Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, daß das Ersturteil wieder hergestellt wird.
Die klagende Partei hat der beklagten Partei die mit S 7.808,35 bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens (darin enthalten S 880,- Barauslagen und S 629,85 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen zu bezahlen.
Text
Entscheidungsgründe:
Am 24.6.1983 gegen 22 Uhr ereignete sich in Linz auf der Kreuzung Hohe Straße - Prof.Anton Lutz-Weg ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger mit seinem PKW Mercedes 300 SEL und Georg F mit dem bei der beklagten Partei haftpflichtversicherten PKW BMW 320 der Ingeborg F beteiligt waren. Der Sachschaden des Klägers von S 40.000,- und sein Anspruch auf ein Schmerzengeld von S 16.000,- sind nicht strittig. Die beklagte Partei leistete hierauf eine Teilzahlung von S 23.334,-. Den Restbetrag samt Anhang begehrt der Kläger mit der Begründung, daß seinen Unfallsgegner wegen erheblicher überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit das Alleinverschulden treffe.
Nach der Meinung der beklagten Partei sei eine Veschuldensteilung von 2 : 1 zu Lasten des Klägers gerechtfertigt, weil der Kläger den Vorrang des Georg F verletz habe. Gegen die Klagsforderung wendete die beklagte Partei überdies die ihr angeblich zedierte Forderung ihrer Versicherungsnehmerin auf Ersatz ihres Schadens von S 67.493,- bis zur Höhe der Klagsforderung aufrechnungsweise ein.
Das Erstgericht sprach aus, daß die Klagsforderung mit S 4.666,-
zu Recht und die Gegenforderung nicht zu Recht bestehe; es gab demgemäß dem Klagebegehren mit S 4.666,- s.A. statt und wies das Mehrbegehren ab.
Das Berufungsgericht änderte das nur vom Kläger in seinem abweisenden Teil angefochtene Ersturteil dahin ab, daß es die Klagsforderung insgesamt zur Gänze als zu Recht bestehend erkannte und dem Klagebegehren voll statt gab. Es erklärte die Revision für nicht zulässig.
Gegen das Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die außerordentliche Revision der beklagten Partei mit dem Antrag auf Wiederherstellung des Ersturteils.
Der Kläger beantragt, die außerordentliche Revision als unzulässig zurückzuweisen, allenfalls ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die gegen das Berufungsurteil erhobene außerordentliche Revision der beklagten Partei ist zulässig und auch berechtigt. Das Erstgericht legt seiner Entscheidung den auf AS 65 bis 70 /S 5 bis 10 der Urteilsausfertigung) dargestellten Sachverhalt zugrunde. Darnach weist die Hohe Straße im Unfallsbereich Richtung Stadtzentrum ein Gefälle von 10 % auf. Die Fahrbahn ist 6,4 m breit. Rechts der Fahrbahn verläuft eine stark ansteigende Böschung, rund 4 m nach dem rechten Fahrbahnende befindet sich ein Zaun. Dahinter wachsen Bäume und Sträucher, die die Sicht auf die Unfallstelle behindern. Ein Fahrzeuglenker, der aus dem Prof.Anton Lutz-Weg kommend rund 2 m in die Fahrbahn der Hohe Straße einfährt, hat nach links Sicht auf rund 78 m. Der Prof.Anton Lutz-Weg mündet etwa im rechten Winkel in die Hohe Straße ein und ist durch das Vorrangzeichen 'Vorrang geben' gekennzeichnet.
