OGH 2Ob57/84

OGH2Ob57/8430.10.1984

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Piegler als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Kralik, Dr. Melber, Dr. Huber und Dr. Egermann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Josef M*****, Gesellschaft mbH, *****, vertreten durch Dr. Günther Karpf, Rechtsanwalt in Klagenfurt, wider die beklagten Parteien 1.) Peter B*****, 2.) W***** Versicherungsanstalt, *****, beide vertreten durch Dr. Harald Mlinar, Rechtsanwalt in St. Veit/Glan, wegen 20.800 S sA, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt als Berufungsgericht vom 18. Juli 1984, GZ 3 R 249/84-14, womit infolge Berufung der beklagten Parteien das Urteil des Bezirksgerichts St. Veit/Glan vom 1. Juni 1984, GZ 4 C 1102/83-10, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die beklagten Parteien haben zur ungeteilten Hand der klagenden Partei die mit 5.642,89 S bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens (darin enthalten 720 S Barauslagen und 447,53 S USt) binnen 14 Tagen zu bezahlen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 11. 7. 1983 ereignete sich auf der Steinbichler Landesstraße (im Folgenden nur Landesstraße) im Begegnungsverkehr ein Verkehrsunfall, an dem Franz S***** mit dem VW-Kombi der klagenden Partei und der Erstbeklagte mit seinem bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten PKW Audi 80 beteiligt waren. Die klagende Partei erlitt hiebei einen Sachschaden von 20.800 S, der Erstbeklagte von 61.000 S.

Die Klägerin begehrt den Ersatz ihres Schadens gestützt auf die Behauptung, dass den Erstbeklagten das Alleinverschulden treffe, weil er mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren sei und infolge Unaufmerksamkeit verspätet reagiert habe.

Die Beklagten vertreten den Standpunkt, dass beide Lenker ein gleichteiliges Verschulden treffe, weil beide das Gebot des Fahrens auf halbe Sicht verletzt hätten. Gegen die Klagsforderung wendeten sie bis zu deren Höhe aufrechnungsweise die Forderung des Erstbeklagten auf Ersatz der Hälfte seines Schadens von 30.500 S ein.

Das Erstgericht sprach aus, dass die Klagsforderung mit 20.800 S zu Recht, die Gegenforderung nicht zu Recht bestehe und gab demgemäß dem Klagebegehren zur Gänze statt.

Das Berufungsgericht änderte das Ersturteil dahin ab, dass es Forderungen und Gegenforderungen je mit 10.400 S als zu Recht bestehend erkannte und das Klagebegehren abwies. Es erklärte die Revision nach § 502 Abs 4 Z 1 ZPO für zulässig.

Gegen das Urteil des Berufungsgerichts richtet sich die Revision der klagenden Partei aus dem Anfechtungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Wiederherstellung des Ersturteils.

Die Beklagten beantragen, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Das Erstgericht legte seiner Entscheidung den auf den AS 55 bis 58 dargestellten Sachverhalt zugrunde. Danach verläuft die Landesstraße in Ost-West-Richtung. Ihre Fahrbahn beschreibt in Fahrtrichtung Westen zunächst eine übersichtliche Linkskurve mit einer Bogenlänge von rund 40 m und geht dann in eine weitgezogene Rechtskurve über. Ca 10 m östlich der Bezugslinie (einer gedachten Querlinie über die Fahrbahn auf Höhe des außerhalb des südlichen Fahrbahnrandes stehenden A-Mastes 172/81) zweigt von der Landesstraße nach Norden die Gemeindestraße nach Predl ab. Ca 6 m östlich der Bezugslinie führt Richtung Südwesten eine Hofzufahrt zum Anwesen F*****. Die Fahrbahnbreite betrug im Unfallszeitpunkt östlich der Kreuzung rund 5 m, westlich der Kreuzung rund 3,10 m. Befahrbare Bankette waren nicht vorhanden. Die Sicht beträgt 40 m östlich der Bezugslinie 80 m, 30 m östlich der Bezugslinie 90 m und 25 bis 20 m östlich der Bezugslinie mehr als 100 m. Franz S***** fuhr mit dem 1,75 m breiten VW-Kombi mit einer Geschwindigkeit von 35 km/h Richtung Westen. 27 m östlich der Bezugslinie hatte er erstmals Sicht auf den PKW, der sich zu diesem Zeitpunkt rund 65 m westlich der Bezugslinie befand. Franz S***** nahm vorerst nur Gas weg, bremste dann leicht und erst unmittelbar vor der Kollision stark. Er legte bis zur Kollision 32 m in 4,3 Sekunden zurück und verminderte seine Geschwindigkeit auf 20 km/h. Sein Anhalteweg betrug bei der Geschwindigkeit von 35 km/h 18 m. Der Erstbeklagte kam mit seinem 1,68 m breiten PKW mit einer Geschwindigkeit von 50 km/h aus der Gegenrichtung. Er sah den VW-Kombi erstmals, als dieser noch östlich des Kreuzungsbereichs fuhr. Er nahm an, dass der VW-Kombi noch im Kreuzungsbereich anhalten werde. Als für ihn erkennbar wurde, dass dies nicht der Fall ist, befand er sich bereits 20 m oder weniger westlich der Bezugslinie. Er fasste einen Bremsentschluss, konnte diesen aber nicht mehr umsetzen. Sein Anhalteweg betrug bei einer Geschwindigkeit von 50 km/h 28 m. Ca 5 m westlich der Bezugslinie kam es zur Kollision. Die Restbremsstrecke des VW-Kombi betrug noch 2,5 m. Hätte sich Franz S***** bei erster Sicht zu einer Vollbremsung entschlossen, hätte er den VW-Kombi rund 9 m östlich der Bezugslinie noch im Kreuzungsbereich anhalten können.

