Spruch:
Das Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 26. Jänner 1988, GZ 6 d Vr 11572/87-33, verletzt das Gesetz in den Bestimmungen der §§ 21 Abs. 1, 38 Abs. 1 Z 1 StGB, 12 Abs. 1 und 16 Abs. 1 SGG sowie 260 Abs. 1 Z 2 und 4, 270 Abs. 2 Z 4 und 5 StPO in Verbindung mit §§ 429 Abs. 1, letzter Satz und 430 Abs. 2 StPO. Dieses Urteil wird aufgehoben und es wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht für Strafsachen Wien zurückverwiesen.
Text
Gründe:
Im Verfahren zu AZ 6 d Vr 11572/87 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien wurde dem am 15.Mai 1952 geborenen beschäftigungslosen Wolfgang P*** inhaltlich der Anklageschrift vom 8.Oktober 1987 (ON 19) zur Last gelegt, er habe in Wien 1./ vorsätzlich den bestehenden Vorschriften zuwider Suchtgift in einer großen Menge in Verkehr gesetzt, indem er in der Zeit von November/Dezember 1986 bis Mai 1987 ca. 5 Gramm Kokain an den abgesondert verfolgten Wolfgang S***, 4 Gramm Kokain an einen "Hannes" und eine noch festzustellende, ca. 25 Gramm betragende Kokainmenge an unbekannte Personen verkaufte, und
2./ in der Zeit von Juni 1986 bis Mai 1987 unberechtigt Suchtgifte, nämlich Cannabis und Kokain erworben und besessen und hiedurch das Verbrechen nach § 12 Abs. 1 SGG (Punkt 1/) und das Vergehen nach § 16 Abs. 1 SGG (Punkt 2/) begangen.
Nachdem der Verteidiger des Angeklagten in der Hauptverhandlung vom 14.Dezember 1987 unter anderem die Beiziehung eines psychiatrischen Sachverständigen zum Beweis für die Zurechnungsunfähigkeit des Angeklagten im Zeitpunkt der ihm angelasteten strafbaren Handlungen beantragt hatte (S 204 dA), wurde die Hauptverhandlung vertagt und Dr. Heinz P*** zum psychiatrischen Sachverständigen bestellt, dem anläßlich seiner Ladung zur vertagten Hauptverhandlung der Auftrag zur Erstattung eines schriftlichen Gutachtens erteilt wurde (S 206). Nach diesem schriftlichen Sachverständigengutachten (ON 29) bestand bei Wolfgang P*** im Untersuchungszeitpunkt keine Geisteskrankheit im engeren Sinn (S 225), sondern eine psychische Funktionsbeeinträchtigung im Rang einer schizophrenen Residualsymptomatik (S 227). Während der Zeiträume seiner stationären psychiatrischen Behandlung (Überstellung in das psychiatrische Krankenhaus der Stadt Wien wegen paranoider Schizophrenie am 26.Juni 1987, ON 12, Aufenthaltsende 7. August 1987, ON 14, neuerliche Einweisung am 20.August 1987, ON 17, Aufenthaltsende 4.November 1987, ON 23), sowie während nicht exakt eingrenzbarer Zeiten vor und nach diesen Aufenthalten hatte die psychische Funktionsbeeinträchtigung den Stellenwert einer akuten Psychose (vgl. S 331 und 333 - richtig: S 231 und 233), während sie im übrigen kein solches Ausmaß erreichte, daß es zu einer völligen Aufhebung der Kritikfähigkeit und Realitätserfassung gekommen wäre. Die Voraussetzungen des § 11 StGB waren nach den zusammenfassenden Ausführungen des Sachverständigen "nicht für alle Zeiträume" gegeben (S 333). Der Sachverständige empfahl (aus medizinischer Sicht) eine Unterbringung in einer Anstalt gemäß § 21 Abs. 2 StGB, weil "auch für die Zukunft eine ungünstige Prognose zu erstellen" sei (S 331 f).
Das schriftliche Sachverständigengutachten erfuhr durch seine mündliche Ergänzung im Rahmen der Hauptverhandlung vom 26. Jänner 1988 keine wesentliche Erweiterung oder Konkretisierung. Die Einweisungsempfehlung des Sachverständigen wurde ausschließlich mit der medizinischen Behandlungsbedürftigkeit des Angeklagten begründet. Ausführungen zur Gefährlichkeitsprognose unterblieben (S 340).
Vor der Schließung des Beweisverfahrens beantragte der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft "alternativ die Einweisung des Wolfgang P*** in eine Anstalt nach § 21 Abs. 1 StGB" (S 341). Die Verteidigerin, die auch gesetzlicher Vertreter (einstweiliger Sachwalter zur Besorgung dringender Angelegenheiten) des Wolfgang P*** ist (S 157; vgl. § 431 Abs. 1 letzter Satz StPO in Verbindung mit § 434 Abs. 3 StPO), sowie der Angeklagte selbst beantragten im Rahmen der Schlußvorträge die Einweisung in eine Anstalt nach § 21 Abs. 1 oder 2 StGB (S 341); damit wurde im Ergebnis der Vorschrift des § 434 Abs. 1 StPO Rechnung getragen, die Parteien über eine allenfalls in Betracht kommende Unterbringung nach § 21 Abs. 1 StGB zu hören.