Der Kläger, der aus dem Prof.Anton Lutz-Weg kam und nach rechts in die Hohe Straße einbiegen wollte, brachte sein Fahrzeug so zum Stillstand,daß die vordere Stoßstange etwa 2 m in die Fahrbahn der Hohe Straße hineinragte. Er ließ einen vom Pöstlingberg kommenden PKW passieren. Zur gleichen Zeit fuhr Georg F vom
Pöstlingberg Richtung Stadt. Er hielt in der Rechtskurve vor dem Kreuzungsbereich eine Geschwindigkeit von 90 km/h ein und sah aus einer Entfernung von 78 m den PKW des Klägers. Zur gleichen Zeit als Georg F in den Sichtbereich einfuhr, setzte der Kläger sein Fahrzeug wieder in Bewegung. Der Kläger, der im Augenblick des Anfahrens durch einen Blick nach links die Scheinwerfer des BMW wahrnehmen hätte können, während der Lichtschein des mit Fernlicht fahrenden BMW schon früher zu sehen war, blickte unmittelbar vor dem Einfahren in die Hohe Straße nach rechts und nahm daher den BMW nicht wahr. Beide Fahrzeuglenker bremsten unverzüglich, nachdem sie einander wahrgenommen hatten, konnten jedoch eine Kollision nicht verhindern. Falls Georg F die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h nicht überschritten hätte, wäre es ihm möglich gewesen, durch Bremsen mit einer Bremsverzögerung von 1,4 m/sec 2 oder durch Auslenken die Kollision zu verhindern. Das Erstgericht war der Auffassung, daß beide Lenker ein Verschulden treffe: Dem Kläger falle eine Vorrangverletzung, seinem Unfallsgegner die überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zur Last. Eine Vorrangverletzung wiege zwar im allgemeinen schwerer als andere Verkehrswidrigkeiten, die beträchtliche Geschwindigkeitsüberschreitung des Georg F rechtfertige jedoch eine Verschuldensteilung von 1 : 1. Eine Zession der Ersatzansprüche der Versicherungsnehmerin der beklagten Partei nahm das Erstgericht nicht als erwiesen an.
Nach der Rechtsansicht des Berufungsgerichtes falle dem Kläger keine Vorrangverletzung zur Last. Da er vor dem Anfahren bei einem Blick nach links nur den Lichtschein des sich näherenden BMW wahrnehmen habe können, habe er nicht damit rechnen müssen, daß der Lenker des Fahrzeuges die angeordnete Geschwindigkeitsbeschränkung nicht einhalte und er diesen allenfalls durch sein Einbiegen zum unvermittelten Bremsen oder zum Ablenken seines Fahrzeuges nötigen werde. Unmittelbar vor dem Anfahren habe der Kläger aber zutreffend seine Aufmerksamkeit nach rechts in die von ihm beabsichtigte Fahrtrichtung gerichtet.
Die Revisionswerberin wendet sich gegen die Heranziehung des Vertrauensgrundsatzes und wirft dem Berufungsgericht ein Abweichen von der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zur Frage der Anwendung der Vorrangbestimmungen vor. Der Vertrauensgrundsatz gelte nach der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes nicht in Bezug auf nicht wahrgenommene Verkehrsteilnehmer und komme auch demjenigen Verkehrsteilnehmer nicht zugute, der seinerseits nicht jede Vorsicht und Aufmerksamkeit anwende, die von ihm im Interesse der Verkehrssicherheit erwartet werde. Die Vorrangregeln kämen auch gegenüber nicht wahrgenommenen, aber bei gehöriger Aufmerksamkeit wahrnehmbaren Verkehrsteilnehmern zur Geltung.
Die außerordentliche Revision der beklagten Partei ist entgegen der Meinung des Klägers zulässig, weil die Rechtsansicht des Berufungsgerichtes zur Frage der Anwendbarkeit des Vertrauensgrundsatzes und der Vorrangregeln in der Tat mit der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes nicht im Einklang steht. Auch wenn die beklagte Partei vor oder während des Rechtsmittelverfahrens die ihr durch die bekämpfte Entscheidung auferlegte Leistung erbrachte, ist - entgegen der Meinung des Klägers - eine Beschwer der beklagten Partei zu bejahen, weil die Beschwer nur nach den prozessualen Kriterien der Differenz zwischen Sachantrag und Sacherledigung zu beurteilen ist (Fasching IV 20). In der Sache selbst ist davon auszugehen, daß der Kläger nach § 19 Abs 4 StVO gegenüber dem von Georg F gelenkten PKW wartepflichtig war. Nach der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes darf der im Nachrang befindliche Verkehrsteilnehmer in eine den Vorrang gewährende Straße nur einfahren, wenn er durch gehörige Beobachtung des vorrangigen Verkehrs in dessen tatsächlicher Gestaltung sich die Gewißheit verschafft hat, dies ohne Gefährdung oder auch nur Behinderung eines im Vorrang befindlichen Verkehrsteilnehmers unternehmen zu können. Diese Gewißheit ist nach der tatsächlichen Gestaltung des Verkehrs zu beurteilen. Ein benachrangter Verkehrsteilnehmer muß seiner Wartepflicht so lange genügen, bis er die volle Sicherheit gewonnen hat, bei seiner Weiterfahrt keine bevorrangten Verkehrsteilnehmer in der im § 19 Abs 7 StVO beschriebenen Weise zu behindern. Im Zweifel muß der Wartepflichtige den Vorrang bis zur Klärung der Verkehrslage wahren (ZVR 1984/338, 1983/69, 1974/44 ua). Für die Anwendbarkeit der Vorrangregeln genügt es, daß es dem Wartepflichtigen bei gehöriger Vorsicht und Aufmerksamkeit möglich war, das andere Fahrzeug überhaupt oder rechtzeitig wahrzunehmen (ZVR 1983/331 mwN). Die Wahrnehmbarkeit auf Grund des Lichtscheines der Scheinwerfer des anderen Fahrzeuges reicht hiebei aus (ZVR 1984/338).
