 Cgs 1134/87-12, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben.

Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an

das Prozeßgericht erster Instanz zurückverwiesen.

Die Revisionskosten sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 12. Mai 1987 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 9. März 1987 auf Invaliditätspension mangels Invalidität ab.

In der dagegen rechtzeitig erhobenen Klage behauptete der Kläger ua, sehr kraftlos zu sein und immer wieder hinzufallen. Er könne keiner geregelten Tätigkeit mehr nachgehen. Deshalb beantragte er die von der beklagten Partei abgelehnte Leistung im gesetzlichen Ausmaß ab Anfallstag.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage, weil der immer als Hilfsarbeiter beschäftigte Kläger noch alle leichten und mittelschweren Arbeiten während der üblichen Arbeitszeit verrichten könne.

Beim Sachverständigen für innere Medizin klagte der Kläger ua über ein Schwächegefühl in beiden Beinen und Bewußtseinsstörungen. Zur Klärung dieser Störungen und der Schädigung peripherer Nerven regte dieser Sachverständige die Beiziehung eines Neurologen an. Auch gegenüber dem Sachverständigen für Chirurgie erwähnte der Kläger, daß er unter Kraftlosigkeit und einem bis in die Hüfte ausstrahlenden Druck- und Stechgefühl in den Beinen und einem zeitweisen Krampfgefühl leide. Dieser Sachverständige beobachtete ua ein kurzschrittiges Gangbild ohne Stockhilfe, einen ataktisch ausgeführten Zehen- und Fersengang und eine Muskelverschmächtigung beider Oberschenkel, erklärte aber die Gangstörung für nicht chirurgisch bedingt.

Der Sachverständige für Neurologie verwies zunächst auf die 1984 festgestellte Polyneuropathie nach Alkoholmißbrauch, stellte fest, daß die Kraft in den unteren Extremitäten nur gering herabgesetzt sei, alle Reflexe fehlten, keine pathologischen Reflexe und keine Kleinhirnzeichen, aber ein feinschlägiger Fingertremor und ein etwas unsicherer Gang bestünden. In seinem schriftlichen Gutachten diagnostizierte er zur Zeit seiner Untersuchung am 9. September 1987 Zeichen einer leichten Polyneuropathie besonders im Bereich der Beine. Deshalb seien dem Kläger "leichte und mittelschwere Arbeiten jedoch nur im Sitzen, kurz im Stehen jedoch nicht im Gehen ohne größere Unterbrechungen zumutbar. Die Fingerbeweglichkeit sei außer für Feinarbeiten erhalten. Die Anmarschwege seien auf eine tägliche Gesamtstrecke von 3 bis 4 km eingeschränkt. Eine Besserung sei bei konsequenter Abstinenz möglich, jedoch nicht absehbar. Diese Einschätzung gelte auch für den Zeitpunkt der Antragstellung."

In der Tagsatzung vom 11. November 1987 ergänzte der neurologische Sachverständige auf Frage des Klagevertreters: "Der Kläger kann maximal 10 bis 20 Schritte gehen; dies kann er pro Stunde ein- bis zweimal, aber nicht öfter. Dies ist nur unter der Voraussetzung der gleichzeitigen Arbeitsleistung zu verstehen. Nur gehen kann er länger, das heißt aber er kann im Gehen keine Lasten tragen...." Auf Frage des Beklagtenvertreters ergänzte der genannte Sachverständige: "Dem Kläger sind (richtig ist) das Tragen von Lasten über ein bis zwei kg im Gehen nicht zumutbar. Bei der von mir genannten Gehstrecke von 10 bis 20 Schritten kann er auch ein bis zwei kg tragen, mehr nicht. Bei der Polyneuropathie, wie sie der Kläger zeigt, handelt es sich um ein Schwankungen unterworfenes Krankheitsbild, noch nicht um eine Dauerschädigung, so daß eine Besserung durchaus möglich aber nicht absehbar ist. Dies hängt von der Mitarbeit des Klägers ab. Die Alkoholabstinenz ist dem Kläger zu empfehlen. Aus medizinischen Gründen kann ein Zeitraum, der für die Besserung erforderlich ist, nicht genannt werden. Dies hängt von der bereits gegebenen Nervenschädigung ab. Bei optimaler Mitarbeit und Behandlung wäre eine wesentliche Besserung innerhalb einiger Monate möglich."

Das Erstgericht wies die Klage ab.

Es stellte die von den ärztlichen Sachverständigen diagnostizierten Leiden im einzelnen und die neurologischen Leiden dahin fest, daß die Kraft in den unteren Extremitäten nur gering herabgesetzt ist und der Kläger Zeichen einer leichten Polyneuropathie, besonders im Bereich der Beine zeigt. Wegen dieses auch für den Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Zustandes kann der (am 27. März 1940 geborene) Kläger leichte und mittelschwere Arbeiten, jedoch nur im Sitzen, kurz im Stehen, jedoch nicht im Gehen ohne größere Unterbrechungen leisten. Er kann ein- bis zweimal pro Stunde maximal 10 bis 20 Schritte gehen, wobei er Lasten von maximal zwei kg tragen kann. Die Fingerbeweglichkeit ist außer für Feinarbeiten erhalten. Eine Umstellung kommt iS einer Unterweisung für Hilfsarbeiten in Frage. Die Anmarschwege sind auf eine tägliche Gesamtgehstrecke von drei bis vier km eingeschränkt. Eine Besserung ist bei konsequenter Abstinenz möglich, jedoch nicht absehbar. Diese Leistungsfähigkeit reicht zB für näher beschriebene Hilfsarbeiten in der Büromittelerzeugung und Montierarbeiten in der Metallbranche aus, bei denen es sich um leichte Arbeiten im Sitzen handelt, die auf dem Arbeitsmarkt in ausreichender Anzahl vorkommen. Wegen dieser zumutbaren Verweisungstätigkeiten sei der als Hilfsarbeiter tätig gewesene Kläger nicht invalid iS des § 255 Abs 3 ASVG.

