OGH 2Ob63/87

OGH2Ob63/8724.11.1987

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Melber, Dr. Kropfitsch und Dr. Huber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Pola R***, Pensionistin, Otto-von-Lilienthalstraße 92, 5020 Salzburg, vertreten durch Dr. Hellmut Prankl, Rechtsanwalt in Salzburg, wider die beklagten Parteien 1. S*** S***, Salzburger Stadtwerke-Verkehrsbetriebe, Alpenstraße 91, 5020 Salzburg,

2. E*** A*** V***-AG, Paris-Lodron-Straße 2, 5020 Salzburg, beide vertreten durch Dr. Utho Hosp, Dr. Wolfgang Weis, Rechtsanwälte in Salzburg, wegen S 59.368,40 s.A., infolge Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes vom 26. Mai 1987, GZ 3 R 84/87-23, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Salzburg vom 30. Dezember 1986, GZ 8 Cg 133/86-16, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagten Parteien haben zur ungeteilten Hand der Klägerin die mit S 3.112,72 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten S 282,97 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 29. Jänner 1985 gegen 18.30 Uhr stieg die Klägerin in einen bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten O-Bus der Erstbeklagten. Die Klägerin war damals 71 Jahre alt, 1,56 m groß und 74 kg schwer. Ihre Bewegungen waren altersbedingt schwerfällig und verlangsamt. Sie benützte den linken Teil des vorderen Einstieges - rechts stiegen Fahrgäste ein, die beim Fahrer Fahrkarten lösten - und blieb, nachdem sie die drei Stufen hinauf gestiegen war, stehen, hielt sich an der dort befindlichen senkrechten Haltestange an und schaute, ob ein Sitzplatz frei ist. Der Fahrer sah die Klägerin einsteigen, beobachtete sie aber nicht weiter. Nachdem er kassiert hatte und die Verkehrsampel Grünlicht anzeigte, fuhr er mit normaler Beschleunigung an. Dadurch stürzte die Klägerin, die entweder die Haltestange losgelassen oder sich nicht fest genug angehalten hatte. Hiebei erlitt sie Verletzungen. Die Klägerin begehrt, gestützt auf "die einschlägigen Bestimmungen des ABGB, des EKHG sowie auf jeden anderen erdenklichen Rechtsgrund", einen Schadenersatzbetrag von S 59.368,40 s.A. Die Beklagten wendeten ein, der Unfall sei für sie ein unabwendbares Ereignis gewesen, der Unfall sei ausschließlich auf die Unachtsamkeit und Ungeschicklichkeit der Klägerin zurückzuführen. Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es führte aus, bei der Klägerin handle es sich um eine Person, bei der altersbedingt und durch ihre körperliche Konstitution eine gewisse Erschwernis beim Gehen vorliege, die aber bei weitem nicht so weit gehe, eine körperliche Behinderung anzunehmen, die eine besondere Aufmerksamkeit und Vorsorge auslösen müßte. Als die Klägerin stehen geblieben sei und sich an der Haltestange angehalten habe, habe sie das Blickfeld des Fahrers bereits passiert und habe sich mehr als 90 Grad rechts seitlich von diesem befunden. Der Fahrer habe von anderen Fahrgästen Fahrgeld zu kassieren gehabt, es habe für ihn kein Anlaß und keine Möglichkeit bestanden, in dem offenbar stark besetzten Bus, in dem auch Leute gestanden seien, besonders auf das Verhalten der Klägerin zu achten. Bei diesen Gegebenheiten treffe den Lenker kein Verschulden, es sei aber auch der Entlastungsbeweis nach § 9 EKHG gelungen. Würde man verlangen, daß sich ein O-Bus-Fahrer beim Anfahren davon überzeuge, daß sich jeder Fahrgast entsprechend festhalte oder einen Sitzplatz gefunden habe, würde der O-Busverkehr praktisch zum Erliegen kommen. Wenn der Lenker durch den Rückspiegel den Fahrgastraum kontrollieren müßte, würde es für die Haftung schon ausreichen, wenn ein durch einen anderen verdeckter Fahrgast sich nicht anhalte und zu Sturz komme. Dies würde auf eine vom Gesetzgeber nicht beabsichtigte Erfolgshaftung hinauslaufen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin teilweise Folge und änderte das Ersturteil dahin ab, daß dem Klagebegehren zur Hälfte stattgegeben und das Mehrbegehren abgewiesen wurde. Die Revision wurde für zulässig erklärt. Das Gericht zweiter Instanz stellte die von Rechtsprechung und Lehre geforderten Voraussetzungen für einen Entlastungsbeweis nach § 9 Abs 2 EKHG dar und vertrat die Ansicht, auf Grund des Alters der Klägerin und ihrer schwerfälligen und verlangsamten Bewegungen hätte ein überdurchschnittlich sorgfältiger Fahrer die Möglichkeit in Betracht gezogen, daß sie nicht in der Lage sein werde, sich im Stehen ausreichend festzuhalten, oder daß sie es nicht schaffen werde, bis zur Abfahrt einen Sitzplatz zu erreichen. Dies hätte einen besonders umsichtigen Lenker veranlassen müssen, der Klägerin besonderes Augenmerk zuzuwenden und sich vor der Abfahrt davon zu überzeugen, daß sie entweder einen Sitzplatz erreicht habe oder sich ausreichend festhalte und nicht versuchen werde, einen Sitzplatz aufzusuchen. Der Fahrer hätte sich daher zur Einhaltung der gebotenen äußersten Sorgfalt mit der Klägerin verständigen und entweder abwarten müssen, bis sie einen Sitzplatz eingenommen habe, oder sie auffordern müssen, sich wegen der bevorstehenden Abfahrt ausreichend festzuhalten und nicht zu versuchen, zu einem Sitzplatz zu gelangen. Dem Erstgericht sei zwar zuzugeben, daß sich ein O-Bus-Fahrer nicht um jeden einzelnen Fahrgast kümmern könne, doch sei zu berücksichtigen, daß die Klägerin beim Einsteigen am Lenker vorbeigegangen und praktisch neben ihm, geringfügig hinter seinem Sitz, stehen geblieben sei. Um sie zu beobachten, hätte er daher lediglich den Kopf leicht nach rechts zu wenden brauchen. Daß er hiezu durch irgendwelche Umstände gehindert gewesen wäre, hätten die Beklagten beweisen müssen. Der Entlastungsbeweis sei ihnen daher nicht gelungen. Die Klägerin treffe jedoch ein Mitverschulden, weshalb die Schadenersatzpflicht der Beklagten auf die Hälfte zu reduzieren sei.

