OGH 7Ob34/88

OGH7Ob34/8822.9.1988

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Flick als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Warta, Dr.Egermann, Dr.Niederreiter und Dr.Redl als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Günther B***, Bregenz, Landstraße 20, vertreten durch Dr.Wolfgang Ölz, Rechtsanwalt in Dornbirn, wider die beklagte Partei W*** A***,

Versicherungs AG, Wien 13, Hietzinger Kai 101-105, vertreten durch Dr.Clement Achammer, Rechtsanwalt in Feldkirch, wegen 125.530 S s.A. infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes vom 15. April 1988, GZ 4 R 2/88-22, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Feldkirch vom 5.Oktober 1988, GZ 5 b Cg 33/87-16, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird dahin Folge gegeben, daß die Entscheidung des Erstgerichtes wiederhergestellt wird.

Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger die mit 10.999,45 S bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens (darin 999,95 S Umsatzsteuer) sowie die mit 3.773,60 S bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin 343,10 S Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger hat hinsichtlich des Kraftfahrzeuges mit dem polizeilichen Kennzeichen V 66.109 bei der Beklagten eine Kaskoversicherung abgeschlossen. Mit diesem Fahrzeug hatte er am 8. November 1986 im Gemeindegebiet von Wolfurt einen Unfall, bei dem das Fahrzeug beschädigt wurde. Er verlangt mit der vorliegenden Klage Deckung aus der Kaskoversicherung.

Die Beklagte wendet Leistungsfreiheit gemäß § 61 VersVG mit der Behauptung ein, der Kläger habe den Versicherungsfall grob fahrlässig verursacht.

Während das Erstgericht dem Klagebegehren stattgegeben hat, wurde dieses vom Berufungsgericht abgewiesen. Das Berufungsgericht hat ausgesprochen, daß der Wert des Streitgegenstandes 60.000 S, nicht aber 300.000 S übersteigt und hat die Revision für nicht zulässig erklärt.

Das Berufungsgericht ist von folgendem Sachverhalt ausgegangen:

Der Unfall ereignete sich um ca. 11.35 Uhr auf der Senderstraße in Wolfurt. Die Straße war damals trocken. Der Kläger war ausgeschlafen und hatte keinen Alkohol zu sich genommen. Ab ca. 200 m vor der späteren Endlage des klägerischen Fahrzeuges besteht in Fahrtrichtung des Klägers gesehen eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 80 km/h. Es kann nicht festgestellt werden, daß der Kläger diese Geschwindigkeit überschritten hat. Die Straße weist eine sehr langgezogene Linkskurve auf. Auf die Unfallstelle bestand in Fahrtrichtung des Klägers Sicht auf ca. 150 m.

Ca. 200 m vor der Unfallstelle bog der Kläger auf die Senderstraße ein und beschleunigte sein Fahrzeug auf ca. 50 bis 60 km/h wobei er einen Abstand von ca. 1 m zum rechten Fahrbahnrand einhielt. Während der Fahrt nahm der Kläger nunmehr wahr, daß von der Sonnenblende auf der Beifahrerseite eine kleine Rose zu Boden fiel. Er bückte sich nach dieser Rose, was zur Folge hatte, daß er die Fahrbahn nicht mehr im Blick behielt und die Kontrolle über das Fahrzeug verlor. Dadurch geriet der PKW in der Linkskurve über den rechten Fahrbahnrand hinaus und stürzte sich überschlagend über die Böschung.

Das Berufungsgericht beurteilte das festgestellte Verhalten des Klägers als grob fahrlässig.

Rechtliche Beurteilung

Die vom Kläger gegen die Entscheidung des Berufungsgerichtes erhobene Revision ist zulässig.

Eine in den Zulassungsbereich des § 502 Abs. 4 ZPO fallende Revision ist nach dessen Zif. 1 nur zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage des materiellen Rechtes oder des Verfahrensrechtes abhängt, der zur Wahrung der Rechtseinheit, Rechtssicherheit oder Rechtsentwicklung erhebliche Bedeutung zukommt, etwa weil das Berufungsgericht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes abweicht oder eine solche Rechtsprechung fehlt oder uneinheitlich ist.

