OGH 14Os76/88

OGH14Os76/886.7.1988

Der Oberste Gerichtshof hat am 6.Juli 1988 durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Hon.Prof. Dr. Steininger als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Horak, Dr. Lachner, Hon.Prof. Dr. Brustbauer und Dr. Massauer als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Dr. Hanglberger als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Erwin M*** wegen des Vergehens der fahrlässigen Tötung nach § 80 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 24.März 1988, GZ 5 d Vr 14.560/86-55, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Raunig, des Angeklagten und des Verteidigers Dr. Schriefel zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Nichtigkeitsbeschwerde wird Folge gegeben, das angefochtene Urteil aufgehoben und gemäß § 288 Abs 2 Z 3 StPO in der Sache selbst erkannt;

Erwin M*** wird von der gegen ihn erhobenen Anklage, er habe am 19.Dezember 1986 in Wien Siegfried N*** dadurch, daß er ihm durch mehrere Schläge mit einem abgebrochenen Bierglas eine etwa vier Zentimeter tiefe Stichverletzung, die zur Eröffnung der Drosselblutader und der Halsschlagader führte, sowie zwei weitere Schnittwunden an der Halsseite, zufügte, vorsätzlich am Körper verletzt, wobei die Tat den Tod des Geschädigten zur Folge hatte, gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen.

Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

Mit dem oben näher bezeichneten Urteil wurde der nunmehr 48jährige Erwin M*** in Erledigung der gegen ihn wegen des Verbrechens der Körperverletzung mit tödlichem Ausgang nach §§ 83 Abs 1, 86 StGB erhobenen Anklage des Vergehens des - durch Notwehrüberschreitung aus Furcht begangenen - Vergehens der fahrlässigen Tötung nach § 80 StGB schuldig erkannt. Den wesentlichen Urteilsfeststellungen zufolge wurde der Angeklagte am 19.Dezember 1986 (im Urteilsspruch unrichtig: 19. Februar 1986) in einem Wiener Gastlokal von Siegfried N*** nach einer vorangegangenen wörtlichen Auseinandersetzung tätlich angegriffen und hiebei durch einen Kopfstoß, der einen Nasenbeinbruch (mit Verschiebung der Bruchstücke) bewirkte, erheblich verletzt. Als sich N*** in der Folge neuerlich auf den Angeklagten stürzte, brachte ihm dieser - von großer Angst erfaßt, ja in Panik geraten - mit einem Trinkglas eine Schnittverletzung am Hals bei, welche die Eröffnung sowohl der Drosselblutader als auch der Halsschlagader zur Folge hatte und durch eine Luftembolie den Tod des Angreifers herbeiführte. Ob das Glas schon zerbrochen und dadurch mit messerscharfen Rändern versehen war (als der Angeklagte es von der Theke nahm), oder erst im weiteren Zug der Auseinandersetzung zu Bruch kam, konnte nicht mit Sicherheit festgestellt werden.

Das Schöffengericht billigte dem Angeklagten zu, sich in einer Notwehrsituation befunden zu haben, weil er nach bereits zuvor erlittener beträchtlicher Verletzung sowie in ungünstiger räumlicher Position hinter der Theke des Lokals neuerlich heftigen Angriffen seines aggressiven Gegners ausgesetzt war. Es erachtete bei dieser Sachlage auch das gewählte Verteidigungsmittel als an sich angemessen; jedoch hielt es auf Grund des Umstandes, daß sich der Angeklagte gegen den mit bloßen Händen geführten neuerlichen Angriff des N*** durch eine Schlagführung gegen den Halsbereich seines Widersachers und damit in lebensbedrohender Weise zur Wehr setzte, die Grenzen nötiger Verteidigung in objektiver und subjektiver Hinsicht für überschritten.

