OGH 2Ob2/86

OGH2Ob2/8618.2.1986

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Melber, Dr. Huber und Dr. Egermann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Ernst W***, Elektriker, Justgasse 26/5/3, 1210 Wien, vertreten durch Dr. Gottfried Eisenberger, Dr. Jörg Herzog, Rechtsanwälte in Graz, wider die beklagte Partei Josef T***, Pensionist, 3525 Rabenhof 12, Sallingberg, vertreten durch Dr. Heinrich Kammerlander jun., Rechtsanwalt in Graz, wegen restlicher S 75.577,--s.A., infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes vom 16. Oktober 1985, GZ 2 R 169/85-35, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz vom 11. Juli 1985, GZ 12 Cg 53/84-29, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Der Beklagte hat dem Kläger die mit S 3.309,75 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten S 480,-- Barauslagen und S 257,25 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 5. August 1983 fuhr der Kläger mit seinem PKW im Gemeindegebiet von Pingau auf der Wechselbundesstraße in Richtung Wien. In seiner Fahrtrichtung weist diese Straße eine Steigung von 3-4 % auf, beschreibt eine Rechtskurve und verfügt über drei markierte Fahrstreifen. Der mittlere Fahrstreifen ist vom rechten durch eine Leitlinie und vom linken durch eine Sperrlinie, neben der sich links eine Leitlinie befindet, getrennt. Auf dem rechten Fahrstreifen fuhr eine Fahrzeugkolonne, der Kläger benützte den mittleren Fahrstreifen und hielt eine Geschwindigkeit von ca. 85 km/h ein. Wegen der Fahrzeugkolonne und der Kurve hatte er nur Sicht auf etwa 75 m, sein Anhalteweg hätte ca. 56 m betragen. Der Beklagte fuhr mit seinem PKW in der Gegenrichtung mit einer Geschwindigkeit von 90-95 km/h bergab und begann einen LKW zu überholen. Als er den Fahrstreifenwechsel bereits durchgeführt hatte, bestand erstmals Sicht auf eine Entfernung von 75 m zu dem denselben Fahrstreifen benützenden entgegenkommenden Kläger. Der Beklagte, der wegen des LKW-Zuges keine Möglichkeit hatte, nach rechts zu lenken, nahm lediglich Gas weg, bremste aber nicht. Es kam zu einer streifenden Kollision der beiden Fahrzeuge. Der PKW des Klägers hinterließ vor der Kollision auf der trockenen Fahrbahn eine Bremsblockierspur von etwa 28 m. Dem Kläger wäre es bei erster Sicht auf den entgegenkommenden PKW möglich gewesen, den Unfall durch Lenken nach rechts zu vermeiden.

Gestützt auf das Alleinverschulden des Beklagten begehrt der Kläger einen Schadenersatzbetrag von S 75.577,--.

Der Beklagte vertritt die Ansicht, den Kläger treffe das Alleinverschulden oder zumindest ein erhebliches Mitverschulden. Außerdem wendete der Beklagte seinen Schaden von S 18.000,-- aufrechnungsweise ein.

Das Erstgericht sprach aus, daß die eingeklagte Forderung mit S 37.788,50 und die Gegenforderung mit S 9.000,-- zu Recht bestehe und der Beklagte daher schuldig sei, dem Kläger S 28.788,50 samt Zinsen zu bezahlen.

