OGH 14Ob115/86

OGH14Ob115/8615.7.1986

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon.Prof.Dr. Petrasch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kuderna und Dr. Gamerith sowie die Beisitzer Dr. Rupert Dollinger und Dr. Willibald Aistleitner als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei I*** I***

U***- UND S*** A*** in Wien 1.,

Tegetthoffstraße 7, vertreten durch Dr. Heinz Bauer und Dr. Harald E. Hummel, Rechtsanwälte in Innsbruck, wider die beklagte Partei Helmut M***, Kraftfahrer, Bruck, Imming Nr. 2, vertreten durch Dr. Max Dengg, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen restlicher S 330.000 samt Anhang, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes in arbeitsgerichtlichen Rechtsstreitigkeiten vom 27. Februar 1986, GZ. 1 a Cg 22/85-33, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeitsgerichtes Innsbruck vom 28. Mai 1985, GZ. 2 Cr 149/84-14, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß der Beklagte schuldig erkannt wird, der klagenden Partei den Betrag von S 125.000,-- samt 4 % Zinsen seit 7. Februar 1984 zu bezahlen, und das Mehrbegehren von S 375.000,-- samt 4 % Zinsen seit 7. Februar 1984 abgewiesen wird.

Die Verfahrenskosten aller drei Instanzen werden gegeneinander aufgehoben.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Beklagte verursachte am 24. Oktober 1983 als Lenker eines LKW-Zuges (Sattelschleppers) seines damaligen Dienstgebers Max R*** auf der Brennerautobahn in der Nähe des Zollamts Brenner durch Auffahren auf einen LKW der dänischen Firma S*** einen Verkehrsunfall; hiedurch entstand am LKW des Max R*** ein Schaden von S 500.000, den die klagende Partei als Kaskoversicherer ersetzte. Der Schadenersatzanspruch des Dienstgebers gegen den Beklagten ist somit gemäß § 67 VersVG auf die klagende Partei übergegangen.

Sie begehrt vom Beklagten Zahlung von S 500.000,-- sA mit der Behauptung, er habe den Auffahrunfall mit auffallender Sorglosigkeit verschuldet, weil er das Verkehrsgeschehen nicht beobachtet und sich während der Fahrt eine Zigarette gedreht habe. Dadurch sei er mit 50 km/h auf den am rechten Fahrbahnrand stehenden, ordnungsgemäß abgestellten und abgesicherten LKW der Firma S*** aufgefahren. Der Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und wendete ein, daß ihn am Unfall entweder kein Verschulden treffe oder eine entschuldbare Fehlleistung vorliege; höchstens habe er einen minderen Grad des Versehens zu vertreten. Der LKW der Firma S*** sei ohne Absicherung auf dem ersten (rechten) Fahrstreifen der Autobahn gestanden. Der Beklagte sei durch die Lichter einer Tankstelle so irritiert worden, daß er die Situation nicht überblickt habe. Er nehme das richterliche Mäßigungsrecht aus den Gründen des § 2 Abs 2 DHG in Anspruch.

Das Erstgericht sprach der klagenden Partei S 330.000 sA zu und wies das Mehrbegehren von S 170.000 sA - insoweit unbekämpft - ab.

Es traf folgende Feststellungen:

Kaj Evald V*** mußte den Sattelschlepper der Firma S*** infolge eines Staus beim Zollübergang am 24. Oktober 1983 gegen 2 Uhr nachts verkehrsbedingt anhalten. Er stellte den Sattelzug etwa 250 m vor der Einfahrt zum Zollamtsplatz ungefähr auf der Höhe der dortigen Aral-Tankstelle einen halben Meter von der Leitschiene entfernt ab und ließ das Begrenzungslicht eingeschaltet. Als sich die Kolonne nach einer Wartezeit von einer halben Stunde wieder in Bewegung setzte, bemerkte V***, daß der Fahrer des vor ihm haltenden LKWs offenbar eingeschlafen war, und stieg aus, um ihn zu wecken. Als er dort hinkam, begann dieses Fahrzeug anzufahren, worauf er zu seinem LKW zurückging, um die Fahrt fortzusetzen. Er stand gerade vor der Motorhaube seines Fahrzeuges, als sich der Unfall ereignete.

