OGH 11Os95/86

OGH11Os95/8627.6.1986

Der Oberste Gerichtshof hat am 27. Juni 1986 durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Piska als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Kießwetter, Dr.Walenta, Dr.Schneider und Dr.Felzmann als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Dr.Steinberger als Schriftführers, in der Strafsache gegen Andreas L*** und Helga S*** wegen des Verbrechens des Mordes nach dem § 75 StGB und anderer Delikte über die Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung der Angeklagten Helga S*** sowie die Berufung des Angeklagten Andreas L*** gegen das Urteil des Geschwornengerichtes beim Landesgericht für Strafsachen Wien vom 4.Februar 1986, GZ 20 s Vr 4437/85-67, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Nichtigkeitsbeschwerde der Angeklagten Helga S*** wird Folge gegeben und es werden der Wahrspruch der Geschwornen hinsichtlich der Hauptfrage 5, gemäß den §§ 344, 289 StPO auch hinsichtlich der den Mitangeklagten Andreas L*** betreffenden Hauptfrage 1 sowie der Eventualfrage 2 und das Urteil, das im übrigen (II 1 bis 3) unberührt bleibt, soweit es sich in den Schuldsprüchen (I 1 und I 2) auf diese Teile des Wahrspruches gründet, sowie im Strafausspruch (einschließlich des Ausspruches über die Vorhaftanrechnungen) aufgehoben und die Sache zu neuerlicher Verhandlung und Entscheidung im Umfang der Aufhebung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Mit ihren Berufungen werden die beiden Angeklagten auf diese Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurden der am 14.Februar 1965 geborene Andreas L*** und die am 27.Juni 1961 geborene Helga S*** auf Grund des Wahrspruchs der Geschwornen des Verbrechens des Mordes nach dem § 75 StGB (I 2), Andreas L*** überdies des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung nach dem § 87 Abs. 1 StGB (I 1), des Vergehens der schweren Körperverletzung nach den §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 1 StGB (II 1), des Vergehens des Quälens oder Vernachlässigens eines Unmündigen, Jugendlichen oder Wehrlosen nach dem § 92 Abs. 1 StGB (II 2) und des Vergehens der Körperverletzung nach dem § 83 Abs. 1 StGB (II 3) schuldig erkannt. Die Geschwornen bejahten - soweit für das Rechtsmittelverfahren von Bedeutung - im Zusammenhang mit dem am 6.April 1985 eingetretenen Tod des Raphael S*** die im Sinn der Anklage gestellten, Andreas L*** bzw. Helga S*** betreffenden Hauptfragen 1 bzw. 5 (nach Mord an Raphael S***) sowie die Andreas L*** allein betreffende Eventualfrage 2 (nach absichtlicher schwerer Körperverletzung mit tödlichem Ausgang) jeweils stimmeneinhellig, wobei sie die vorsätzliche Tötungshandlung bei beiden Angeklagten (abweichend von der Anklage nur) in der vorsätzlichen Unterlassung der Herbeiholung ärztlicher Hilfe erblickten und aussprachen, daß die dem Mord vorausgegangene, von Andreas L*** allein begangene absichtliche schwere Körperverletzung nicht zum Tod des Raphael S*** geführt habe. Die Helga S*** betreffenden Eventualfragen nach absichtlicher schwerer Körperverletzung nach dem § 87 Abs. 1 und 2 StGB, Körperverletzung mit tödlichem Ausgang nach den §§ 83 Abs. 1, 86 StGB, Quälen oder Vernachlässigen eines Unmündigen, Jugendlichen oder Wehrlosen nach dem § 92 Abs. 2 und 3 StGB sowie Vergehen der Unterlassung der Verhinderung einer mit Strafe bedrohten Handlung nach dem § 286 Abs. 1 StGB verneinten die Geschwornen jeweils stimmeneinhellig. Nur die Angeklagte Helga S*** ficht den sie betreffenden Schuldspruch mit einer auf die Z 6 des § 345 Abs. 1 StPO gestützten Nichtigkeitsbeschwerde an, in der sie das Unterbleiben einer nach dem Vorliegen eines Zustandes der Zurechnungsunfähigkeit gerichteten Zusatzfrage sowie die Unterlassung der Stellung einer Eventualfrage wegen des Vergehens der fahrlässigen Tötung nach dem § 80 StGB (allenfalls auch der fahrlässigen Tötung unter besonders gefährlichen Verhältnissen nach dem § 81 Z 1 StGB) rügt. Den Strafausspruch bekämpfen beide Angeklagten mit Berufung.

