OGH 2Ob18/87

OGH2Ob18/877.4.1987

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Melber, Dr. Huber und Dr. Egermann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei mj. Erich W***, geboren am 20.Juni 1972, Schüler, vertreten durch seinen Vater Paul W***, Kraftfahrer, 6522 Kauns, dieser vertreten durch Dr. Hermann Schöpf, Rechtsanwalt in Landeck, wider die beklagten Parteien 1. Thomas Karl H***, Maschinenschlosser, Fließ 63,

2. W*** A*** Versicherung AG, 6020 Innsbruck, Meranerstraße 1, beide vertreten durch Dr. Gerd Kastner, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen S 200.000,-- und Feststellung, infolge Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes vom 10.Dezember 1986, GZ 5 R 336/86-29, womit infolge Berufung der beklagten Parteien das Teilzwischenurteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 13.August 1986, GZ 9 Cg 646/82-24, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens wird der Endentscheidung vorbehalten.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 20.6.1972 geborene Kläger fuhr am 13.1.1980 um ca. 14 Uhr 15 südlich des Ortsteiles Falpaus mit dem damals dreizehnjährigen Stefan K*** auf der nach Schnadingen führenden Gemeindestraße mit einer Rodel zu Tal. Bei der Einmündung dieser Straße in die Kaunerberg-Gemeindestraße stieß die Rodel mit dem vom Erstbeklagten gelenkten und gehaltenen, bei der zweitbeklagten Partei haftpflichtversicherten PKW Kennzeichen T 196.395 zusammen, wodurch Stefan K*** getötet und der Kläger schwer verletzt wurde. In der pflegschaftsbehördlich genehmigten Klage wird die Zahlung eines Schmerzengeldes von S 200.000,-- sowie die Feststellung der Haftung der beklagten Parteien für die künftigen Unfallsfolgen des Klägers, bei der zweitbeklagten Partei eingeschränkt auf die Versicherungssumme, mit der Begründung begehrt, der Erstbeklagte habe eine zu hohe Fahrgeschwindigkeit eingehalten, allenfalls auch zu spät und unrichtig reagiert und überdies den Vorrang der Rodelfahrer nicht beachtet.

Die beklagten Parteien beantragten Klagsabweisung, weil die beiden Rodelfahrer unter Mißachtung der Vorschriften der §§ 87 Abs 3 und 19 Abs 6 StVO von einem Nebenweg in die vom Erstbeklagten vorschriftsmäßig befahrene Gemeindestraße eingefahren seien. Das Erstgericht erkannte mit Teilzwischenurteil, daß das Leistungsbegehren des Klägers dem Grunde nach zu Recht bestehe. Sein Urteil wurde vom Berufungsgericht bestätigt und ausgesprochen, daß die Revision zulässig sei.

Gegen die berufungsgerichtliche Entscheidung erheben die beklagten Parteien die auf § 503 Abs 1 Z 2 und 4 ZPO gestützte Revision mit dem Antrage auf Abänderung im Sinne der Abweisung des Klagebegehrens. Hilfsweise stellen sie einen Aufhebungsantrag. Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht gerechtfertigt.