Der Beklagte fuhr gegen 0,30 Uhr von Innsbruck weg und wurde wegen des Rückstaus beim Zollamt Brenner von der Gendarmerie schon am Parkplatz Nößlach angehalten und angewiesen, dort zu warten. Gegen 1,50 Uhr nachts konnte er - gut ausgeruht - seine Fahrt als erster einer LKW-Kolonne Richtung Brenner fortsetzen. Ungefähr auf Höhe des Gasthauses "F***" in Brennersee sah er zum Zollamtsplatz hinauf und wollte sich, da er keinen Rückstau von Schwerfahrzeugen auf der Autobahn wahrnahm, während der Fahrt eine Zigarette drehen. Von dieser Tätigkeit in Anspruch genommen, erkannte er den am rechten Fahrbahnrand abgestellten LKW der Firma S*** trotz ausreichender Beleuchtung durch Restlicht der Aral-Tankstelle und die Begrenzungslichter nicht rechtzeitig. Er unternahm noch den Versuch, den LKW-Zug auf den zweiten Fahrstreifen zu lenken, fuhr aber, da es für ein Ausweichen und ein Bremsmanöver zu spät war, mit unverminderter Geschwindigkeit von etwa 50 km/h auf den stehenden Sattelzug auf. Der Unfall ist nicht auf Irritierung des Beklagten durch die Lichter des stehenden Sattelzuges oder der Tankstelle, sondern auf seine mangelnde Aufmerksamkeit zurückzuführen.

Der Beklagte wurde mit Urteil des Bezirksgerichtes Innsbruck vom 10. Februar 1984 wegen Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB - Kaj Evald V*** wurde bem Unfall leicht verletzt - zu einer Geldstrafe verurteilt. Max R*** entließ (richtig wohl: kündigte) den Beklagten nach diesem Verkehrsunfall, jedoch nicht wegen seines Verschuldens, sondern weil er seither ein Fahrzeug weniger im Einsatz hatte. Der Beklagte wurde dadurch arbeitslos. Er hat für seine Ehefrau und zwei minderjährige Kinder zu sorgen.

Das Erstgericht war der Ansicht, daß der Kläger den Unfall grob fahrlässig herbeigeführt habe, weshalb die Schadenersatzansprüche trotz Ablaufs der Sechsmonatsfrist des § 6 DHG nicht erloschen seien. Etwas mehr Aufmerksamkeit hätte genügt, das Auffahren auf den gut sichtbaren dänischen Sattelzug zu verhindern. Seit der DHG-Novelle 1983 könne das Gericht auch bei grober Fahrlässigkeit des Schädigers den Ersatz aus Gründen der Billigkeit mäßigen. Unter Bedachtnahme auf die erschwerten Bedingungen einer Nachtfahrt und die mit der Dienstleistung als Fernfahrer überhaupt verbundene hohe Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts sowie die Sorgepflichten des Beklagten entspreche eine Mäßigung des Ersatzes auf S 330.000 (etwa zwei Drittel des Schadens) der Billigkeit.

Das Berufungsgericht verhandelte die Rechtssache gemäß § 25 Abs. 1 Z 3 ArbGG von neuem und gab der Berufung des Beklagten nicht Folge. Die zweite Instanz gelangte im wesentlichen zu den selben Feststellungen wie das Erstgericht, jedoch mit folgenden Ergänzungen und Abänderungen:

Daß unmittelbar vor dem vom Beklagten gelenkten Sattelschlepper ein anderer LKW fuhr, dem Kläger die Sicht auf den stehenden Lastzug versperrte und erst nach links auslenkte, als der Beklagte nicht mehr unfallverhindernd reagieren konnte, ist nicht erwiesen. Die Sicht auf den am rechten Fahrbahnrand stehenden LKW der Firma S***, der eine große weiße Hecktüre hatte, betrug mindestens 200 m und unter der Voraussetzung, daß auf der Gegenfahrbahn kein Verkehr war, mindestens 400 m. Diese Sicht war unbehindert und durch Streulicht der Tankstelle nicht beeinflußt. Der Beklagte hielt eine Fahrgeschwindigkeit von ca. 55 km/h ein. Er prallte nach einer Linkslenkung um etwa eine halbe LKW-Breite mit einer auf etwa 25 km/h verringerten Geschwindigkeit auf den stehenden Lastzug auf. Sichtweite und Fahrgeschwindigkeit hätten es problemlos zugelassen, ohne Gefährdung oder Behinderung anderer Verkehrsteilnehmer links an dem stehenden Fahrzeug vorbeizulenken oder hinter diesem anzuhalten. Der Beklagte verdiente vor dem Unfall einschließlich Diäten 18.000 bis 19.000 S netto monatlich. Er ist seither arbeitslos. Er hat für seine nicht berufstätige Ehefrau und zwei Kinder (derzeit 4 und 8 Jahre alt) zu sorgen, ist vermögenslos und hat Schulden von S 300.000,--.