Rechtliche Beurteilung

Der Beschwerde kommt Berechtigung zu.

Gemäß dem § 313 StPO ist eine Zusatzfrage zu stellen, wenn in der Hauptverhandlung Tatsachen vorgebracht werden, die - wenn sie als erwiesen angenommen werden - die Strafbarkeit ausschließen oder aufheben würden. Desgleichen ist gemäß dem § 314 Abs. 1 StPO eine entsprechende Eventualfrage an die Geschwornen zu richten, falls nach dem Tatsachenvorbringen in der Hauptverhandlung - unter der weiteren, bereits erwähnten Voraussetzung - die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat unter ein anderes, nicht strengeres (als das in der Anklageschrift angeführte) Strafgesetz fiele. Ein solches, den Gerichtshof zur Stellung einer Zusatzfrage bzw. einer Eventualfrage verpflichtendes Tatsachenvorbringen kann sich sowohl aus der Verantwortung des Angeklagten als auch aus sonstigen in der Hauptverhandlung im Rahmen des Beweisverfahrens hervorgekommenen Umständen ergeben. Dabei kommt es auf das Maß der Glaubwürdigkeit eines solchen Tatsachenvorbringens nicht an, weil die Beurteilung, ob eine solcherart behauptete Tatsache als erwiesen anzusehen ist, ausschließlich den Geschwornen obliegt. Der Schwurgerichtshof ist demnach bei Vorliegen eines nach den §§ 313, 314 StPO erheblichen Tatsachenvorbringens in der Hauptverhandlung zur Stellung einer Zusatz- bzw. Eventualfrage verpflichtet (vgl. hiezu Mayerhofer/Rieder, Das österreichische Strafrecht, 2. Teil,

2. Halbband, E Nr 13, 14, 15 und 26 zu § 313 StPO sowie E Nr 17, 18, 19 und 39 zu § 314 StPO).

Mit Recht weist die Beschwerdeführerin, deren Verschulden - wie bereits erwähnt - nach der von den Geschwornen bejahten, sie betreffenden Hauptfrage 5 darin erblickt wurde, daß sie am 6.April 1985 vorsätzlich die Herbeiholung ärztlicher Hilfe für ihr unmittelbar zuvor von Andreas L*** absichtlich schwer verletztes Kind Raphael S*** - ebenso wie Andreas L*** - unterließ und hiedurch das Kind vorsätzlich tötete, auf Verfahrensergebnisse hin (siehe insbesonders S 177 ff./II), wonach sie - sinngemäß zusammengefaßt - nach dem ihr von Andreas L*** am 4.April 1985 vorsätzlich zugefügten Kieferbruch (Punkt II. 1 des Urteilssatzes) infolge notwendiger Einnahme schmerzstillender Tabletten gleichgültig und reaktionsunfähig gewesen sei (vgl. S 387/I), überdies vor weiteren körperlichen Angriffen L*** auf sie für den von ihm durch diverse Verhaltensweisen eindeutig abgelehnten Fall der Herbeiholung eines Arztes Angst gehabt und sich durch den von L*** gewaltsam herbeigeführten (bewußtlosen) Zustand ihres Kindes in einem Schock befunden habe. Überdies zitiert die Beschwerdeführerin aus dem Gutachten der Dr. Inge K*** zutreffend, daß die Persönlichkeit des Andreas L*** - dem sie sexuell hörig war - nach der Auffassung dieser Sachverständigen auf sie eine "stärkere Kraft als sämtliche mütterliche Verpflichtungen hatte und ihr gesamtes Wertgefüge umstrukturiert war" (vgl. u.a. S 225/II).