Von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes ist das Berufungsgericht nicht abgewichen. Nach dieser einheitlichen Rechtsprechung liegt grobe Fahrlässigkeit vor, wenn sich das Verhalten des Schädigers aus der Menge der auch für den Sorgsamsten nie ganz vermeidbaren Fahrlässigkeitshandlungen des täglichen Lebens als eine auffallende Sorglosigkeit heraushebt (ZVR 1979/104, ZVR 1977/307 ua). Die grobe Fahrlässigkeit setzt ein Verhalten voraus, von dem der Versicherungsnehmer wußte, oder wissen mußte, daß es geeignet sei die Gefahr des Eintrittes eines Versicherungsfalles herbeizuführen oder zu vergrößern (ZVR 1978/282, ZVR 1977/177 ua).

Diese Grundsätze wurden vom Berufungsgericht ausdrücklich als Grundlage für seine Entscheidung angeführt.

Im allgemeinen handelt es sich bei der Beurteilung des Einzelfalles im Hinblick auf den Grad der Fahrlässigkeit um die Entscheidung eines Einzelfalles die für die Wahrung der Rechtseinheit, Rechtssicherheit oder Rechtsentwicklung ohne erhebliche Bedeutung ist. Nur wenn im konkreten Fall ein Sachverhalt vorliegt, der auch bei weitester Auslegung den für die Annahme grober Fahrlässigkeit erforderlichen Bedingungen nicht mehr entspricht, kann die Beurteilung des Einzelfalles in ihrer Bedeutung über diesen hinausgehen.

Nach Ansicht des erkennenden Senates hat das Berufungsgericht bei seiner Entscheidung die durch die Judikatur gezogenen Grenzen der groben Fahrlässigkeit überschritten, sodaß ausnahmsweise die Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Revision nach § 502 Abs. 4 Zif. 1 ZPO gegeben sind.

Die wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobene Revision ist auch gerechtfertigt.

Zutreffend verweist die Revision darauf, daß jene Entscheidung des Obersten Gerichtshofes (VersR 1981, 768), die im Bücken des Fahrers nach einer Zigarette eine grobe Fahrlässigkeit erblickte mit dem vorliegenden Fall nicht ohne weiters verglichen werden kann. Dort hatte sich der Fahrer nach einer herabfallenden Zigarette gebückt obwohl Hindernisse seine ganze Aufmerksamkeit erfordert hätten. Richtig erkennt der Kläger, daß es sich hiebei um die Häufung mehrerer Umstände gehandelt hat, wobei bereits die auslösende Handlung des Klägers ein klar erkennbares Risiko für die Sicherheit des Verkehrs begründete. Der Versicherungsnehmer hätte in diesem Fall den Zeitpunkt für das Ablegen einer Zigarette beliebig wählen können. Das Bücken nach der heruntergefallenen Zigarette war nicht jener Umstand, der für sich allein grobe Fahrlässigkeit begründete, sondern erfüllte diese Qualifikation nur im Zusammenhang mit dem vorangegangenen willkürlichen Verhalten des Lenkers, durch das für ihn unter der gegebenen Situation erkennbar eine erhöhte Gefahr geschaffen wurde.

Im vorliegenden Fall hat der Lenker keinerlei Handlungen gesetzt, die mit dem Entstehen einer besonderen Gefahrenquelle verbunden gewesen wären. Das Anstecken einer Rose über dem Beifahrersitz ist für den späteren Gefahreneintritt derart atypisch, daß es in diesem Zusammenhang außer Betracht bleiben kann. Ist aber einmal ein Gegenstand neben dem Fahrer herabgefallen, so stellt dessen Bücken eine Reflexbewegung dar, die sicherlich ein Verschulden an einem dadurch verursachten Unfall begründet, doch ist sie an sich eine Handlung, die sich nicht aus der Menge der auch für den Sorgsamsten nie ganz vermeidbaren Fahrlässigkeitshandlungen des täglichen Lebens heraushebt. Eine andere Beurteilung könnte gerechtfertigt sein, wenn es sich tatsächlich um eine sehr kurvenreiche Straße gehandelt hätte oder wenn der Lenker bereits vorher ein Verhalten an den Tag gelegt hätte, das für sich allein bereits als eine Gefahrenerhöhung angesehen werden mußte, wie etwa die Wahl einer überhöhten Geschwindigkeit. Derartiges wurde aber hier nicht festgestellt.

Im Ergebnis gelangt der erkennende Senat sohin zu der Rechtsansicht, daß sich das für den Unfall kausale Verhalten des Klägers zwar der Grenze der groben Fahrlässigkeit genähert, diese jedoch nicht überschritten hat.

Es war demnach die Entscheidung des Erstgerichtes wiederherzustellen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41 und 50 ZPO.

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