OGH 9ObS43/87

OGH9ObS43/8727.1.1988

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon.-Prof. Dr. Kuderna als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Gamerith und Dr. Bauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Robert Müller und Dr. Gerhard Dengscherz als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Irma S***, Wien 3., Grasbergergasse 7, vertreten durch Dr. Hans Schwarz, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei A*** U***, Wien 20.,

Adalbert Stifter-Straße 65, vertreten durch Dr. Adolf Fiebich, Dr. Vera Kremslehner und Dr. Josef Milchram, Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 11. September 1987, GZ 32 Rs 157/87-16, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 11. März 1987, GZ 2 Cgs 229/86-12, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin erlitt am 5. Februar 1986 bei einem Arbeitsunfall am linken Arm einen Speichenbruch und einen Oberarmbruch mit Abbruch des Tuberculum maior. Die beiden Brüche wurden mit einem Gipsverband versorgt. Nach Abnahme des Gipses kam es im Rahmen der Mobilisation des linken Armes zu beträchtlichen Schmerzen. Jetzt bestehen bei der Klägerin noch eine geringe Bewegungseinschränkung im linken Handgelenk mit einer Kraftverminderung und einer Muskelverschmächtigung. Rein medizinisch gesehen beträgt die Minderung der Erwerbsfähigkeit ab 30. Juni 1986 20 v.H. Mit Bescheid vom 13. August 1986 gewährte die beklagte Partei der Klägerin eine vorläufige Versehrtenrente in Höhe von 20 v.H. der Vollrente.

Das Erstgericht gab dem auf Gewährung einer höheren Rentenleistung gerichteten Begehren der Klägerin Folge und verpflichtete die beklagte Partei zur Gewährung einer vorläufigen Versehrtenrente im Ausmaß von 25 v.H. der Vollrente. Dazu führte das Erstgericht aus, die Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit sei eine Rechtsfrage. Unter Heranziehung des § 273 ZPO kam es zum Ergebnis, daß mit Rücksicht auf die beträchtlichen Beschwerden in der Schulter und im Handgelenk und die Schwere der Verletzung, die immerhin einen Krankenstand vom 5. Februar bis 29. Juni 1986 zur Folge gehabt habe, sowie darauf, daß zu Beginn des Rentenzeitraumes eine ganze Funktionseinheit, nämlich Schulter und Handgelenk, von beträchtlichen Beschwerden betroffen gewesen sei, die durchschnittliche Minderung der Erwerbsfähigkeit für eine vorläufige Versehrtenrente mit 25 v.H. anzunehmen sei.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und verpflichtete die beklagte Partei zur Gewährung einer vorläufigen Versehrtenrente im Ausmaß von 20 v.H. der Vollrente ab 30. Juni 1986. Die Bestimmung des § 273 ZPO sei nur anzuwenden, wenn der Beweisführer in einem Beweisnotstand sei oder die Beweisführung zur Wertermittlung mit unverhältnismäßigen Schwierigkeiten verbunden sei. Diese Voraussetzungen lägen hier nicht vor. Die Folgen des Arbeitsunfalles für die Klägerin samt den damit verbundenen Beeinträchtigungen und Schmerzen seien geklärt. Ausgehend von der medizinischen Einschätzung bestehe daher lediglich ein Anspruch auf eine Versehrtenrente im Ausmaß von 20 v.H.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinne einer Wiederherstellung des Ersturteiles abzuändern.

Die beklagte Partei beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Der Begriff, der für die Bemessung der Versehrtenrente in der Unfallversicherung maßgeblichen "Minderung der Erwerbsfähigkeit" wird in den einschlägigen Vorschriften, insbesondere in den §§ 203 ff ASVG nicht definiert. Der Oberste Gerichtshof hat zu diesen Fragen in seiner Entscheidung 9 Ob 23/87 bereits ausführlich Stellung genommen. Mit dem Begriff der Erwerbsfähigkeit wird die Fähigkeit eines Menschen, sich auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens einen Verdienst zu verschaffen, umschrieben, wobei grundsätzlich der allgemeine Arbeitsmarkt das Verweisungsfeld auf dem Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung bildet. Grundlage für die Ermittlung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit ist dabei regelmäßig ein ärztliches Gutachten über die Unfallfolgen und deren Auswirkungen, wobei der Gutachter auch über seine Meinung zum Umfang der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu befragen ist. Ausgangspunkt dieser Einschätzung sind die in Jahrzehnten entwickelten und angewendeten Richtlinien über die Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit der Unfallverletzten, wie sie etwa in den Tabellen von Mollovitz, Der Unfallmann10, für Österreich in Krösl-Zrubecky, Die Unfallrente3, enthalten sind. Der Einwand, daß damit bloß der Grad der Versehrtheit beurteilt und über die Erwerbsfähigkeit keine Aussagen getroffen werden, geht fehl, weil bei Erstellung dieser Richtlinien den Veränderungen des allgemeinen Arbeitsmarktes und damit der an den arbeitenden Menschen gestellten Anforderungen Rechnung getragen wird. Die ärztliche Einschätzung, die unter Berücksichtigung dieser Komponenten erfolgt, ist aber nicht die alleinige Grundlage der gerichtlichen Entscheidung. Zu prüfen bleibt, ob im Hinblick auf die besondere Situation im Einzelfall die Ausbildung und die bisherigen Berufe des Unfallverletzten zur Vermeidung unbilliger Härten zu berücksichtigen sind. Die Entscheidung, ob ein derartiger Härtefall vorliegt, der ein Abweichen von der ärztlichen Einschätzung geboten erscheinen läßt, und in welchem Umfang dem bei Festsetzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit Rechnung getragen werden muß, ist Gegenstand der rechtlichen Beurteilung.

Dafür, daß hier ein Härtefall gegeben ist, der ein Abgehen von der medizinischen Einschätzung rechtfertigen würde, bestehen keinerlei Anhaltspunkte. Zutreffend hat daher das Berufungsgericht unter Zugrundelegung der ärztlichen Einschätzung die Versehrtenrente mit 20 v.H. der Vollrente bemessen.

Der Revision mußte daher ein Erfolg versagt bleiben. Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG; Umstände, die einen Kostenersatzanspruch nach Billigkeit rechtfertigen könnten, wurden weder geltend gemacht noch sind solche Gründe aus dem Akt ersichtlich.

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