OGH 2Ob62/87

OGH2Ob62/8722.12.1987

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Melber, Dr. Huber und Dr. Niederreiter als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Franz S***, Radrennfahrer, 1150 Wien, Nobilegasse 14/9, vertreten durch Dr. Othmar Slunsky, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagten Parteien 1. Hedwig W***, Pensionistin, 1040 Wien, Favoritenstraße 40/22/6, 2. Yao Shin L***, Gastwirt, ebendort,

3. E*** A*** V***-A***, 1011 Wien,

Rotenturmstraße 16-18, alle vertreten durch Dr. Theo Petter, Rechtsanwalt in Wien, wegen S 68.397,-- s.A. (Revisionsinteresse S 36.698,50 s.A.), infolge Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes vom 1. Juli 1987, GZ 18 R 136/87-16, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom 25. Februar 1987, GZ 34 Cg 757/85-11, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Beklagten sind zur ungeteilten Hand schuldig, dem Kläger die mit S 3.254,21 (darin keine Barauslagen und S 295,84 Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 10. Oktober 1984 ereignete sich vor dem Haus Mariahilferstraße 89 in Wien ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger mit seinem Rennrad und die Erstbeklagte als Beifahrerin des vom Zweitbeklagten gelenkten PKW Volvo 245 GL, W 329.152, der bei der Drittbeklagten haftpflichtversichert ist, beteiligt waren. Der Kläger forderte von den Beklagten S 50.000,-- an Schmerzengeld, S 6.397,-- für Reparaturkosten und Kleidung sowie S 12.000,-- an Verdienstentgang. Die Erstbeklagte treffe das Alleinverschulden an dem Unfall, da sie gerade, als der Kläger rechts vorbeifahren habe wollen, die rechte Beifahrertüre geöffnet habe, um auszusteigen. Für den Kläger als Radrennfahrer wäre es kein Problem gewesen, in einem Seitenabstand von ca. 1,5 m am PKW rechts vorbeizufahren. Das Vorbeifahren an einer stehenden Kolonne sei auch zulässig.

Außer Streit stehen der Höhe nach S 6.397,-- für Reparaturkosten und Kleidung sowie S 12.000,-- Verdienstentgang.

Die Beklagten wendeten unter Anerkennung eines 50 %-igen Verschuldens ein, der Kläger habe sich entgegen den Vorschriften am Fahrzeug des Zweitbeklagten rechts vorbeischlängeln wollen, als gerade die rechte Tür geöffnet worden sei. Den Kläger treffe daher zumindest ein 50 %-iges Mitverschulden an diesem Unfall. Das Erstgericht sprach dem Kläger S 31.698,50 s.A. zu und wies das Mehrbegehren von S 36.698,50 s.A. ab, wobei es im wesentlichen von folgenden Feststellungen ausging:

Der Zweitbeklagte fuhr in einer Kolonne in der Mariahilferstraße stadteinwärts. Infolge des Rückstaus der Kolonne mußte er sein Fahrzeug auf Höhe des Hauses Nr. 89 anhalten. Rechts vom PKW befand sich bereits seit mehreren Metern eine abgeplankte Baustelle, die eine Breite von 2,2 m aufwies. Der Seitenabstand des PKW zu dieser Abplankung betrug 1,4 m. Die gesamte Durchfahrtsbreite von der Abplankung bis zur "Stuttgarter Schwelle" betrug 4 m. Der PKW des Zweitbeklagten ist 1,71 m breit. Da die Erstbeklagte eine Besorgung machen wollte, öffnete sie die Wagentür um etwa 45 Grad. Bei voller Öffnung würde das Türblatt etwa 84 cm aus der rechten Fahrbahnseite ragen. Durch das Öffnen der Tür wurde der mit etwa 15 km/h mit seinem Fahrrad rechts vorbeifahrende Kläger am Körper getroffen. Er erlitt hiebei einen Schlüsselbeinbruch links, eine Rißquetschwunde im Bereich des linken Schlüsselbeines und mehrfache Hautabschürfungen im Bereich des linken Oberschenkels. Er hatte 4 Tage starke Schmerzen, 10 Tage mittelstarke Schmerzen und 28 Tage geringgradige Schmerzen zu ertragen.

