Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur Ergänzung des Verfahrens und zur neuerlichen Entscheidung an das Arbeits- und Sozialgericht Wien verwiesen, das auf die Kosten des Rechtsmittelverfahrens gleich weiteren Verfahrenskosten Bedacht zu nehmen haben wird.
Text
Begründung
Die Klägerin begehrte, die beklagte Partei zur Leistung der Invaliditätspension ab 5. Jänner 1986 zu verpflichten. Zufolge zahlreicher Leidenszustände sei sie nicht in der Lage, einer geregelten Beschäftigung nachzugehen.
Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage. Das Erstgericht wies das Begehren der Klägerin ab. Dabei legte es seiner Entscheidung im wesentlichen nachstehenden Sachverhalt zugrunde:
Die Klägerin ist nur mehr in der Lage, leichte Arbeiten abwechselnd im Gehen und Sitzen, nicht jedoch überwiegend im Gehen (eine stehende Tätigkeit ist nicht möglich, ein Mehr an Sitzen schadet nicht) zu verrichten. Gehen bis zu 1/3 der Arbeitszeit ist zumutbar. Sie ist in der Lage, Tätigkeiten, die kein andauerndes Bücken, keine Arbeit über Kopf und keine Arbeiten, die genaues Sehen oder stereoskopisches Sehen erfordern, in der normalen Arbeitszeit bei Einhaltung der üblichen Pausen zu verrichten. Die Fingerfertigkeit ist außer für Feinarbeiten erhalten. Die Klägerin ist unterweisbar und einordenbar. Die Anmarschwege sind unter städtischen und ländlichen Bedingungen möglich. Nach einer neuerlichen Untersuchung vom 4. November 1986 ist die Klägerin nunmehr in der Lage, wieder eine durchgehende Tätigkeit im Sitzen zu verrichten. Eine Tätigkeit im Stehen ist nur in der Dauer von 10 Minuten möglich. Wechsel von Sitzen und Gehen ist nicht zwingend geboten; allgemein übliche Möglichkeiten im Rahmen eines Arbeitstages reichen aus, um die Lymphstauungen tolerabel zu machen; eine Erleichterung des Leidenszustandes wäre auch durch Tragen von Stützstrümpfen erreichbar.
Die Klägerin kann den von ihr ausgeübten Beruf einer Bedienerin nicht mehr verrichten; sie ist jedoch in der Lage, die Tätigkeit einer Angestellten in der Lagerkartei auszuüben. Überdies entsprächen dem medizinischen Leistungskalkül Hilfsarbeiten in der Plastik- und Kunststoffartikelerzeugung, Hilfsarbeiten in der Gabelbissenerzeugung, Verpackungsarbeiten in der Lebensmittelbranche, Einlegearbeiten in Süßwarenbetrieben und Tischarbeiten in Buchbindereien. Hieraus zog das Erstgericht den Schluß, daß die Klägerin nicht invalid im Sinne des § 255 Abs 3 ASVG sei, so daß die Voraussetzungen für die begehrte Leistung nicht erfüllt seien.
Das Berufungsgericht gab der von der Klägerin erhobenen Berufung nicht Folge. Da Invalidität im Sinn des § 255 Abs 3 ASVG nicht bestehe, habe das Erstgericht das Begehren zu Recht abgewiesen. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, es im Sinne einer Klagestattgebung zumindest für die Zeit vom 1. Februar bis 4. November 1986 abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist im Sinn des Eventualantrages berechtigt. Hat ein Versicherter Versicherungsmonate in mehreren Zweigen der Pensionsversicherung erworben, so kommen für ihn gemäß § 245 Abs 1 ASVG die Leistungen des Zweiges der Pensionsversicherung in Betracht, dem er leistungszugehörig ist. Im vorliegenden Fall steht die Leistungszugehörigkeit zur P*** DER
A*** unbestritten fest. Aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit ist aus der P*** DER
