OGH 10ObS124/88

OGH10ObS124/8828.6.1988

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Kellner sowie durch die fachkundigen Laienrichter Dr. Alfred Hoppi (Arbeitgeber) und Dr. Karlheinz Kux (Arbeitgeber) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Karl H***, 4451 Garsten, Mühlbachstraße 7, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wider die beklagte Partei S*** DER B***,

1031 Wien, Ghegastraße 1, vertreten durch Dr. Herbert Macher, Rechtsanwalt in Wien, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 4. Feber 1988, GZ 12 Rs 2/88-16, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Kreisgerichtes Steyr als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 7. September 1987, GZ 13 Cgs 1055/87-13 abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom 11. März 1987 gewährte die beklagte Partei dem Kläger für die Folgen des Arbeitsunfalles vom 9. August 1986 für die Zeit vom 9. Oktober 1986 bis 12. Februar 1987 eine vorläufige Versehrtenrente von 45 % der Vollrente und ab 13. Februar 1987 eine solche von 35 %.

Der Kläger begehrt die Zuerkennung einer Versehrtenrente von 50 % der Vollrente samt Zusatzrente.

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger ab 9. Oktober 1986 eine 50 %ige Versehrtenrente samt Zusatzrente im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren. Es traf folgende wesentliche Feststellungen:

Der am 5. Dezember 1922 geborene Kläger geriet im Zuge landwirtschaftlicher Tätigkeiten am 9. August 1986 mit der rechten Hand in die Trommel einer Dreschmaschine, wodurch er sich an dieser Hand offene Brüche des dritten, vierten und fünften Mittelhandknochens sowie Bruch des Grundgliedes des Mittelfingers, weiters eine Durchtrennung der Strecksehne des Mittelfingers sowie einen großen Hautdefekt über dem Handrücken zuzog. Die Brüche und Strecksehnendurchtrennung sind zum Zeitpunkt der Untersuchung im Februar 1987 als geheilt anzusehen. Als Folge der Verletzungen findet sich streckulnarseitig im proximalen Anteil des Handgelenkes, im distalen Anteil in die 4. Zwischenfingerfalte bzw. an die Basis des Ringfingers ziehend eine mit Einzelknopfnähten versorgte, insgesamt etwa 13 cm lange Narbe. Der Handrücken ist verdickt ebenso Mittel-, Ring- und Kleinfinger. Der Zeigefinger ist etwas verschmächtigt. Der Daumen ist unauffällig, in seiner Beweglichkeit aber um etwa ein Drittel eingeschränkt. Die Langfinger sind praktisch völlig eingesteift dh mit diesen Fingern sind nur Wackelbewegungen möglich. Der Spitzgriff wird zwischen Daumenendglied und Zeigefingermittelphalanx durchgeführt und ist völlig kraftlos, ein Grobgriff überhaupt nicht möglich. Der Kläger ist Rechtshänder. Er kannm mit dieser Hand bei unbehinderter Armbeweglichkeit nur mehr sehr wenige Tätigkeiten ausführen, nämlich Gegenstände von geringem Gewicht halten, die er zwischen Daumen und Zeigefinger einklemmen kann. Dieser Zustand ist sowohl für die Zeit vor dem 12. Februar 1987 als auch danach anzunehmen, wenn auch eine gewisse Besserung durch Zunahme der Beweglichkeit möglich erscheint, was aber derzeit noch nicht absehbar ist.

Die Verletzungen des Klägers seien ihrem Erscheinungsbild nach mit jenem gleichzusetzen, die dem einer vollständigen Amputation aller vier Langfinger mit Resektion des zweiten Mittelhandknochens entspreche. Nach den Richtlinien von Krösl-Zrubecky entspreche dies einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 45 %. Es könne hier aber nicht übersehen werden, daß der Kläger als Rechsthänder zumindest derzeit durch die Behinderung der rechten Hand doch stärker beeinträchtigt sei, als dies bei einer Verletzung der linken Hand der Fall wäre. Dem Kläger sei eine Umstellung auf Grund seines schon höheren Alters nicht mehr so leicht möglich. Seit dem Unfall sei erst eine relativ kurze Zeit vergangen. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit sei daher mit 50 % anzunehmen, könne sich aber in Zukunft durch Zunahme der Beweglichkeit und Gewöhnung an die Behinderung der Gebrauchshand reduzieren.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei teilweise Folge und änderte das Ersturteil ab. Es erkannte die beklagte Partei schuldig, der klagenden Partei ab 9. Oktober 1986 eine 50 %ige vorläufige Versehrtenrente samt Zusatzrente zu zahlen und wies das Mehrbegehren auf Zahlung einer 50 %igen Dauerrente ab. Die in Krösl-Zrubecky-"Unfallrente" angenommene Gleichstellung der Gebrauchshand mit der Hilfshand werde nicht allgemein geteilt, weil sie Alter, körperliche Konstitution, individuelle Fähigkeiten und Geschicklichkeit sowie die innere Einstellung des Betroffenen nicht berücksichtige. Gerade auf diese Umstände aber habe das Erstgericht hingewiesen, es sei ihm bei der Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit mit 50 % daher kein Rechtsirrtum unterlaufen. Weil aber eine gewisse Besserung möglich erscheine und seit dem Eintritt des Versicherungsfalles zwei Jahre noch nicht verstrichen seien, lägen nur die Voraussetzungen für den Zuspruch einer vorläufigen Rente (§ 209 Abs. 1 ASVG) vor.