Nach den erstgerichtlichen Feststellungen befuhr der Erstbeklagte die unmittelbar vor der Unfallstelle mit ca. 5 % ansteigende, zur Unfallszeit durch Schneewälle auf eine benützbare Fahrbahnbreite von 3,5 m eingeschränkte Kaunerberg-Gemeindestraße mit einer Geschwindigkeit von ca. 30 km/h und einem Abstand von 1 m zum rechtsseitigen Schneewall. Die ca. 3,4 m breite Gemeindestraße nach Schnadingen mündet dort in einem spitzen Winkel mit einem Gefälle von ca. 18 % ein, vorher weist sie ein Gefälle von 9 bis 15 % auf. Wegen der vorhandenen Schneewälle und einer rechts von der Kaunerberg-Gemeindestraße ansteigenden Böschung war ein gegenseitiger Sichtkontakt der Unfallsbeteiligten erst möglich, wenn sich einer von ihnen im Kreuzungsbereich befand. Rodler können bei ihrer Annäherung an die Kreuzung die Kaunerberg-Gemeindestraße nach links nicht einsehen, nach rechts haben sie Sicht auf 20 m. Der Erstbeklagte hatte aus seiner Fahrtrichtung bereits in einer Entfernung von 100 m Sicht auf den Kreuzungsbereich mit der von rechts einmündenden Schnadinger Gemeindestraße. Im Kreuzungsbereich verbreitert sich die Kaunerberg-Gemeindestraße nach links auf ca. 7 m, es mündet dort in spitzem Winkel ein nach Goldegg führender Fahrweg ein. Um von der nach Schnadingen führenden Gemeindestraße nach Goldegg zu rodeln, muß ein Rodler nach einer scharfen Linkswendung zunächst etwa 8 m auf der Kaunerberg-Gemeindestraße weiterfahren. Die Fahrbahnen der beiden Gemeindestraßen waren zum Unfallszeitpunkt schneebedeckt, nicht gestreut und teilweise vereist. Durch diese Vereisung war für einen Rodler das Anhalten vor der Kreuzung aber nicht erschwert. Der auf der 1,2 m langen Rodel vorne sitzende Kläger und der hinten sitzende und in erster Linie lenkende und bremsende, 1,6 m große und sechs Jahre ältere Stefan K*** fuhren ohne anzuhalten mit einer Geschwindigkeit von ca. 15 km/h in die Kreuzung ein, die Rodel wurde hierauf von der linken Frontseite des PKWs erfaßt und zertrümmert. Der Erstbeklagte nahm die beiden Rodler erst nach dem Anprall wahr, als er die hochgeschleuderte Mütze eines der Buben sah, er verriß hierauf sein Fahrzeug nach links und bremste, wodurch der PKW in den Schneewall geriet und weiterschlitterte. Die genaue Fahrlinie der Rodler steht nicht fest. Wenn sie die Kurve ausfuhren, hatte der Erstbeklagte auf sie vor dem Unfall 2,5 Sekunden und erstmals in einer Entfernung von 21,5 m Sicht, wenn sie in der Fahrbahnmitte fuhren, dann nur durch 1,5 Sekunden und erstmals in einer Entfernung von 12,9 m. In ersterem Falle hätte der Erstbeklagte den Unfall mit einer sofortigen Bremsung verhindern können, in letzterem Falle wären die Rodler um 30 cm weiter aus dem Gefahrenbereich gekommen und die Unfallsfolgen wären für den Kläger möglicherweise geringer gewesen. Auf beiden Gemeindestraßen wird häufig sowohl von Kindern als auch von Erwachsenen gerodelt. Ob dies dem Erstbeklagten bekannt war, steht nicht fest. Im Winter herrscht im Unfallsbereich wenig PKW-Verkehr. Der Kläger war von seinen Eltern darauf aufmerksam gemacht worden, daß er beim Rodeln auf den Verkehr aufpassen müsse. In seiner rechtlichen Beurteilung verneinte das Erstgericht ein Verschulden des Erstbeklagten am Unfall, hielt aber einen Befreiungsbeweis im Sinne des § 9 Abs 2 EKHG nicht als erbracht und bejahte daher die Gefährdungshaftung der beklagten Parteien nach den Bestimmungen des EKHG. Der Kläger habe zwar gegen § 87 Abs 3 StVO verstoßen, doch sei ihm im Hinblick auf sein Alter im Unfallszeitpunkt von erst 7 1/2 Jahren sowie den Umstand, daß die Rodel vorwiegend von dem um 6 Jahre älteren Stefan K*** zu steuern und zu bremsen gewesen sei, ein Verschulden nicht zuzurechnen.

