Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben.
Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Urteilsfällung an
das Prozeßgericht erster Instanz zurückverwiesen.
Die Berufungs- und Revisionsverfahrenskosten der Klägerin sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung
Mit Bescheid vom 13. August 1986 wies die beklagte Partei den Antrag der Klägerin vom 22. Mai 1986 auf Zuerkennung eines Hilflosenzuschusses (zur gleichzeitig beantragten und ab 1. Juni 1986 mit S 6.927,40 monatlich gebührenden Witwenpension) ab, weil sie nicht ständig der Wartung und Hilfe bedürfe. Die dagegen rechtzeitig erhobene Klage stützte sich darauf, daß die Klägerin die notwendigen Verrichtungen des täglichen Lebens nicht mehr allein verrichten könne und daß sie von ihrer Pension zuzüglich Mietbeihilfe nach Abzug der Miet- und Betriebskosten (für Gas, Strom udgl.) die Leistungen der ihr helfenden Personen und die Extrakosten nicht bezahlen könne.
Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage. Das Erstgericht gab dem erkennbar auf Gewährung eines Hilflosenzuschusses im gesetzlichen Ausmaß ab 1. Juni 1986 gerichteten Klagebegehren für die Zeit ab 1. November 1986 statt. Es stellte im wesentlichen fest, daß sich die am 6. November 1910 geborene Klägerin seit dem 1. November 1986 zwar allein an- und auskleiden, waschen und die Wohnung oberflächlich instandhalten, nicht aber einkaufen und kochen kann. Sie kann lediglich einfache Speisen zubereiten wie Würstel wärmen, Tiefkühlkost auftauen, harte Eier kochen etc. Deshalb sei sie seither hilflos im Sinne des § 74 GSVG.
Das Berufungsgericht gab der wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens, unrichtiger Tatsachenfeststellung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung der beklagten Partei nicht Folge.
Dagegen richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen Aktenwidrigkeit, Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache mit den Anträgen, das angefochtene Urteil durch gänzliche Abweisung der Klage abzuändern oder es allenfalls aufzuheben.
Die Klägerin beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die nach § 46 Abs. 4 ASGG ohne die Beschränkungen des Abs. 2 dieser Gesetzesstelle zulässige Revision ist berechtigt. Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senates (zB JBl. 1988, 64; ZAS Judikaturbeilage 1988 H 1, 3; ÖJZ NRsp 1988/7; ZAS 1988/5 mit Kommentar Tomandls; SSV-NF 1/46) liegt Hilflosigkeit im Sinne der Sozialversicherungsgesetze vor, wenn der Leistungsbezieher nicht in der Lage ist, auch nur einzelne dauernd wiederkehrende, lebensnotwendige Verrichtungen selbst auszuführen. Aus der Höhe und dem Zweck des Hilflosenzuschusses ergibt sich allerdings, daß ein Bedürfnis nach ständiger Wartung und Hilfe nur dann angenommen werden kann, wenn die für die notwendigen Dienstleistungen nach dem Lebenskreis des Leistungsbeziehers üblicherweise aufzuwendenden und daher nicht bis ins einzelne, sondern nur überschlagsmäßig (vlg. § 273 ZPO) festzustellenden Kosten im Monatsdurchschnitt mindestens so hoch sind wie der begehrte Zuschuß. Dieses von der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senates geforderte Abstellen auf die im Lebenskreis des Pensionisten bei realistischer Betrachtung anzunehmenden Kosten der erforderlichen Dienstleistungen soll eine ua aus § 74 GSVG abzuleitende Hilfe für die Feststellung jenes Maßes an Wartungs- und Hilfsbedürfnis darstellen, ab dem ein Pensionist derart hilflos ist, daß ihm ein wenigstens diese Kosten abdeckender Hilflosenzuschuß gebührt (so zB 28. Juni 1988 10 Ob S 171/88).