Nach den vom Berufungsgericht übernommenen Feststellungen des Erstgerichtes hätte der Kläger, schon bevor er seinen PKW wieder in Bewegung setzte, den Lichtschein der Scheinwerfer des BMW wahrnehmen können. Der Frage, ob der Kläger unmittelbar vor dem Anfahren seine Aufmerksamkeit zu Recht nach rechts in die beabsichtigte Fahrtrichtung lenkte, kommt daher keine Bedeutung zu. Auf Grund der schon vorher gegebenen Wahrnehmbarkeit eines bevorrangten Verkehrsteilnehmers hätte der Kläger nach den dargelegten Grundsätzen, schon bevor er den Entschluß der Weiterfahrt faßte, sich Gewißheit darüber verschaffen müssen, ob er nicht durch sein Einbiegen den bevorrangten Verkehrsteilnehmer zu unvermitteltem Bremsen oder zum Ablenken seines Fahrzeuges nötige. Bevor der Kläger nicht volle Sicherheit gewonnen hatte, diesen vom Gesetz verpönten Erfolg nicht herbeizuführen, hätte er seine Wartepflicht einhalten und sein Fahrzeug nicht in Bewegung setzen dürfen. Bei der gegebenen Sachlage kann die Frage unerörtert bleiben, ob der Kläger überhaupt so weit in die den Vorrang genießenden Straße einfahren hätte dürfen, daß die vordere Stoßstange 2 m in die Hohe Straße hineinragte (vgl ZVR 1977/157, 1975/177). Die Auffassung des Berufungsgerichtes, daß dem Kläger der Vertrauensgrundsatz zugute komme, kann nicht geteilt werden. Wie schon oben dargelegt wurde, hatte der Kläger den Vorrang zu beachten und mußte sich daher volle Gewißheit über die tatsächliche Verkehrslage verschaffen, weil ein im Vorrang befindlicher Verkehrsteilnehmer auch durch ein vorschriftswidriges Verhalten, insbesondere durch Einhaltung einer überhöhten Geschwindigkeit, seinen Vorrang nicht verliert (ZVR 1980/115 ua). Hat der Kläger aber diese Sorgfaltspflicht außer acht gelassen und infolgedessen den im Vorrang befindlichen, wahrnehmbaren Verkehrsteilnehmer nicht wahrgenommen, kann er sich nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen (vgl.Steininger, Vertrauensgrundsatz und Fahrlässigkeit in ZVR 1963, 120 f, insbes.125). Der Vertrauensgrundsatz kommt nämlich demjenigen Verkehrsteilnehmer nicht zugute, der seinerseits nicht jene Vorsicht und Aufmerksamkeit anwendet, die von ihm im Interesse der Sicherheit des Verkehrs verlangt wird (ZVR 1965/78).
Zutreffend hat daher das Erstgericht dem Kläger eine Vorrangverletzung angelastet. Die Verschuldensteilung des Erstgerichtes entspricht der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes bei Zusammentreffen einer Vorrangverletzung mit einer eklatanten Gschwindigkeitsüberschreitung (ZVR 1976/364, 1972/25; 2 Ob 80/80; 2 Ob 264/77).
Demgemäß ist der außerordentlichen Revision Folge zu geben. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.
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