In ihrer wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Revision begehrt die beklagte Partei, dem Kläger eine vorläufige Versehrtenrente von nur 45 % zuzuerkennen und das Mehrbegehren abzuweisen.

Rechtliche Beurteilung

Der Revision kommt keine Berechtigung zu.

Richtig ist, daß der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit grundsätzlich abstrakt durch Gegenüberstellung der Durchschnittsverdienste in den Arbeitsmöglichkeiten, die dem Versicherten bis zum Eintritt des Versicherungsfalles offenstanden, mit den Durchschnittsverdiensten in den ihm im Hinblick auf die Unfallfolgen verbleibenden Arbeitsmöglichkeiten und der daraus ermittelten Veränderungen zu prüfen ist und Grundlage für die Ermittlung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit dabei regelmäßig ein ärztliches Gutachten über die Unfallfolgen und deren Auswirkungen bildet. Dabei hat sich die Fragestellung an den ärztlichen Gutachter auch über seine Meinung nach dem Umfang der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu erstrecken. Dem Gericht bleibt dann die Aufgabe, auf Grund des Befundes, der Beurteilung und der Antworten auf die an den Sachverständigen gestellten Fragen nachzuprüfen, ob die Schätzung und dieses Ergebnis zutreffen können oder ob dabei wichtige Gesichtspunkte nicht berücksichtigt wurden und ein Abweichen von der ärztlichen Schätzung daher richtig und begründet ist (SSV-NF 1/64). Dabei kommt den in Jahrzehnten entwickelten und angewendeten Richtlinien über die Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit bei Unfallverletzten als maßgebliche Grundlage große Bedeutung zu, eine im Einzelfall begründete davon abweichende Einschätzung ist aber Gegenstand der rechtlichen Beurteilung.

Zutreffend hat das Berufungsgericht darauf verwiesen, daß die Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit ohne Berücksichtigung eines Unterschiedes zwischen dem Verlust oder der schweren Beschädigung der Haupt- oder Gebrauchshand und jenem der Hilfshand in der Literatur keineswegs allgemein und unumstritten ist. Schönberger-Mehrtens-Valentin-Arbeitsunfall und Berufskrankheit3 führen mit Nachweisen sogar aus (S 459), daß überwiegend die grundsätzliche Gleichstellung von Haupt- und Hilfshand abgelehnt werde. Jedenfalls aber begründen die Vertreter einer grundsätzlichen Gleichstellung ihre Ansicht damit, daß die erhöhte Geschicklichkeit der Gebrauchshand gegenüber der Hilfshand bei einem Verlust oder schwerer Verletzung der Gebrauchshand fast ausnahmslos durch Training oder Anpassung weitgehend auf die ursprüngliche Hilfshand transportiert werden kann, ein Anpassungsprozeß - der bei älteren Menschen in der Regel wohl längere Zeit in Anspruch nehmen wird als bei jüngeren - somit jedenfalls erforderlich ist. Wenn daher das Berufungsgericht bei der Bemessung der vorläufigen Rente den Anpassungsprozeß und das Alter des Klägers mitberücksichtigt und die Minderung der Erwerbsfähigkeit um 5 % höher einschätzte als das auf den Richtlinien von Krösl-Zrubecky basierende Sachverständigengutachten, welches die Tatsache, daß der Kläger Rechtshänder ist, nicht berücksichtigt !ON 11 Zeile 41 , so kann darin kein Rechtsirrtum erblickt werden. Schönberger-Mehrtens-Valentin (aaO 458) weisen sogar darauf hin, daß in der Bundesrepublik Deutschland die vorläufige Rente bei Verlust oder Verletzung der Haupthand regelmäßig um je 10 % höher eingeschätzt werde.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

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