Das Erstgericht führte in rechtlicher Hinsicht aus, gemäß § 16 Abs1 lita und c StVO dürfe nicht überholt werden, wenn andere Straßenbenützer, insbesondere entgegenkommende, gefährdet oder behindert werden könnten, nicht genügend Platz für ein gefahrloses Überholen vorhanden sei und nicht einwandfrei erkannt werden könne, daß das Fahrzeug nach dem Überholvorgang in den Verkehr eingeordnet werden könne, ohne andere Straßenbenützer zu gefährden oder zu behindern. Nach ständiger Judikatur dürfe ein Lenker nur überholen, wenn er in der Lage sei, die gesamte Überholstrecke zu überblicken und sich von der Möglichkeit des gefahrlosen Überholens zu überzeugen. Bereits bei Bestehen abstrakter Möglichkeit einer Gefährdung oder Behinderung anderer Verkehrsteilnehmer durch das Überholen habe dieses Fahrmanöver zu unterbleiben. Gegen dieses Gebot hätten beide Lenker verstoßen. § 16 Abs2 litb StVO komme für den Kläger nicht zum Tragen, weil keine Sperrlinie gemäß § 55 Abs2 StVO vorhanden gewesen sei. Berücksichtige man, daß der Kläger den Unfall durch Auslenken nach rechts hätte verhindern können, sei eine Schadensteilung von 1 : 1 angemessen.

Das Berufungsgericht änderte das Ersturteil dahin ab, daß dem Klagebegehren vollinhaltlich stattgegeben wurde. Das Gericht zweiter Instanz führte aus, als Fahrbahnmitte im Sinne des § 12 Abs1 und des § 7 Abs3 StVO sei auf Grund der Bodenmarkierungen die Sperrlinie anzusehen, durch diese sei die Fahrbahn in zwei bergaufwärts führende und einen bergab führenden Fahrstreifen geteilt worden. Der Zusammenstoß habe daher auf der Fahrbahnhälfte des Klägers stattgefunden. Nach der neueren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs könnten auch einzelne Fahrzeuge im Sinne des § 7 Abs3 StVO mit unterschiedlicher Geschwindigkeit nebeneinanderfahren, im Zweifel habe nicht die Regel des Überholens, sondern die des Nebeneinanderfahrens zu gelten. Der Kläger habe nicht überholt, sondern ein zulässiges Nebeneinanderfahren vorgenommen. Letztlich spiele diese Qualifikation in diesem Fall aber keine entscheidende Rolle. Der Beklagte habe wegen der neben der Sperrlinie befindlichen Leitlinie grundsätzlich überholen dürfen, wegen der ungünstigen Sichtverhältnisse habe für ihn aber das Überholverbot nach § 16 Abs1 lita und c bzw. Abs2 litb StVO bestanden, gegen das er kraß verstoßen habe. Der Kläger habe hingegen darauf vertrauen dürfen, daß der Gegenverkehr dieses Überholverbot beachten und nicht in die Gegenfahrbahn eindringen werde. Aus der Bremsspur ergebe sich, daß der Kläger bei erster Sicht eine Vollbremsung eingeleitet habe. Daß diese Reaktion nicht unfallsverhütend gewesen sei, könne ihm nicht angelastet werden, zumal die beiden anderen Fahrstreifen durch andere Verkehrsteilnehmer besetzt gewesen seien und der Kläger daher höchstens einen Seitenabstand von 30 cm zum entgegenkommenden Fahrzeug hätte erreichen können. Ob bei dieser Sachlage mit den Fahrgeschwindigkeiten von 85 und 90 km/h ein Begegnungsverkehr anstoßfrei hätte durchgeführt werden können, sei fraglich. Dem Kläger sei daher ein Verstoß gegen Verkehrsvorschriften nicht anzulasten.

Das Berufungsgericht erklärte die Revision mit der Begründung für zulässig, die Auslegung des § 7 Abs3 StVO werde in Literatur und Rechtsprechung unterschiedlich gelöst.