Auf Grund dieser in der Hauptverhandlung hervorgekommenen Verfahrensergebnisse, die - ihre Richtigkeit vorausgesetzt - das Vorliegen einer wesentlichen psychophysischen Beeinträchtigung der Beschwerdeführerin im Tatzeitpunkt zumindest in den Bereich der Möglichkeit rückten, wäre insbesonders zur Klärung der nach der Verantwortung der Angeklagten entscheidend eingeschränkten Dispositionsfähigkeit unabhängig davon, daß der gerichtsmedizinische Sachverständige Dr. Heinz P*** das Vorliegen eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes verneinte (vgl. S 227/II i.V.m. ON 37/I), den Geschwornen vom Schwurgerichtshof eine in ihre Entscheidungskompetenz fallende Zusatzfrage in Richtung des § 11 StGB zu stellen gewesen (§ 313 StPO).

Die den Geschwornen vorliegenden Ergebnisse der Hauptverhandlung wurden entgegen der Vorschrift des § 314 Abs. 1 StPO aber auch durch die Hauptfrage 5 nach Mord bzw. die bereits erwähnten Eventualfragen nicht in ihrem vollen Umfang erfaßt.

Helga S*** hatte sich der ihr zur Last gelegten Tathandlungen nicht schuldig bekannt, jeglichen Tötungsvorsatz bestritten und erklärt, mit dem Tod des Kindes nicht gerechnet zu haben (vgl. u.a. S 240/II).

Bei diesem Vorbringen der Angeklagten lagen den Geschwornen Tatsachen vor, die neben der ihnen von der Anklage beigemessenen auch noch eine für die Betroffene günstigere Deutung insofern offen ließen, als die ihr angelastete Tathandlung allenfalls auch unter den in der Beschwerde angeführten, nicht Tötungsvorsatz, sondern nur Fahrlässigkeit erfordernden Tatbestand des Vergehens der fahrlässigen Tötung nach dem § 80 StGB fallen könnte. Der Schwurgerichtshof wäre somit gemäß dem § 314 StPO (auch) verpflichtet gewesen, neben der im Sinn der Anklage gestellten Hauptfrage u.a. auch eine Eventualfrage in Richtung des Vergehens nach dem § 80 StGB zu stellen, weil die Geschwornen nur hiedurch in die Lage versetzt werden konnten, die Tat auch unter diesem Gesichtspunkt unter Abwägung der für die eine oder andere Schuldform sprechenden Beweisergebnisse zu prüfen.

Der Nichtigkeitsbeschwerde der Angeklagten Helga S*** war daher Folge zu geben.

Wenngleich der von Helga S*** geltend gemachte Nichtigkeitsgrund den Mitangeklagten Andreas L***, der Nichtigkeitsgründe nicht geltend machte, nicht berührt, erachtete der Oberste Gerichtshof doch, im Sinn der §§ 344, 289 StPO das angefochtene Urteil im Wahrspruch der Geschwornen bezüglich dieses Angeklagten zu der Hauptfrage 1, der Eventualfrage 2, den entsprechenden Schuldsprüchen und im gesamten Strafausspruch gleichfalls aufzuheben, weil die angeführten Teile des Wahrspruches und die darauf beruhenden Schuldsprüche der beiden Angeklagten im Zusammenhang mit dem am 6.April 1985 eingetretenen Tod des Raphael S*** in einem derartigen engen inneren Zusammenhang stehen, daß die Aufrechterhaltung des Wahrspruches zur Hauptfrage 1 und zur Eventualfrage 2 bei gleichzeitiger Aufhebung des Wahrspruches zur Hauptfrage 5, bzw. die Aufrechterhaltung und Aufhebung der entsprechenden Schuldsprüche, ausgeschlossen ist, sollen nicht insbesonders die Geschwornen in ihrer Aufgabe beim zweiten Rechtsgang behindert oder in einer der Sache abträglichen Weise beeinflußt bzw. unvereinbare Sachausgänge in Kauf genommen werden (SSt 39/18).

Es war daher über die Beschwerde der Helga S*** und aus Anlaß dieses Rechtsmittels gemäß dem § 285 e StPO in nichtöffentlicher Sitzung spruchgemäß zu erkennen.

Mit ihren Berufungen waren die beiden Angeklagten auf diese Entscheidung zu verweisen.

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