Das Berufungsgericht war der Ansicht, ein minderer Grad des Versehens könne schon deshalb nicht angenommen werden, weil der Beklagte durch das Drehen einer Zigarette seine Aufmerksamkeit bewußt vom Verkehrsgeschehen abgelenkt habe, obwohl er mit dem schwer beladenen Lastzug zur Nachtzeit auf der Autobahn unterwegs gewesen sei. Die Sicht auf den stehenden LKW hätte ein problemloses Bremsen oder Ausweichen ermöglicht; daß der Beklagte den leicht vermeidbaren Unfall nicht verhindert habe, beweise, daß seine Sorglosigkeit erheblich gewesen sei, so daß er grobe Fahrlässigkeit zu verantworten habe. Das Berufungsgericht billige die Erwägungen, auf die das Erstgericht die Mäßigung des Ersatzes um etwas mehr als ein Drittel gegründet habe, sehe aber keine Möglichkeit für eine weitergehende Mäßigung.

Rechtliche Beurteilung

Die gegen das Urteil des Berufungsgerichtes wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobene Revision des Beklagten ist teilweise berechtigt. Mit der Mängelrüge macht der Beklagte der rechtlichen Beurteilung zuzuordnende Feststellungsmängel geltend, die aber nicht vorliegen. Ob der Beklagte, als er erstmals Sicht auf den dänischen Sattelschlepper hatte, auch gleichzeitig erkennen konnte, ob dieses Fahrzeug in Bewegung war oder still stand, ist unerheblich, weil die zweite Instanz zusammenfassend feststellte, daß es dem Beklagten auf Grund der Sichtweite und der eingehaltenen Geschwindigkeit problemlos möglich gewesen wäre, am angehaltenen dänischen LKW-Zug vorbeizufahren oder hinter diesem stehenzubleiben. Da der Lenker dieses Fahrzeuges das "rückwärtige Begrenzungslicht" (vgl. § 14 Abs 3 und 4 KFG) eingeschaltet ließ (womit er jedenfalls der Bestimmung des § 60 Abs 3 StVO entsprochen hatte) und der angehaltene dänische LKW auch aus sonstigen Gründen (Restlicht der Aral-Tankstelle; große weiße Türe) für den Beklagten gut sichtbar war, kann die Frage, ob der dänische Lenker darüber hinaus verpflichtet gewesen wäre, Vorkehrungen gemäß § 89 Abs 2 StVO zu treffen (vgl ZVR 1970/245), auf sich beruhen. Auf den Grad des Verschuldens des Beklagten bleibt es auch ohne Einfluß, daß der Fahrer des dänischen Sattelschleppers nicht sofort weiterfuhr, als sich die LKW-Kolonne vor ihm wieder in Bewegung zu setzen begann; er konnte nicht sofort aufschließen, weil der unmittelbar vor ihm stehende LKW zunächst stehenblieb. Kaj Evald V*** stieg daher aus, um den vermutlich eingeschlafenen Lenker zu wecken. Als er zu seinem LKW zurückkehrte, um die Fahrt fortzusetzen, ereignete sich bereits der Unfall. Dem Lenker des dänischen LKWs fällt daher ein vorschriftswidriges Halten (§ 46 Abs 4 lit e StVO), das über das durch die Verkehrslage erzwungene Zum-Stillstand-Bringen seines Fahrzeuges hinausging (§ 2 Abs 1 Z 26 StVO) nicht zur Last. Grobe Fahrlässigkeit hat ein Arbeitnehmer nach ständiger Rechtsprechung dann zu vertreten, wenn eine außergewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht vorliegt und der Eintritt des Schadens nicht nur als möglich, sondern als wahrscheinlich vorauszusehen war, es sich also um ein Versehen handelt, das mit Rücksicht auf seine Schwere oder Häufigkeit nur bei besonders leichtsinnigen oder nachlässigen Menschen vorkommt und sich dabei auffallend aus der Menge der unvermeidlichen Fahrlässigkeitshandlungen des täglichen Lebens heraushebt; dabei ist im Einzelfall immer auf die persönlichen Verhältnisse des Schädigers abzustellen (SZ 48/39; Arb 9381; Arb. 9702; Arb. 10.071; RdW 1984, 181 ua.).