Bei der Frage, ob es sich um notwendige Dienstleistungen handelt, müssen die dem Hilfsbedürftigen tatsächlich zur Verfügung stehenden oder auch bei nicht hilflosen Beziehern vergleichbarer Einkommen im selben Lebenskreis üblichen Hilfsmittel berücksichtigt werden. Darunter sind aber nur sachliche Hilfsmittel zu verstehen, etwa Gegenstände, die eine allfällige körperliche Behinderung ausgleichen, Einrichtungsstücke und Haushaltsgeräte (so zB 6. September 1988 10 Ob S 156/88).
Wenn die Hilflosigkeit das im Gesetz umschriebene Maß erreicht, gebührt der Hilflosenzuschuß auch dann, wenn die Kosten der ständigen Wartung und Hilfe im konkreten Fall nur deshalb geringer sind als der Zuschuß, weil die Pflegepersonen für die Dienstleistungen nichts oder weniger als üblich verlangen, wie das zB bei nahen Angehörigen oder Sozialeinrichtungen häufig vorkommt. Daß älter oder behinderte Menschen, die nicht in der Lage sind, sich selbst eine Mahlzeit zuzubereiten, in manchen Gemeinden, etwa in Wien, täglich ein warmes Mittagessen zugestellt erhalten können ("Essen auf Rädern"), darf daher nicht dazu führen, die Kosten der Zubereitung einer warmen Mahlzeit bei der Schätzung der erforderlichen Dienstleistungskosten zu vernachlässigen. Bei Berücksichtigung dieser Grundsätze kann aufgrund der bisherigen Feststellungen noch nicht verläßlich beurteilt werden, ob die Klägerin deshalb, weil sie nicht allein kochen, keine Lebensmittel und dgl. einholen und die Wohnung nur oberflächlich instandhalten kann, hilflos iS des § 74 GSVG ist. Es wurden nämlich dem Revisionsgericht erheblich scheinende Tatsachen, nämlich die Höhe der für die lebensnotwendigen Dienstleistungen nach dem Lebenskreis der Klägerin im Monatsdurchschnitt üblicherweise aufzuwendenden Kosten, von den Tatsacheninstanzen weder erörtert noch festgestellt. Dazu wären auch eindeutigere Feststellungen darüber erforderlich, inwieweit die Klägerin bei der Zubereitung von Mahlzeiten - wobei aber bei einer Mahlzeit täglich das bloße Wärmen von Würstel, Kochen harter Eier etc. nicht ausreichen würde - behindert ist.
Der beklagten Partei ist in diesem Zusammenhang beizupflichten, daß die bisherigen Feststellungen widersprüchlich oder zumindest nicht eindeutig sind. Das Berufungsgericht hat nämlich die ergänzende Feststellung getroffen, daß es der Klägerin wegen des depressiven Zustandsbildes nicht möglich sei, den Entschluß zu fassen, sich etwas zu kochen. Dadurch sei auch die zeitliche Einschränkung des Kochens gegeben. Kann ein Pensionist aber den Entschluß, sich etwas zu kochen, nicht fassen, dann ist nicht ohne weiteres verständlich, warum er dann doch 10 bis 15 Minuten hindurch derartige Verrichtungen vornehmen kann. Ist er aber psychisch in der Lage, eine solche Zeitspanne für die Zubereitung von Mahlzeiten aufzuwenden, dann müßte begründet werden, warum er nach Ablauf dieser Zeit nicht mehr weiter kochen kann.
Nach dem gemäß § 513 ZPO auch im Revisionsverfahren sinngemäß anzuwendenden § 496 Abs. 1 Z 3 ZPO waren daher die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und war die Sozialrechtssache zur Verhandlung und Urteilsfällung an das Prozeßgericht erster Instanz zurückzuverweisen.
Der die Berufungs- und Revisionsverfahrenskosten der Klägerin betreffende Entscheidungsvorbehalt beruht auf § 52 Abs. 1 ZPO.
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