OGH 6Ob584/88

OGH6Ob584/8816.6.1988

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Samsegger als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Schobel, Dr.Melber, Dr.Schlosser und Dr.Redl als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Jojin L***, Maurer, St. Pölten, Julius RaabPromenade 2/2, vertreten durch Dr.Eduard Pranz, Dr.Oswin Lukesch, Dr.Anton Hintermeier, Rechtsanwälte in St. Pölten, wider die beklagte Partei Gunther S***, Dentist, Prinzersdorf, Roseggerstraße 21, vertreten durch Dr.Stefan Gloß und Dr.Hans Pucher, Rechtsanwälte in St. Pölten, wegen 55.000 S samt Nebenforderungen und Feststellung (Teilstreitwert 10.000 S), infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes vom 26.Mai 1987, GZ 12 R 79/87-27, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes St. Pölten vom 27.August 1986, GZ 6 Cg 297/85-18, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird stattgegeben. Das angefochtene Urteil wird im Sinne einer Wiederherstellung des Urteiles erster Instanz (einschließlich der Kostenentscheidung) abgeändert. Der Beklagte ist schuldig, dem Kläger die mit 10.000,10 S bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens (darin enthalten an Umsatzsteuer 909,10 S) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Beklagte ist Dentist. Um seine Ordinationsräume zu erreichen, muß man eine nicht überdeckte Außentreppe mit sechs Kunststeinstufen im Ausmaß von 30 x 140 cm begehen. An beiden Seiten dieser Treppe befindet sich 90 cm über der Stufenhöhe ein plastikbeschichteter Handlauf auf schmiedeeisenen Trägern. Am 10.Februar 1985 versah der Beklagte Sonntagsdienst. Es war ein stark bewölkter bis bedeckter Wintertag mit Lufttemperaturen um - 6 C. Mit Unterbrechungen trat ganztägig leichter Schneefall auf, insgesamt fielen ca. 2 cm Neuschnee. An naturbelassenen Verkehrsflächen trat verbreitet Schnee- und Eisglätte auf. Das Erstgericht nahm nicht als erwiesen an, daß die Ehefrau des Beklagten am 10.Februar 1985 ihrer Gewohnheit gemäß die zu den Ordinationsräumlichkeiten führende Außentreppe in halbstündigen oder einstündigen Abständen vom Schnee abkehrte und anschließend mit Brennspiritus behandelte.

Die Ehefrau des Klägers wurde am 10.Februar 1985 nachmittags von starkem Zahnschmerz befallen. Der Kläger führte sie auf ihr Ersuchen in seinem PKW zur Ordination des Beklagten, traf dort gegen 15 Uhr 30 ein und parkte sein Kraftfahrzeug unmittelbar vor der Ordination des Beklagten. Während der etwa 10 km langen Fahrt vom Wohnhaus des Klägers zur Ordination des Beklagten hatte es nicht geschneit.

Die Stufen der zu den Ordinationsräumlichkeiten des Beklagten führenden Außentreppe waren, als sie der Kläger und seine Ehefrau betraten, durch die vorangegangenen Schneefälle des Tages einige Zentimeter hoch mit frisch gefallenem Schnee bedeckt. Der Kläger trug schwere Pelzstiefel mit gerillter Gummisohle. Beim Hinansteigen der Treppe auf dem Weg zu den Ordinationsräumen fiel weder ihm noch seiner Ehefrau eine besondere Glätte der Stufen auf.

Der Kläger und seine Ehefrau gelangten durch das leere Wartezimmer in den anschließenden Ordinationsraum. Dort behandelte der Beklagte die Ehefrau des Klägers. Dies nahm eine Zeit von etwa 10 bis 12 Minuten in Anspruch.

Der Kläger und seine Ehefrau sind Ausländer, die Ehefrau des Klägers beherrschte die deutsche Sprache nur mangelhaft. Sie war nicht in der Lage, dem Beklagten ihren Vor- und Zunamen zu buchstabieren. Zum Nachweis der Namensschreibweise seiner Patientin ließ sich der Beklagte vom Kläger dessen Führerschein vorweisen. Diesen holte der Kläger aus der im Wartezimmer abgelegten Jacke (also ohne über die Außentreppe zu seinem geparkten Fahrzeug gehen zu müssen).

