OGH 10ObS260/88

OGH10ObS260/8825.10.1988

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Kellner als weitere Richter sowie durch die fachkundigen Laienrichter Mag. Robert Renner (Arbeitgeber) und Dipl.Ing. Herbert Ehrlich (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Salih Y***-Y***, Yildizali-Yavu Nahiyesi, TR-5800 Sivas, Türkei, vertreten durch Dr. Friedrich Fritsch, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei A*** U***, 1200 Wien, Adalbert

Stifter-Straße 65, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. Juni 1988, GZ 34 Rs 108/88-51, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 16. Februar 1987, GZ 2 Cgs 110/86-33, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Die Revision wird, soweit sie sich gegen die Kostenentscheidung im angefochtenen Urteil wendet, zurückgewiesen.

Im übrigen wird der Revision nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom 30. März 1976 anerkannte die beklagte Partei den Unfall des Klägers vom 23. Mai 1975 als Arbeitsunfall und setzte die vorläufige Unfallrente vom 26. Oktober 1975 bis 17. Dezember 1975 unter Zugrundelegung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 % und ab 18. Dezember 1975 von 20 % fest. Mit Bescheid vom 23. November 1976 wurde die vorläufige Rente von 20 % zum 31. Dezember 1976 entzogen. Die beklagte Partei stellte fest, daß wegen einer eingetretenen wesentlichen Besserung die Minderung der Erwerbsfähigkeit nur mehr 10 % betrage. Dieser Bescheid ist in Rechtskraft erwachsen.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 13. Jänner 1986 wies die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 10. Juni 1985 auf Wiedergewährung der Rente mit der Begründung ab, es liege keine wesentliche Änderung der Verhältnisse gemäß § 183 Abs. 1 ASVG vor. Das Erstgericht wies das Begehren des Klägers, die beklagte Partei schuldig zu erkennen, aus Anlaß des Arbeitsunfalles vom 23. Mai 1975 eine Versehrtenrente ab 1. Juli 1986 neuerlich zu gewähren, unter Zugrundelegung folgender Feststellungen ab:

Der Kläger erlitt bei dem Arbeitsunfall vom 23. Mai 1975 einen offenen Bruch der linken Elle mit Durchtrennung einzelner Fingersehnen und Quetschung des Speichen- und Ellennerves. Von letzterer liegt derzeit kein Restzustand vor. Der neurologische Befund ist normal, das psychische Bild bis auf Aggravationstendenz unauffällig. Eine unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit ist neurologischerseits allein derzeit nicht mehr feststellbar. Aus chirurgischer Sicht besteht beim Kläger ein Zustand nach offenem Speichenbruch links mit Verletzung der Fingerstrecksehnen zwei bis fünf und Luxationsbruch des Mittelgliedes des linken Zeigefingers. Derzeit ist der linke Zeigefinger in einer 90gradigen Beugestellung und kann aktiv nicht gestreckt werden. Die Funktionen der übrigen Hand und der Finger sind weitgehend normal. Dies entspricht einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 10 %. In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, der Kläger habe keinen Anspruch auf Versehrtenrente, weil die Minderung der Erwerbsfähigkeit das in § 203 Abs. 1 ASVG festgelegte rentenbegründende Ausmaß von 20 % nicht erreiche.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers keine Folge. Es verneinte das Vorliegen von Verfahrensmängeln und führte zur Rechtsrüge aus, der Einschätzungsvorschlag des chirurgischen Sachverständigen beruhe auf Erfahrungswerten und stehe mit der einschlägigen Fachliteratur in Übereinstimmung, die Berufung enthalte keine weiteren Argumente, die eine höhere Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit rechtfertigen könnten. In der Revision macht der Kläger Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und unrichtige rechtliche Beurteilung geltend, beantragt, das angefochtene Urteil im Sinne einer Klagestattgebung abzuändern und stellt hilfsweise einen Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag.

Rechtliche Beurteilung

Der Revision kommt keine Berechtigung zu.

Soweit der Revisionswerber bereits in der Berufung geltend gemachte Verfahrensmängel erster Instanz neuerlich rügt, ist er darauf zu verweisen, daß angebliche Mängel des Verfahrens erster Instanz, deren Vorliegen schon das Berufungsgericht verneint hat, mit Revision nicht mehr geltend gemacht werden können (JBl. 1988, 196). Fehlende Feststellungen aber sind mit der Rechtsrüge zu bekämpfen.