Das Berufungsgericht hielt weder die Rüge der unrichtigen Tatsachenfeststellung und unrichtigen Beweiswürdigung noch die Rechtsrüge der beklagten Parteien für gerechtfertigt. Unter der in § 9 Abs 2 EKHG geforderten Sorgfalt sei nach der Judikatur die äußerste, nach den Umständen des Falles mögliche Sorgfalt zu verstehen. Als Maßstab müsse die Sorgfalt eines besonders umsichtigen und sachkundigen Kraftfahrers herangezogen werden. Zu prüfen sei, ob der Kraftfahrer in der gegebenen Lage diese äußerste Sorgfalt angewendet habe. Nicht aufklärbare Ungewißheiten über wesentliche Einzelheiten des Unfallsgeschehens gingen im Rahmen des vom Fahrzeughalter zu führenden Befreiungsbeweises nach § 9 Abs 2 EKHG zu seinen Lasten. Ein solcher Beweis sei vorliegendenfalls nicht gelungen. Einem besonders sorgfältigen Kraftfahrer wäre die Verzögerung in der Wahrnehmung der beiden Rodler, gleichgültig, ob auf sie 1,5 oder 2,5 Sekunden vor dem Unfall Sicht bestanden hatte, zumindest nicht im gegebenen Umfang unterlaufen und es sei jedenfalls zu unterstellen, daß er die Gefahrenlage noch zu entschärfen vermocht hätte. Bei einer besonders sorgfältigen Fahrweise hätte er noch vor den Rodlern anhalten oder seine Geschwindigkeit so weit herabsetzen können, daß diese seine Fahrlinie bereits wieder verlassen gehabt hätten. In der Frage eines allfälligen Verschuldens des Klägers an seiner Verletzung sei auf seine Einsichtsfähigkeit und sein konkretes Verhalten abzustellen. Eine Verantwortlichkeit sei umso weniger anzunehmen, je mehr sein Alter unter der Mündigkeitsgrenze gelegen sei. Im Verhältnis zu erwachsenen Personen müsse unter sonst gleichen Umständen das Verschulden eines Unmündigen wesentlich milder beurteilt werden. Gewöhnlich könne allerdings von einem bereits schulpflichtigen Kind erwartet werden, daß es beim Überqueren einer Straße wenigstens die einfachsten Vorsichtsmaßnahmen nicht außer acht lasse. Der Kläger sei auch von seinen Eltern auf die Notwendigkeit, beim Rodeln auf Straßen die erforderliche Vorsicht anzuwenden, hingewiesen worden. Dem Erstgericht müsse aber darin beigepflichtet werden, daß der Kläger die Rodel nicht allein benützt habe, sondern auf der nach der Lebenserfahrung in erster Linie von dem fast um 6 Jahre älteren Stefan K*** gesteuerten Rodel mitgefahren sei. Die Forderung, daß er sich mit diesem über die Notwendigkeit, vor der Straßenkreuzung anzuhalten, vorher abzusprechen gehabt hätte, heiße, die Einsichtsfähigkeit eines siebeneinhalbjährigen Knaben zu überfordern.

In ihrer Mängelrüge machen die Revisionswerber Feststellungsmängel geltend, welche der Rechtsrüge zuzuordnen sind und in dieser ohnehin wiederholt werden. Der Revisionsgrund des § 503 Abs 1 Z 2 ZPO liegt somit nicht vor.

In der Rechtsrüge wird ausgeführt, das Berufungsgericht habe zu Unrecht angenommen, daß die behaupteten Feststellungsmängel rechtlich unerheblich erschienen. Es wäre festzustellen gewesen, daß der Kläger von seiner Mutter auf die Notwendigkeit, vor der gegenständlichen Kreuzung die Rodel anzuhalten, hingewiesen worden sei, weiters daß der Kläger und die anderen Kinder üblicherweise beim Rodeln vor der Kreuzung stehengeblieben seien, um auf die allfällige Annäherung eines Fahrzeuges zu achten. Dem Kläger sei es auch möglich gewesen, ohne Mithilfe des Beifahrers allein die Rodel anzuhalten, wie er dies üblicherweise und dem Auftrag der Mutter entsprechend getan habe und es der bei ihm bereits gegebenen Einsichtsfähigkeit entspreche. Eine Absprache zwischen ihm und Stefan K*** über die Notwendigkeit des Anhaltens sei daher nicht erforderlich gewesen. Keinesfalls habe sich der Kläger blindlings auf Stefan K*** verlassen dürfen. Da er dies aber getan habe, treffe ihn ein Eigenverschulden, insbesondere auch, zumal er bereits schulische Verkehrserziehung genossen habe und von Lehrer und Eltern auf die Gefahren bei der Ausübung des Rodelsports aufmerksam gemacht worden sei. Mangels eines Verschuldens des Erstbeklagten am Unfall könne dieses Eigenverschulden des Klägers nicht unberücksichtigt bleiben.