Kurz vor 16 Uhr verließ der Kläger mit seiner Ehefrau die Ordinationsräume des Beklagten. Auf dem Weg über die Außentreppe ging der Kläger zur Linken seiner Frau. Er faßte mit der linken Hand den Handlauf, setzte den linken Fuß auf die oberste Stufe und als er im Begriff war, auf die nächste Stufe hinunterzusteigen, geriet er auf einer mit Neuschnee bedeckten Schichte zusammengetretenen beziehungsweise vereisten Schnees ins Rutschen, konnte sich auch am vereisten Handlauf nicht mehr abfangen, vollzog mit den Oberkörper eine Drehung nach links und rutschte die restlichen Stufen hinunter. Dabei erlitt der Kläger Serienrippenbrüche der linken

7. bis 9. Rippe. Er wurde von einem Rot-Kreuz-Wagen in ein Krankenhaus gefahren und dort in der Unfallsabteilung in stationäre Pflege aufgenommen. Er klagte über starke Schmerzen im Bereich des linken Brustkorbes; die linke Brustkorbseite war geringfügig geschwollen und sehr stark druckempfindlich. Der Brustkorb wurde mittels Rippengürtels ruhiggestellt. Nach komplikationslosem Verlauf wurde der Kläger am 16.Februar 1985 mit einem Rippengürtel in häusliche Pflege und ambulante Nachbehandlung entlassen. Die Abschlußuntersuchung erfolgte am 13.März 1985. Für den folgenden Tag wurde der Kläger als arbeitsfähig erklärt.

Die Verletzung gilt medizinisch als endgültig ausgeheilt. Das Auftreten derzeit nicht erkennbarer Spätfolgen ist zwar äußerst unwahrscheinlich, aber nicht mit absoluter Sicherheit auszuschließen.

Bis zur Ausheilung erduldete der Kläger Schmerzen die jeweils zusammengerafft andauernden starken Schmerzen von etwa 6 Tagen, andauernden mittleren Schmerzen von rund 12 Tagen und andauernden leichten Schmerzen von ungefähr 35 Tagen entsprachen. Der Kläger begehrte ein Schmerzengeld in der nach Erstattung des Sachverständigengutachtens ausgedehnten Höhe von 55.000 S sowie die Feststellung der Haftung des Beklagten für alle künftigen Schäden aus dem Unfall vom 10.Februar 1986.

Der Beklagte bestritt das Schmerzengeldbegehren dem Grunde und der Höhe nach. Er leugnete eine mangelhafte Säuberung der Außentreppe, behauptete eine eigene Unachtsamkeit des Klägers, der Sommerschuhe getragen habe, als Sturzursache und bestritt jede Haftung gegenüber dem Kläger, der nicht als Patient, sondern lediglich als Begleitperson einer Patientin die Ordination aufgesucht habe, ohne daß für eine solche Begleitung eine Veranlassung bestanden hätte.

Das Erstgericht gab sowohl dem Zahlungs- als auch dem Feststellungsbegehren statt.

Es folgerte zum Grund des Anspruches: Der Beklagte habe den festgestellten mangelhaften Zustand der zu seinen Ordinationsräumen führenden Außentreppe im Rahmen des mit seiner Patientin zustandegekommenen Behandlungsvertrages auch gegenüber dem die Patientin begleitenden Ehemann zu verantworten, zumal dieser seine Ehefrau nach seinen heimatlichen Sittenvorstellungen nicht mit einem fremden Mann in einem Raum allein lassen habe wollen und der Beklagte sich selbst seiner bei der Feststellung der Namensschreibweise seiner Patientin bedient habe. Das Feststellungsinteresse in Ansehung der Haftung des Beklagten für etwa in Zukunft auftretende Unfallschäden müsse anerkannt werden. Die Höhe des Schmerzengeldes befand das Erstgericht nach Ausmaß und Intensität der Schmerzen als angemessen.

Das Berufungsgericht änderte das klagsstattgebende Urteil erster Instanz im klagsabweisenden Sinne ab. Dazu sprach es aus, daß der Wert des Streitgegenstandes 300.000 S nicht übersteigt. Es sprach weiter aus, daß die Revisionszulässigkeitsvoraussetzung nach § 502 Abs 4 Z 1 ZPO vorliege.

Der Kläger ficht das abändernde Berufungsurteil aus dem Revisionsgrund nach § 503 Abs 2 ZPO wegen qualifiziert unrichtiger Lösung materiellrechtlicher Fragen mit einem auf Wiederherstellung des klagsstattgebenden Urteiles erster Instanz gerichteten Abänderungsantrag an.

Der Beklagte strebt die Bestätigung der angefochtenen Entscheidung an.