In der auf Aufhebung und Zurückverweisung gerichteten Berufung machte der Kläger als Verfahrensmangel geltend, daß das Erstgericht keinen Sachverständigen für Berufskunde beigezogen habe. Überdies sei das Kalkül des Sachverständigen für Neurologie hinsichtlich des Gehvermögens des Klägers nicht widerspruchsfrei; die diesbezüglichen Feststellungen des Erstgerichtes seien mangelhaft.

Das Berufungsgericht gab der Berufung nicht Folge.

Es verneinte die Notwendigkeit eines berufskundlichen Gutachtens und ergänzte die vom Erstgericht genannten Verweisungstätigkeiten um die des Portiers. Das Gutachten des Sachverständigen für Neurologie weise keinen Mangel iS des § 362 ZPO auf. Dieser Sachverständige habe hinzugefügt, daß der Kläger längere Strecken gehen, geringere Lasten bis zu zwei kg hingegen nur auf eine ganz kurze Strecke von 10 bis 20 Schritten tragen könne. Da die genannten Verweisungstätigkeiten im Sitzen zu verrichten seien, würden vom Kläger keine Transportleistungen verlangt. Die Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes sei nicht beeinträchtigt.

Dagegen richtet sich die Revision des Klägers wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit den Anträgen, das angefochtene Urteil im klagestattgebenden Sinn abzuändern oder es allenfalls aufzuheben. Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die nach § 46 Abs 4 ASGG ohne die Beschränkungen des Abs 2 dieser Gesetzesstelle zulässige Revision ist berechtigt. Die Nichteinholung eines orthopädischen Gutachtens und die behauptete Unvollständigkeit des internen Gutachtens betreffen in der Berufung nicht gerügte angebliche Mängel des Verfahrens erster Instanz und können schon deshalb keine Mängel des Berufungsverfahrens iS des § 503 Abs 1 Z 2 ZPO bilden. Die in der Berufung geltend gemachte Nichteinholung eines berufskundlichen Gutachtens wurde vom Berufungsgericht nicht als Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens gewertet und kann deshalb in der Revision nicht neuerlich gerügt werden (SSV-NF 1/32 uva). Hingegen wurde schon in der Berufung mit Recht gerügt, daß die dem Gutachten des Sachverständigen für Neurologie folgenden erstgerichtlichen Feststellungen wegen erheblicher Unklarheiten des zitierten Beweismittels so unvollständig sind, daß eine rechtlich richtige Beurteilung der Sache noch nicht möglich war (§ 503 Abs 1 Z 4 ZPO).

Der genannte Sachverständige und ihm folgend das Erstgericht setzten sich mit dem Widerspruch zwischen der Diagnose, nach der nur Zeichen einer leichten Polyneuropathie besonders im Bereich der Beine bestehen, die Kraft in den unteren Extremitäten nur gering herabgesetzt ist und nur ein etwas unsicherer Gang besteht und der durch diese Diagnose leicht erklärbaren, nicht sehr erheblichen Einschränkung der Anmarschwege auf eine tägliche Gehstrecke von drei bis vier km einerseits und der doch sehr erheblichen Einschränkung anderseits, daß die sitzende Arbeitshaltung nur durch kurzes (wie oft und wie lange?) Stehen und - bei gleichzeitigem Tragen von höchstens ein bis zwei kg - höchstens 10 bis 20 Schritte ein- bis zweimal pro Stunde, ohne Tragen von Lasten aber länger (wie oft und wie lange?) unterbrochen werden kann, nicht auseinander. Es erscheint nicht ohne weiteres erklärbar, daß die Gehleistung des Klägers bloß durch den Wegfall einer Last von höchstens 2 kg sprunghaft von höchstens 10 bis 20 Schritten ein- bis zweimal in der Stunde auf eine Anmarschleistung von 3 bis 4 km täglich ansteigt. Das bedeutet aber, daß die Einschränkung der Arbeitsfähigkeit des Klägers noch nicht verläßlich beurteilt werden kann. Da die Sache in erster Instanz leichter spruchreif gemacht werden kann, waren die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und war die Sozialrechtssache zur Verhandlung und Entscheidung an das Prozeßgericht erster Instanz zurückzuverweisen.

Sollte der Kläger aufgrund der Ergebnisse des ergänzten Verfahrens als invalid iS des § 255 Abs 3 ASVG gelten, wäre nach § 254 Abs 1 leg cit auch zu beurteilen, ob es sich um eine dauernde oder nur vorübergehende Invalidität handelt. Auch das könnte nach den bisherigen widersprüchlichen Aussagen des Sachverständigen für Neurologie und der erstgerichtlichen Feststellung, eine Besserung sei bei konsequenter Abstinenz möglich, jedoch nicht absehbar, noch nicht verläßlich beurteilt werden. Diesbezüglich wäre noch festzustellen, unter welchen Voraussetzungen sich die Arbeitsfähigkeit des Klägers bei zumutbarer Anstrengung wieweit bessern ließe (vgl 12. April 1988 10 Ob S 149/87 ZAS 1988, 19). Eine Entscheidung über den Ersatz der dem Kläger durch das Revisionsverfahren verursachten Kosten war nach § 52 Abs 1 ZPO noch nicht möglich.

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