Zur Rechtsfrage führte das Erstgericht aus, die Erstbeklagte habe gegen § 23 Abs 4 StVO verstoßen, doch treffe den Kläger ein Mitverschulden, da er gegen § 12 Abs 5 StVO verstoßen habe. Er hätte sich entsprechend dieser Vorschrift an der aufgestauten Fahrzeugkolonne nicht rechts "vorschlängeln" dürfen. Der Kläger hätte nur dann rechts am Fahrzeug des Zweitbeklagten vorbeifahren dürfen, wenn ein Fahrstreifen (§ 2 Abs 1 Z 5 StVO) rechts vorhanden gewesen wäre. Da ein überwiegendes Mitverschulden eines der beiden Unfallbeteiligten nicht vorliege, sei dem Kläger - ausgehend von S 45.000,-- an Schmerzengeld - nur die Hälfte des ihm entstandenen Schadens zuzusprechen gewesen.

Infolge Berufung des Klägers änderte das Gericht zweiter Instanz das Urteil des Erstgerichtes dahin ab, daß dem Kläger unter Einbeziehung des unangefochten gebliebenen stattgebenden Teiles des Ersturteils insgesamt S 63.397,-- s.A. zugesprochen wurden und das Mehrbegehren von S 5.000,-- s.A. abgewiesen wurde. Das Berufungsgericht erklärte die Revision für zulässig; es erachtete das erstgerichtliche Verfahren für mängelfrei, übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes als unbedenklich, gelangte jedoch zu einer anderen rechtlichen Beurteilung.

Bei der Bestimmung des § 12 Abs 5 StVO handle es sich um ein Schutzgesetz im Sinne des § 1311 ABGB. Dies habe zur Folge, daß der Übertreter der Schutznorm für den durch die Übertretung verursachten Schaden zu haften habe, es sei denn, er beweise, daß der Schaden auch ohne seine Übertretung in gleicher Weise oder in gleichem Umfang eingetreten wäre. Die Ersatzpflicht bestehe allerdings nur für diejenigen Schäden, die die Schutznorm verhüten wollte. Mit der Bestimmung des § 12 Abs 5 StVO solle der Unsitte des "Vorschlängelns" einspuriger Fahrzeuge entgegengewirkt werden. Nach dem klaren Wortlaut dieser Bestimmung gelte das dort normierte Verbot für einspurige, später herankommende Fahrzeuge, die vorfahren, um sich mit ihren Fahrzeugen weiter vorne aufzustellen. Durch dieses Verbot des Vorfahrens solle das sonst oft mehrfach erforderliche Überholen desselben Fahrzeuges unterbunden werden. Hiemit sollten diejenigen Gefahren, die mit einem solchen mehrfachen Überholen verbunden sind, vermieden werden, die durch das Vorfahren einspuriger Fahrzeuge entstehen können. Ansonsten würde nämlich der letzte Halbsatz des § 12 Abs 5 StVO keinen Sinn ergeben. Da somit das Verhalten des Klägers vom Schutzzweck des § 12 Abs 5 StVO nicht erfaßt sei, treffe ihn an dem Unfall kein Mitverschulden. Der Kläger habe daher Anspruch auf die von ihm begehrten Beträge von S 6.397,-- für Reparaturkosten und Kleidung und von S 12.000,-- für Verdienstentgang, die der Höhe nach außer Streit stehen. Entgegen der Ansicht der Berufung habe das Erstgericht unter Zugrundelegung der sich aus dem Sachverständigengutachten ergebenden Schmerzperioden die Höhe des Schmerzengeldes mit S 45.000,-- im Einklang mit der ständigen Judikatur richtig bemessen, so daß das Mehrbegehren von S 5.000,-- abzuweisen gewesen sei. Gegen das Urteil des Berufungsgerichtes wendet sich die Revision der Beklagten aus dem Anfechtungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne der Wiederherstellung des Ersturteiles.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig (§ 502 Abs 4 Z 1 ZPO), sie ist im Ergebnis jedoch nicht berechtigt.