Den Revisionsausführungen kann nicht gefolgt werden. Daß eine Verschuldenshaftung im Hinblick auf die Bestimmung des § 87 Abs 3 StVO und die für eine solche Haftung geltenden Beweislastregeln vom Erstgericht zu Recht verneint wurde, hat der Kläger im Rechtsmittelverfahren nicht mehr bestritten. Zutreffend sind die Unterinstanzen hinsichtlich der gegenüber der Verschuldenshaftung ein Minus darstellenden Gefährdungshaftung (ZVR 1966/283; 1978/304, 1984/238 ua) davon ausgegangen, daß bei dem vom Halter zu erbringenden Befreiungsbeweis im Sinne des § 9 Abs 2 EKHG nicht aufklärbare Ungewißheiten über wesentliche Einzelheiten des Unfallsherganges zu dessen Lasten gehen (ZVR 1968/90, 1970/91, 1984/332 uva).

Demgemäß ist vorliegendenfalls in der Frage der Gefährdungshaftung die für die beklagten Parteien ungünstigere Variante, nämlich, daß die Rodler für den Erstbeklagten durch 2,5 Sekunden wahrnehmbar waren und er bei entsprechender Reaktion das Fahrzeug noch rechtzeitig anhalten und solcherart den Unfall gänzlich vermeiden hätte können, zugrundezulegen. Daß demnach ein Befreiungsbeweis nicht erbracht wurde, wird auch in der Revision nicht bestritten. Die Revisionswerber begehren eine Schadensteilung, weil dem Kläger im Hinblick auf sein Alter und die erfolgten Belehrungen ein Verschulden am Unfall zuzurechnen sei. Der in diesem Zusammenhang von ihnen zunächst geforderten Feststellungen bedarf es aus rechtlichen Gründen nicht. Daß der Kläger belehrt worden war, steht ohnehin fest. Gerade auch der Umstand, daß er und die anderen Kinder üblicherweise beim Rodeln vor der Kreuzung angehalten haben, legt den von den Unterinstanzen gezogenen Schluß nahe, daß sich der siebeneinhalbjährige Kläger bei seiner Fahrt mit dem fast dreizehnjährigen Stefan K*** offenbar auf dessen richtiges Fahrverhalten verlassen hat. Da das festgestellte Fahrtempo von 15 km/h nicht hoch war, mußte er zunächst nicht erkennen, daß Stefan K*** vor der Kreuzung keine Bremsung vornehmen werde. In dem Augenblick, da ihm die unterlassene Bremsung hätte auffallen müssen, hätte er zwar selbst bremsen können. Ob dies im Hinblick auf die sodann nur noch verkürzt vorhandene Bremsstrecke und seine alleinige Bremsung den Unfall verhindert oder die Unfallsfolgen für den Kläger, zumindest verringert hätte - tatsächlich hatte die Rodel im Unfallsaugenblick die Fahrlinie des PKW zum überwiegenden Teil bereits passiert, bei verspäteter oder ungenügender Bremsung wäre allenfalls ihr Vorderteil mit dem Kläger direkt erfaßt worden - ist aber zu bezweifeln. Jedenfalls kann aber daraus, daß der Kläger in diesem Augenblick hinsichtlich eines eigenen Bremsentschlusses versagte, also nicht sofort selbst reagierte, im Hinblick auf sein geringes Alter von siebeneinhalb Jahren, in welchem die Einsichts- und Entschlußfähigkeit noch gering sind, kein zurechenbares Verschulden abgeleitet werden. Im Sinne des analog anzuwendenden § 1310 ABGB (vgl. Reischauer in Rummel ABGB Rdz 14 zu § 1310) ist daher vorliegendenfalls eine Mithaftung des Klägers für seine Beschädigung zu verneinen.

Der Revision konnte sonach kein Erfolg zuteil werden. Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf § 52 ZPO.

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