Wie der Oberste Gerichtshof in seiner grundsätzlichen Entscheidung zur Minderung der Erwerbsfähigkeit ausgeführt hat (SSV-NF 1/64), bildet die Grundlage für die Ermittlung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit regelmäßig ein ärztliches Gutachten über die Unfallfolgen und deren Auswirkungen. Dabei hat sich die Fragestellung an den ärztlichen Gutachter auch auf seine Meinung nach dem Umfang der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu erstrecken. Dem Gericht bleibt dann die Aufgabe, auf Grund des Befundes und der Beurteilung nachzuprüfen, ob diese Schätzung und dieses Ergebnis zutreffen können oder ob dabei wichtige Gesichtspunkte nicht berücksichtigt wurden und ein Abweichen von dieser Einschätzung daher richtig und begründet ist. Die in Jahrzehnten entwickelten und angewandten Richtlinien über die Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit bei Unfallverletzten, wie sie unter anderem in den Tabellen Krösl-Zrubecky enthalten sind, berücksichtigen nicht nur den Grad der Versehrtheit, sondern auch die Verhältnisse auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Sie müssen daher Grundlage und Ausgangspunkt der Schätzung sein. Die medizinische Einschätzung, die sich dieser Richtlinien bedient, berücksichtigt auf diese Weise auch die Auswirkungen einer Unfallverletzung auf die Einsatzmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Die ärztliche Einschätzung, die unter Berücksichtigung dieser Komponenten erfolgt, bildet aber nicht die alleinige Grundlage der gerichtlichen Entscheidung. Zu prüfen bleibt, ob im Hinblick auf die besondere Situation im Einzelfall die Ausbildung und die bisher ausgeübten Berufe des Unfallverletzten zur Vermeidung unbilliger Härten angemessen zu berücksichtigen sind. Die Entscheidung, ob ein derartiger Härtefall vorliegt, der ein Abweichen von der ärztlichen Einschätzung geboten erscheinen läßt und in welchem Umfang dem bei Festsetzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit Rechnung getragen werden muß, ist Gegenstand der rechtlichen Beurteilung. Daß beim Kläger ein solcher Härtefall gegeben wäre, wurde weder behauptet noch bieten das Verfahren und die Akten hiefür einen Anhaltspunkt. Es trifft auch nicht zu, daß die Vorinstanzen nicht von der Einschätzung des chirurgischen Sachverständigen ausgehen durften, weil diese nicht begründet sei und mit der Einschätzung des neurologischen Sachverständigen nicht übereinstimmte. Die Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit mit 10 % erfolgte vielmehr zugunsten des Klägers. Nach den Richtlinien von Krösl-Zrubecky ist, entgegen der Behauptung in der Revision, die Minderung der Erwerbsfähigkeit selbst bei einer Versteifung des Mittelgelenkes eines Fingers - beim Kläger findet sich nur eine 90gradige Beugestellung mit der Unmöglichkeit einer aktiven Streckung, während der Faustschluß möglich ist - lediglich für vier Monate mit 20 % (Gesamtvergütung) danach aber mit 0 % einzuschätzen (die in der Revision zitierte Abbildung 121). Wenn daher die Vorinstanzen bei der Beurteilung der Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht dem neurologischen Gutachten, sondern der für den Kläger günstigeren Einschätzung des chirurgischen Sachverständigen gefolgt sind, kann sich der Kläger dadurch nicht beschwert erachten. Da die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers jedenfalls das gemäß § 203 Abs. 1 ASVG erforderliche rentenfähige Ausmaß nicht erreicht, erübrigte es sich auch, im vorliegenden Fall Feststellungen darüber zu treffen, ob seit der Aberkennung der seinerzeit gewährten vorläufigen Rente eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne einer wesentlichen Verschlechterung (§ 183 Abs. 1 ASVG) eingetreten ist.

Auf die in der Revision enthaltenen Ausführungen zur Kostenentscheidung des Berufungsgerichtes, die inhaltlich einen Kostenrekurs darstellen, kann nicht eingegangen werden, weil nach § 528 Abs. 1 Z 2 ZPO Rekurse gegen Entscheidungen des Gerichtes zweiter Instanz über den Kostenpunkt unzulässig sind. Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Entscheidung über die Kosten der Revision beruht auf § 77 Abs. 1 Z 2 lit. b ASGG. Wird der zur Gänze unterlegene Versicherte von einem Verfahrenshelfer vertreten, steht ihm ein Kostenzuspruch nach Billigkeit nicht zu (SSV-NF 1/19).

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