Die Beklagten bekämpfen das Urteil des Berufungsgerichtes mit Revision, machen den Anfechtungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung geltend und beantragen die Wiederherstellung des Ersturteils. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Die Klägerin beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Die Revisionswerber führen aus, die nach der Rechtsmeinung des Berufungsgerichtes zu fordernde Sorgfalt des Fahrzeuglenkers übersteige beträchtlich das vom Gesetzgeber verlangte Maß. Die Klägerin sei nicht gebrechlich und nicht körperbehindert gewesen, ihr Alter und die Bewegungsverlangsamung hätten nicht ausgereicht, um beim Fahrer besondere Aufmerksamkeit hervorzurufen. Der Fahrer müsse beim Anfahren seine äußerste Sorgfalt darauf aufwenden, sich gefahrlos in den Fließverkehr einzuordnen, es wäre sorgfaltswidrig, die Aufmerksamkeit beim Anfahren auf die Fahrgäste zu richten. Würde man dem Berufungsgericht folgen, müßte man verlangen, daß der Lenker alle - auch die hinten einsteigenden - Fahrgäste beobachtet, was zu einer Erfolgshaftung führen würde. Die Klägerin sei für den Fahrer nicht auffällig gewesen, weil sie sich ohnedies an der Haltestange angehalten habe.

Diesen Ausführungen ist folgendes zu erwidern:

Wie schon das Berufungsgericht hervorgehoben hat, läßt nur eine erhöhte Sorgfalt einen Unfall als unabwendbares Ereignis erscheinen (ZVR 1987/11 uva), der Entlastungsbeweis nach § 9 Abs 2 EKHG ist nur erbracht, wenn der Fahrer eine über die gewöhnliche Sorgfalt hinausgehende besondere Aufmerksamkeit und Umsicht gezeigt hat (ZVR 1986/157 uva). Daß der O-Bus-Fahrer die normale Sorgfalt, die ein Verschulden ausschließt, anwendete, kann nicht zweifelhaft sein. Bei Beurteilung der Frage, ob er auch der für die Erbringung des Entlastungsbeweises nach § 9 Abs 2 EKHG geforderten besonders weitgehenden Sorgfaltspflicht nachkam, ist aber zu berücksichtigen, daß er die 71 Jahre alte, sich verlangsamt und schwerfällig bewegende Klägerin einsteigen sah. Er mußte mit der Möglichkeit rechnen, daß sie einen Sitzplatz suchen und - solange sie noch nicht Platz genommen hatte - beim Anfahren des O-Busses eher in Sturzgefahr geraten werde als ein Fahrgast von durchschnittlicher körperlicher Verfassung. Bei Anwendung besonderer Sorgfalt hätte er daher vor dem Anfahren auf die Klägerin achten müssen, soweit ihm dies bei Bedachtnahme auf seine übrigen Pflichten als Fahrzeuglenker möglich gewesen wäre. Hiefür stand ihm ein für das Innere des Fahrzeuges bestimmter Rückblickspiegel zur Verfügung, überdies hätte auch eine leichte Rechtswendung des Kopfes genügt, um die Klägerin zu sehen. Ohne Zweifel hat der Fahrer beim Anfahren und unmittelbar vorher seine Aufmerksamkeit auf den übrigen Verkehr zu lenken; bevor er dies tat, hätte er aber, ohne seine anderen Pflichten zu verletzen, noch auf die Klägerin achten können. Der Fall läge anders, wenn die Klägerin einen der hinteren Einstiege benützt hätte und daher vom Fahrer nicht bemerkt worden wäre. Nimmt der Fahrer aber wahr, daß jemand, der auf Grund seines Alter und seiner körperlichen Beschaffenheit beim Anfahren mehr gefährdet ist als ein durchschnittlicher Fahrgast, einsteigt, und hat er die Möglichkeit, diesen zu beobachten, dann kann bei Anwendung des im § 9 Abs 2 EKHG geforderten strengen Maßstabes verlangt werden, daß er ihn vor dem Anfahren noch einmal beobachtet. Der O-Bus-Verkehr kommt hiedurch keinesfalls zum Erliegen.

Zutreffend bejahte daher das Berufungsgericht eine Mithaftung der Beklagten, weshalb der Revision ein Erfolg zu versagen war. Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

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