Nach den vom Berufungsgericht übernommenen Feststellungen des Erstgerichtes fuhr der Zweitbeklagte in der Mariahilferstraße stadteinwärts im Zuge einer Kolonne. Infolge des Rückstaues der Kolonne mußte er sein Fahrzeug auf Höhe der Nr. 89 anhalten. Da die mitfahrende Erstbeklagte eine Besorgung zu machen hatte, öffnete sie die Beifahrertür. Rechts vom Klagsfahrzeug befand sich seit mehreren Metern bereits eine Baustelle, die abgeplankt war. Der Seitenabstand des PKWs zu dieser Abplankung betrug ca. 1,4 m. Zwischen der links in Fahrtrichtung der Beteiligten befindlichen "Stuttgarter Schwelle" und der Baustelle betrug die Durchfahrtsbreite 4 m. Aus diesen Feststellungen ergibt sich, daß im Bereich der Unfallsstelle jedenfalls nicht nur ein Fahrstreifen in der vom Kläger und vom Zweitbeklagten befahrenen Fahrtrichtung zur Verfügung stand, da die Durchfahrtsbreite 4 m betrug. Wie der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 2 Ob 34/85, veröffentlicht in ZVR 1986/10, ausgesprochen hat, ist der Zweck der Vorschrift des § 12 Abs 5 StVO, das sogenannte "Vorschlängeln" einspuriger Fahrzeuge an mehreren angehaltenen Fahrzeugen vorbei, hintanzuhalten (ZVR 1981/155, 1984/204 u.a.). Von einem "Vorschlängeln" kann aber nicht gesprochen werden, wenn nicht auf dem Fahrstreifen gefahren wird, auf dem eine Kolonne aufgestaut ist, sondern auf einem anderen, der für diese Fahrtrichtung bestimmt ist und auf dem sich keine angehaltenen Fahrzeuge befinden. Ist aber für die betreffende Fahrtrichtung mehr als ein Fahrstreifen vorhanden, ist es dem Lenker eines einspurigen Fahrzeuges nicht verboten, an einer auf einem Fahrstreifen aufgestauten Kolonne auf einem anderen Fahrstreifen vorbeizufahren. Da ein Fahrstreifen nicht in jedem Falle eine Breite von 2,5 m aufweisen muß (§ 9 Abs 1 BodenmarkierungsVO, 2 Ob 169/81 u.a.), bei Verengung der Fahrbahn durch Aufgrabungsarbeiten sich vielmehr die Fahrbahnmitte verlagert und die noch zur Verfügung stehenden Fahrstreifen entsprechend verschmälern (ZVR 1978/250), kann im vorliegenden Fall vom Vorhandensein von mehr Raum als für einen Fahrstreifen in Fahrtrichtung des Klägers und des Zweitbeklagten im Bereich der Unfallstelle ausgegangen werden. Der Zweitbeklagte hatte vielmehr die gesamte Breite des von ihm befahrenen Fahrstreifens für sein Fahrzeug zur Verfügung, sodaß durch das Vorbeifahren des Klägers eine Beeinträchtigung, wie sie § 12 Abs 5 StVO hintanhalten soll, nicht eingetreten ist. Den Feststellungen ist nicht zu entnehmen, daß die Fahrzeuge der aufgestauten Kolonne im Bereich der Unfallsstelle auch außerhalb des an die "Stuttgarter Schwelle" anschließenden Fahrstreifens anhielten. Nach den oben dargelegten Grundsätzen fiel dem Kläger daher entgegen der Auffassung der Revision kein Verstoß gegen die Vorschrift des § 12 Abs 5 StVO zur Last.

Der Revision war somit ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41 und 50 ZPO.

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