Diese Voraussetzungen haben die Vorinstanzen mit Recht bejaht. Der Beklagte war wegen Staubildungen beim Zollamt Brenner bereits am Parkplatz Nößlach von der Gendarmerie angehalten worden. Er mußte daher, als er Richtung Zollamt Brenner weiterfahren durfte, mit Kolonnenbildungen durch wartende Lastkraftwagen rechnen. Trotzdem ließ er sich bei Annäherung an das Zollamt Brenner - die Unfallsstelle ist von der Einfahrt zum Zollamtsplatz nur mehr 250 m entfernt - durch das Drehen einer Zigarette für eine beträchtliche Zeitspanne von der gerade in dieser Phase besonders wichtigen Beobachtung des Verkehrsgeschehens derart ablenken, daß er auf eine Sichtstrecke von mindestens rund 200 m, die er bei einer Geschwindigkeit von 55 km/h in etwa 13 Sekunden durchfuhr, auf den gut sichtbaren dänischen LKW so spät reagierte, daß er nicht mehr ausweichen konnte und mit einer Geschwindigkeit von etwa 25 km/h auffuhr. In diesem Verhalten liegt eine außergewöhnliche Unaufmerksamkeit, die sich aus der Menge der unvermeidlichen Fahrlässigkeitshandlungen des täglichen Lebens auffallend heraushebt. Wenn der Beklagte die vor ihm liegende Fahrbahn nur einigermaßen beobachtet hätte, wäre ihm ein Ausweichen oder Anhalten problemlos möglich gewesen.

Teilweise berechtigt ist die Revision des Beklagten aber, soweit es um die Mäßigung des Ersatzes aus Gründen der Billigkeit geht. Zugunsten des Beklagten fällt von den in § 2 Abs 2 DHG beispielsweise erwähnten Umständen vor allem ins Gewicht, daß das Lenken eines Schwerlastkraftwagens im internationalen Fernverkehr zu den "schadensgeneigten Tätigkeiten" gehört (SZ 49/8; Arb 9153, 9199, 9467), das mit einem höheren Wagnis verbunden ist als die Arbeit der meisten anderen Arbeitnehmer (Arb 10.071). Dieses Wagnis war mit einem Monatsentgelt von S 18.000 bis S 19.000 (einschließlich Diäten) nur unzureichend abgegolten. Mit der Arbeit eines Fernfahrers ist schon unter normalen Umständen die nur schwer vermeidbare Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Schadens verbunden, die durch zusätzliche Risken (hier: Nachtfahrt, Staubildung) noch gesteigert wird. Bedacht zu nehmen ist aber auch auf Umstände, die in der beispielsweisen Aufzählung des § 2 Abs. 2 DHG nicht erwähnt sind. Wenn es auch bei der Entscheidung über die Ersatzpflicht vor allem auf das Ausmaß des Verschuldens des Dienstnehmers ankommt (das hier an der unteren Grenze der groben Fahrlässigkeit liegt) und damit die Mäßigung nicht so weit gehen kann wie bei Schädigungen durch alltägliche kleine Fahrlässigkeiten, so muß doch auf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse sowie die Sorgepflichten des Beklagten angemessen Rücksicht genommen werden (Arb 9153). Interessen des unmittelbar Geschädigten stehen dem nicht entgegen, weil er seinen Schaden durch den Abschluß einer Kaskoversicherung decken konnte und hier auch gedeckt hat. Der von den Vorinstanzen festgesetzte Ersatzbetrag von S 330.000 ist unter diesen Umständen zu hoch bemessen. Dem Beklagten ist es unzumutbar, diesen Betrag aufzubringen, selbst wenn er in absehbarer Zeit wieder einen Arbeitsplatz erhält. Unter Bedachtnahme auf den Grad seines Verschuldens entspricht eine Mäßigung des Ersatzes auf ein Viertel des Schadens ds S 125.000,-- der Billigkeit.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf die §§ 40, 43 Abs 1 und 50 ZPO. Ein teilweiser Kostenzuspruch an den Beklagten kam trotz überwiegenden Obsiegens nicht in Betracht, weil der größere Teil des Verfahrensaufwandes auf die Klärung des Ausmaßes seines Verschuldens entfiel. In erster Instanz hat der Beklagte zudem Kosten nicht verzeichnet.

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