Rechtliche Beurteilung

Die vom Angeklagten dagegen aus den Z 4, 5 a, 9 lit a und 9 lit b des § 281 Abs 1 StPO erhobene Nichtigkeitsbeschwerde ist schon insoweit begründet, als sie sich mit dem zuletzt angeführten Nichtigkeitsgrund gegen die rechtliche Annahme des Erstgerichtes wendet, der Angeklagte habe das Maß der zulässigen Verteidigung überschritten.

Notwendig im Sinne des § 3 Abs 1 StGB ist eine Verteidigungshandlung, die - zwar aus der Situation des Angeklagten ("ex ante") gesehen (ÖJZ-LSK 1983/18 zu § 3 StGB), jedoch unter Zugrundelegung objektiver Beurteilungskriterien - zur verläßlichen Abwehr des Angriffes erforderlich war. Solcherart bildet die Notwendigkeit der Abwehr auch die obere Grenze der von Rechts wegen zulässigen Gegenwehr, deren Maß sich regelmäßig nach Art und Intensität des abzuwehrenden Angriffes, und der Gefährlichkeit des Angreifers sowie den zur Abwehr zur Verfügung stehenden Mitteln bestimmt (ÖJZ-LSK 1978/261 und 1981/66, beide zu § 3 StGB; EvBl 1983/134; Steininger ÖJZ 1980, 230 und Burgstaller ebd 241). Von diesen Grundsätzen ausgehend kann bei der gegebenen Sachlage im inkriminierten Verhalten des Angeklagten eine das Maß verläßlicher Abwehr überschreitende Reaktion nicht erblickt werden. Sah sich doch der bereits schwer verletzte Angeklagte in einer festgestelltermaßen ausweglosen Situation weiteren tätlichen Angriffshandlungen eines hartnäckigen Widersachers ausgesetzt, über dessen Gefährlichkeit er mit dem Beifügen informiert worden war, daß N*** "immer etwas eingesteckt" habe (US 8). Wenn er, in Angst, ja in Panik, geraten (US 6), unter diesen Umständen, die eine Fortsetzung der Attacke und damit eine weitere nicht unerhebliche Beeinträchtigung seiner körperlichen Unversehrtheit befürchten ließen - obwohl Rechtshänder - mit seiner linken Hand (US 14) ein auf der Theke befindliches (im Zweifel noch unzerbrochenes) Trinkglas ergriff und damit "in Richtung N***'S Halsbereich fuhr" (US 5), kann darin - der Ansicht des Erstgerichtes zuwider - eine Überschreitung der Grenzen notwendiger Verteidigung nicht erblickt werden.

Wenn das Schöffengericht in diesem Zusammenhang vermeint, "ein Stechen bzw Kratzen in eine minder gefährliche Körperregion wäre noch angemessen gewesen", ist dem zu erwidern, daß unzureichende Abwehrhandlungen erfahrungsgemäß häufig dazu führen, die Angriffslust gewalttätiger Personen noch zu steigern und damit die für den Angegriffenen gegebene Gefahrenlage zu verschärfen, weshalb schon von einem objektiven Standpunkt her gesehen die Forderung, ein an sich zulässiges Abwehrmittel müsse unter detaillierter Berücksichtigung aller denkbaren Folgen für den Angreifer graduell abgestuft eingesetzt werden, der erforderlichen Lebensnähe entbehrt (vgl hiezu SSt 43/50, ÖJZ-LSK 1981/66 zu § 3 StGB sowie EvBl 1983/134, 1986/42 und 1987/158), ganz abgesehen davon, daß das Fordern einer derart "dosierten" Abwehrhandlung bei den gegebenen Umständen - der bereits schwer verletzte und in Panik geratene Angeklagte hatte sich in Sekundenschnelle zu entscheiden - die Grenzen der Zumutbarkeit ersichtlich überschreitet. Da sonach der Angeklagte im gegebenen Fall die Grenzen angemessener Verteidigung nicht überschritt, ihm also auch fahrlässiger Notwehrexzeß nicht anzulasten ist, war er in Stattgebung seiner Nichtigkeitsbeschwerde freizusprechen und mit seiner Berufung auf diese Entscheidung zu verweisen.

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