Rechtliche Beurteilung

Die Revisionszulässigkeitsvoraussetzung nach § 502 Abs 4 Z 1 ZPO ist zu bejahen, weil die Entscheidung des Rechtsstreites von der Lösung der materiellrechtlichen Frage abhängt, welches Sachverhaltselement bei der Begleitung - in Sonderheit durch eine zur ehelichen oder familienrechtlichen Beistandspflicht verbundene Person des eine Arztordination aufsuchenden Patienten als verallgemeinerungswürdiges Kriterium für die Einbeziehung der Begleitperson in die aus dem Behandlungsvertrag geschuldeten Schutz- und Sorgfaltspflichten des Arztes aufgestellt werden kann.

Die Revision ist auch gerechtfertigt.

Wer seinen Ehepartner, der wegen eines akuten Zahnschmerzes einen - Sonntagsdienst versehenden Dentisten oder - Facharzt in dessen Ordination aufsucht, bis in die Ordinationsräumlichkeiten begleitet, steht der vom Patienten gesuchten Leistung, schon wegen der Möglichkeit eines vorzunehmenden Eingriffes und dessen Folgen für den Patienten, derart nahe, daß der Behandler nach dem Behandlungsvertrag auch ihm als Begleiter des Patienten zur Beobachtung zumutbarer Vorsichtsmaßnahmen verpflichtet ist, um ihn in den Ordinationsräumen und den dazugehörigen Anlagen vor Körperschaden zu bewahren.

Das Interesse des Patienten daran, daß die für ihn tätig werdende Begleitperson bei ihrer persönlichen Hilfeleistung nicht körperlich zu Schaden komme, ist bei objektiver Betrachtungsweise auch für den Behandler offenkundig. Läßt er eine Begleitung seiner Patienten mangels ausdrücklicher gegenteiliger Erklärung zu, hat er auch im Rahmen der in der Rechtsprechung und Lehre allgemein und im Grundsatz auch vom Rechtsmittelwerber anerkannten Lehre über die vertraglichen Schutz- und Sorgfaltspflichten gegenüber Dritten (vgl. zuletzt SZ 58/4 = EvBl 1986/110; JBl 1987, 250 uva) für deren Beachtung gegenüber Begleitpersonen seiner Patienten einzustehen. Diese Wertung gerät mit der in der Entscheidung SZ 58/4 dargelegten Auffassung insofern nicht in Widerspruch, als sie einen Fall betrifft, der nach der erwähnten Entscheidung zu den dort genannten "Ausnahmen" zu zählen wäre, in Ansehung derer die Beurteilung in der Vorentscheidung offen gelassen wurde. Die Haftung des Beklagten ist daher entgegen der berufungsgerichtlichen Ansicht in Übereinstimmung mit der Rechtsauffassung des Erstrichters nicht schon dem Grunde nach deshalb zu verneinen, weil der Kläger außerhalb des Personenkreises gestanden wäre, denen gegenüber der Beklagte vertragliche Schutz- und Sorgfaltspflichten zu wahren gehabt hätte. Nach dem zugrundezulegenden Sachverhalt ist eine unfallskausale Nachlässigkeit der Pflicht, für eine gefahrlose Benützung des hauseigenen Zuganges zu den Ordinationsräumen zu sorgen, nicht zu verneinen. Dem Beklagten ist ein Entlastungsbeweis nicht gelungen. Der auf das Tragen von Sommerschuhen gestützte Einwand eines (allein- oder mitkausalen) Selbstverschuldens des Klägers scheiterte an der Feststellung, daß der Kläger halbhohe Pelzstiefel mit profilierter Gummisohle getragen hat. Aus dem Zustand der in der Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung vom 20.Mai 1986 in Augenschein genommenen Schuhe war kein verläßlicher Rückschluß auf den Zustand des Rillenprofils am Unfallstag möglich. Der Beklagte hat im Verfahren erster Instanz auch nicht konkret eingewendet, daß das Rillenprofil der Gummisohlen am Unfallstag bis zur Unwirksamkeit abgetreten gewesen wäre. Die in diesem Sinne erstmals in der Berufung ausgeführte Einwendung war als Neuerung unbeachtlich. Im übrigen war die erstinstanzliche Beurteilung bereits in der Berufung unbekämpft geblieben.

In Stattgebung der Revision war das Berufungsurteil im Sinne einer Wiederherstellung der klagsstattgebenden Entscheidung erster Instanz abzuändern.

Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens beruht auf den §§ 41 und 50 ZPO.

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