Mit dem infolge beiderseitigen Rechtsmittelverzichtes sogleich rechtskräftigen Urteil vom 26.Jänner 1988 (ON 33) wurde ausgesprochen, daß Wolfgang P*** die in der Anklageschrift umschriebenen Taten, sohin (auch) eine Tat, die mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht ist, in einem die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustand begangen habe, der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruhte; es sei zu befürchten, daß er nach seiner Person, seinem Zustand und nach der Art der Tat unter dem Einfluß seiner geistigen oder seelischen Abartigkeit eine mit Strafe bedrohte Handlung mit schweren Folgen begehen werde. Gemäß § 38 Abs. 1 Z 1 StGB wurde ihm die erlittene Vorhaft vom 17.Mai 1987 bis zum 4.Juni 1987 "auf die Anhaltung angerechnet". In den Entscheidungsgründen wird zu den Taten selbst ausgeführt, Wolfgang P*** sei "des Tatsächlichen geständig", und das psychiatrische Sachverständigengutachten dahin interpretiert, daß für den Zeitpunkt der Tathandlungen angenommen werden müsse, daß die beim Betroffenen bestehenden psychischen Funktionsbeeinträchtigungen den Stellenwert einer akuten Psychose erreicht hatten, weshalb tiefgreifende Bewußtseinsstörungen oder diesen gleichwertige seelische Störungen vorgelegen zu sein schienen, die verhinderten, daß Wolfgang P*** das Unrecht seiner Tat einsehen oder nach dieser Einsicht handeln konnte. Da nach den Feststellungen des Sachverständigen für die Zukunft keine günstige Prognose zu erstellen sei und P*** - ohne schuldhaft gehandelt zu haben - Taten begangen habe, die mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht sind, seien die Voraussetzungen der Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher "gemäß dem § 21 Abs. 2 StGB" (ersichtlich gemeint: § 21 Abs. 1 StGB) gegeben.
Rechtliche Beurteilung
Das Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 26. Jänner 1988, GZ 6 d Vr 11.572/87-33, verletzt das Gesetz in den nachstehend jeweils angeführten Bestimmungen:
1./ Nach dem Inhalt der schriftlichen Urteilsausfertigung fehlen im Urteilsspruch die rechtliche Subsumtion der umschriebenen Straftaten (§§ 260 Abs. 1 Z 2, 270 Abs. 2 Z 4 StPO in Verbindung mit §§ 429 Abs. 1 letzter Satz, 430 Abs. 2 StPO) sowie der Einweisungsausspruch (§ 21 Abs. 1 StGB, §§ 260 Abs. 1 Z 4, 270 Abs. 2 Z 4 in Verbindung mit §§ 429 Abs. 1, letzter Satz, 430 Abs. 2 StPO);
2./ in den Entscheidungsgründen des Urteiles fehlen Feststellungen darüber, welche Mengen an Kokain - laut Anklageschrift sollen es ca. 25 Gramm sein - Wolfgang P*** an unbekannte Personen verkauft hat, und darüber hinaus alle Feststellungen zur subjektiven Tatseite, obgleich eine Anlaßtat im Sinne des § 21 Abs. 1 StGB voraussetzt, daß hinter ihr ein Wille des Täters steht, der ihm, hätte er mit dem Bewußtsein und der Einsicht eines geistig gesunden Menschen gehandelt, als Vorsatz zuzurechnen wäre (die Tat ist demnach im Fall des § 21 Abs. 1 StGB vom biologischen Schuldelement zu abstrahieren; entscheidend ist, ob die Anlaßtat als folgerichtige Verwirklichung eines auf Herbeiführung des strafgesetzwidrigen Erfolges im Sinn des Grunddeliktes gerichteten Willens erscheint, wobei es aber beim zurechnungsunfähigen Rechtsbrecher an einer schuldhaften Handlungsweise im Sinne des § 4 StGB mangelt - vgl. Mayerhofer-Rieder, StGB2, E 8 und 9 zu § 21). Da sich das in Rede stehende Urteil auf den Hinweis beschränkt, daß Wolfgang P*** "des Tatsächlichen geständig" gewesen sei, ist es (unter Verletzung der Bestimmung des § 270 Abs. 2 Z 5 StPO in Verbindung mit §§ 429 Abs. 1, letzter Satz, 430 Abs. 2 StPO) mit Feststellungsmängeln in bezug auf das Verbrechen nach § 12 Abs. 1 SGG und das Vergehen nach § 16 Abs. 1 SGG behaftet;
3./ in Ansehung der Gefährlichkeitsprognose wird die Einweisung - nach Wiedergabe des Gesetzeswortlautes im Urteilsspruch - in den Urteilsgründen lediglich darauf gestützt, daß "keine günstige Prognose zu erstellen" sei. An der gebotenen Spezifizierung sowohl des Grades der Wahrscheinlichkeit, daß der Betroffene künftig mit Strafe bedrohte Handlungen begehen werde, als auch der Schwere der angenommenen Folgen solcher Prognosetaten (§ 21 Abs. 1 StGB - vgl. Mayerhofer-Rieder, StGB2, § 21 Anm. 5 bis 7 sowie Anm. zu E 12 a und E 13) fehlt es hingegen;
4./ schließlich entspricht auch die Vorhaftanrechnung "auf die Anhaltung" gemäß § 38 Abs. 1 Z 1 StGB nicht dem Gesetz, weil die genannte Gesetzesstelle eine Vorhaftanrechnung nur auf Freiheits- und Geldstrafen vorsieht und folglich ein - hier nicht vorliegendes - Strafurteil voraussetzt (vgl. Foregger-Serini, StPO3, Anm. III zu § 434). Dementsprechend ist im übrigen auch eine vorläufige Anhaltung (gemäß § 429 Abs. 6 StPO) nur im Falle eines Strafurteiles auf Freiheits- und Geldstrafen anzurechnen. Mit Ausnahme der letztgenannten wirkten sich die dargelegten Gesetzesverletzungen zum Nachteil des Betroffenen aus. Auf Grund der von der Generalprokuratur gemäß § 33 Abs. 2 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes war daher spruchgemäß zu erkennen.
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