A*** die Invaliditätspension zu leisten (§ 222 Abs 1 Z 2 lit a ASVG). Die besonderen Leistungsvoraussetzungen für die Invaliditätspension finden ihre Regelung im § 255 ASVG. Nur wenn im Hinblick auf die vom Versicherten tatsächlich ausgeübte Tätigkeit - weil dieser etwa ausschließlich Angestelltentätigkeiten verrichtet hätte - diese auf Arbeitertätigkeiten abgestellten Bestimmungen unanwendbar wären, wäre die Frage zu erörtern, ob auf eine analoge Anwendung des § 273 ASVG zurückzugreifen ist. Dies trifft aber im vorliegenden Fall nicht zu, da die Klägerin in ihrem Berufsleben auch Arbeitertätigkeiten verrichtet hat, was letztlich auch zur Begründung der Leistungszuständigkeit der beklagten Partei führte. Die Frage, ob ein Pensionsanspruch wegen geminderter Arbeitsfähigkeit besteht, ist daher ausgehend vom § 255 ASVG zu prüfen. Als Bedienerin verrichtete die Klägerin weder erlernte noch angelernte Tätigkeiten, so daß die Invalidität - die Klägerin hat das 55. Lebensjahr noch nicht vollendet - nach § 255 Abs 3 ASVG zu prüfen ist. Danach gilt ein Versicherter, der nicht überwiegend in erlernten oder angelernten Berufen tätig war, als invalid, wenn er infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr imstande ist, durch eine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die ihm unter billiger Berücksichtigung der von ihm ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann, wenigstens die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt. Versicherten in ungelernten Berufen gebührt - sofern die Voraussetzungen des § 255 Abs 4 ASVG nicht erfüllt sind - eine Leistung wegen geminderter Arbeitsfähigkeit damit grundsätzlich erst dann, wenn sie nicht mehr imstande sind, eine auf dem Arbeitsmarkt noch bewertete Tätigkeit zu verrichten. Das Verweisungsfeld ist somit mit dem Arbeitsmarkt ident (Schrammel,
Zur Problematik der Verweisung in der PV und UV, ZAS 1984, 83, insb 85). Dabei sind jene Berufstätigkeiten auszuscheiden, die auf dem Arbeitsmarkt praktisch nicht mehr vorkommen oder die speziell dem Versicherten nicht offenstehen, weil sie ausschließlich Angehörigen des jeweils anderen Geschlechtes vorbehalten sind. Tätigkeiten, die der Versicherte - abstrakt gesehen - auszuüben in der Lage wäre, die ihm aber schon deshalb kein Erwerbseinkommen verschaffen können, weil es keine oder nur wenige Arbeitsplätze gibt, haben bei der Beurteilung der geminderten Arbeitsfähigkeit außer Betracht zu bleiben. Auf alle anderen Tätigkeiten kann der Versicherte grundsätzlich verwiesen werden (Schrammel aaO 86; 10 Ob S 12/87 ua).
Wesentlich ist allerdings die Frage, ob ein Versicherter in der Lage ist, den Arbeitsplatz zu erreichen. Ob diese Voraussetzung besteht, ist eine Rechtsfrage, die ausgehend von den Tatsachenfeststellungen über die körperlichen und geistigen Einschränkungen des Versicherten zu klären ist. Es sind Feststellungen erforderlich, welche Strecke der Versicherte zu Fuß zu bewältigen imstande ist, ob er in der Lage ist, ein öffentliches Verkehrsmittel zu benützen und welche Behinderungen dabei allenfalls bestehen. Erst auf dieser Grundlage kann entschieden werden, ob der Versicherte in der Lage ist, den unter üblichen Bedingungen erforderlichen Anmarschweg zurückzulegen.
Aus den Feststellungen ergibt sich überdies, daß im Lauf des Verfahrens eine Änderung im Zustand der Klägerin eingetreten ist. Nach dem ursprünglichen Leistungskalkül waren der Klägerin nur Arbeiten im Wechsel zwischen Sitzen und Gehen zumutbar. Erst eine neuerliche Untersuchung führte zum Ergebnis, daß die Klägerin ("nunmehr") in der Lage ist, wieder eine durchgehende Tätigkeit im Sitzen zu verrichten. Die Feststellungen des Erstgerichtes über die Tätigkeiten, die die Klägerin auszuüben in der Lage ist, gehen offenbar vom derzeit bestehenden Zustand aus und lassen damit eine Beurteilung hinsichtlich des gesamten vom Begehren umfaßten Zeitraumes nicht zu. Zu klären wird sein, wann sich der Zustand der Klägerin geändert hat und welche Tätigkeiten sie vor dem Zeitpunkt verrichten konnte.
Im weiteren Verfahren werden auch die mit den herangezogenen Verweisungstätigkeiten verbundenen Belastungen zu prüfen und hierüber genaue Feststellungen zu treffen sein.
In diesen Punkten erweist sich das Verfahren ergänzungsbedürftig. Der Kostenvorbehalt stützt sich auf § 52 ZPO.
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