Gegen das Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die auf den Anfechtungsgrund des § 503 Abs2 ZPO gestützte Revision des Beklagten mit dem Antrag, das Ersturteil wiederherzustellen. Der Kläger beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist entgegen der in der Revisionsbeantwortung vertretenen Ansicht, zulässig, weil die Frage, ob Überholen oder Nebeneinanderfahren anzunehmen ist, wenn sich nicht auf beiden Fahrstreifen Fahrzeugkolonnen befinden, noch immer zu Unklarheiten führt, weshalb ihr erhebliche Bedeutung im Sinne des § 502 Abs4 Z.1 ZPO zukommt. Die Revision ist jedoch nicht berechtigt. Wie das Berufungsgericht zutreffend ausführte, ging die neuere Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes bei Beurteilung der Frage, ob bei Vorhandensein von wenigstens zwei Fahrstreifen für die betreffende Richtung ein zulässiges Nebeneinanderfahren im Sinne des § 7 Abs3 StVO oder ein Überholen vorliegt, davon ab, daß auf beiden Fahrstreifen Fahrzeugkolonnen vorhanden sein müssen, um ein Nebeneinanderfahren anzunehmen. Der Oberste Gerichtshof hat Überholsituationen nicht nur dann verneint, wenn auf einem Fahrstreifen eine Kolonne vorhanden war, am anderen aber nur ein Fahrzeug (ZVR 1975/135 ua), sondern auch dann, wenn im Ortsgebiet sich auf jedem Fahrstreifen nur ein Fahrzeug bewegte (ZVR 1978/205, ZVR 1982/287 ua). In der Entscheidung 2 Ob 517/85 wurde allerdings im Interesse der Verkehrssicherheit ausgesprochen, das Vorbeibewegen eines einzelnen Fahrzeuges rechts neben einem anderen einzelnen Fahrzeug außerhalb des Ortsgebietes stelle auch bei Vorhandensein mehrerer Fahrstreifen für diese Fahrtrichtung einen Überholvorgang und kein Nebeneinanderfahren nach § 7 Abs3 StVO dar. Dem im rechten Fahrstreifen mit höherer Geschwindigkeit fahrenden Verkehrsteilnehmer wurde daher ein Mitverschulden an einem Unfall angelastet, bei dem der Lenker des links befindlichen langsameren Fahrzeuges einen Fahrstreifenwechsel nach rechts vornahm. Der vorliegende Fall ist jedoch anders gelagert. Im Gegensatz zur Entscheidung 2 Ob 517/85 befand sich hier nämlich das schnellere Fahrzeug im linken Fahrstreifen und im rechten Fahrstreifen überdies eine Fahrzeugkolonne. Die Möglichkeit, daß es zu einer Kollision mit einem auf dem rechten Fahrstreifen rascher nachkommenden Fahrzeug kommt, bestand daher nicht. Die für die genannte Entscheidung maßgebenden Gründe der Verkehrssicherheit bestehen hier also nicht. Das Fahrmanöver des Klägers ist als Nebeneinanderfahren im Sinne des § 7 Abs3 StVO zu qualifizieren. Beizupflichten ist dem Berufungsgericht auch dahin, daß im vorliegenden Fall als Fahrbahnmitte im Rechtssinn die Sperrlinie anzusehen ist. Es liegt daher kein Überholproblem vor, sondern ein Unfall, bei dem der Beklagte trotz Gegenverkehrs überholte und dabei die Fahrbahnmitte überfuhr, während der Kläger, der die rechte Fahrbahnhälfte beibehielt, zulässigerweise mit höherer Geschwindigkeit neben einer auf dem rechten Fahrstreifen befindlichen Fahrzeugkolonne fuhr. Entgegen der Ansicht des Revisionswerbers hat der Umstand, daß die Fahrbahn in Fahrtrichtung des Klägers eine Steigung aufwies, keinen Einfluß darauf, ob das Fahrmanöver als Überholen anzusehen ist. Die Anlage der Straße derart, daß bergauf zwei Fahrstreifen führen, hat offensichtlich den Zweck, den Verkehr flüssig zu gestalten und zu verhindern, daß raschere Fahrzeuge wegen eines, die Steigung nur langsam überwindenden Fahrzeuges ihre Geschwindigkeit erheblich herabsetzen müssen. Gerade in einem solchen Fall liegen aber nach ständiger Rechtsprechung die Voraussetzungen für ein Nebeneinanderfahren vor (ZVR 1984/197 ua).

Zutreffend verneinte daher das Berufungsgericht ein Mitverschulden des Klägers, der bei erster Sicht auf das Fahrzeug des Beklagten sofort mit einer Vollbremsung reagierte. Aus diesem Grund war der Revision ein Erfolg zu versagen.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

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