Das Erstgericht erblickte ein Fehlverhalten lediglich auf Seiten des Erstbeklagten. Beide Lenker seien mit Rücksicht auf die geringe Fahrbahnbreite von rund 3,10 m und die Summenbreite ihrer Fahrzeuge von 3,43 m verpflichtet gewesen, ihre Fahrzeuge vor der Begegnung innerhalb der halben Sichtstrecke anzuhalten. Der Erstbeklagte habe diese Verpflichtung verletzt. Er habe seinen Bremsentschluss erst rund 15 m vor der Kollision gefasst und diesen daher bis zur Kollision nicht mehr umsetzen können. Franz S***** habe sich dagegen pflichtgemäß verhalten, weil er bis zur Kollision seine Geschwindigkeit auf 20 km/h verringert und sein Restbremsweg nur mehr 2,5 m betragen habe. Zum Anhalten durch seine Vollbremsung im Kreuzungsbereich sei Franz S***** nicht verpflichtet gewesen.

Das Berufungsgericht führte aus, dass die bisher in der Rechtsprechung und offensichtlich auch vom Erstgericht vertretene Meinung, bei Vorliegen der Voraussetzungen nach § 10 Abs 2 StVO genüge es, wenn die beteiligten Lenker vor der Mitte der Sichtstrecke anhielten, nicht generell anwendbar sei. Sei die Summe der Anhaltestrecke erheblich kleiner als die „geringste Sichtentfernung“, sei es von untergeordneter Bedeutung, wo die Fahrzeuge zum Stillstand gebracht würden. Es müsse genügen, dass die Lenker rechtzeitig vor der Begegnung anhielten. Bei unterschiedlichen Geschwindigkeiten liege die Begegnungsstelle nicht in der Mitte und der Zweck der Vorschrift des § 10 Abs 2 StVO erfordere es nicht, dass der schnellere Verkehrsteilnehmer in der Mitte der Sichtstrecke den entgegenkommenden, langsameren abwarte. In der Sache selbst vertrat das Berufungsgericht die Auffassung, dass der westlich der Kreuzung gelegene und nur 3,10 m breite Teil der Landstraße gegenüber dem östlich gelegenen und 5 m breiten Teil eine Fahrbahnenge darstelle. Da der Erstbeklagte zulässigerweise vor Franz S***** in die Fahrbahnenge eingefahren sei, hätte Letzterer die Ausfahrt des Ersteren abwarten müssen, was ihm auch durch Anhalten vor der Fahrbahnverengung möglich gewesen wäre. Franz S***** treffe daher ein erhebliches Verschulden an dem Unfall. Der Erstbeklagte hätte 1,6 Sekunden vor dem Unfall, als er rund 22 m von der Kollisionsstelle und rund 30 m vom VW-Kombi entfernt gewesen sei, erkennen können, dass Franz S***** nicht im Kreuzungsbereich anhalte. Hätte er sofort eine Vollbremsung eingeleitet, hätte er die Kollisionsgeschwindigkeit noch erheblich reduzieren können. Stelle man dieses Fehlverhalten dem des Franz S***** gegenüber, könne sich die klagende Partei durch die von den Beklagten angestrebten Verschuldensteilung von 1 : 1 nicht beschwert erachten.

Die Revision wendet sich gegen die vom Berufungsgericht angenommene Verpflichtung und Möglichkeit des Franz S***** im Kreuzungsbereich anzuhalten. Der Revision ist im Ergebnis beizupflichten.

Auf ein Mitverschulden ist nach ständiger Rechtsprechung nicht von Amts wegen einzugehen. Die Prüfung des Mitverschuldens hat sich auf jene Tatumstände zu beschränken, die in erster Instanz behauptet wurden (ZVR 1981/8 uva). Denjenigen, der seinem Unfallsgegner ein Mitverschulden anlasten will, trifft die Behauptungs- und Beweislast für den das Mitverschulden begründenden Sachverhalt. Jede in dieser Richtung verbleibende Unklarheit geht zu seinen Lasten (ZVR 1979/58 ua). Eine Verletzung der Wartepflicht wurde dem Lenker des VW-Kombi in erster Instanz nicht vorgeworfen. Aus den Feststellungen des Erstgerichts lässt sich eine solche auch nicht einwandfrei ableiten. Diese Unklarheit geht zu Lasten der beweispflichtigen Beklagten. Zu Unrecht hat daher das Berufungsgericht dem Lenker des VW-Kombi eine schuldhafte Verletzung der Wartepflicht angelastet.

Nach § 10 Abs 2 StVO haben die Lenker einander begegnender Fahrzeuge anzuhalten, wenn nicht oder nicht ausreichend ausgewichen werden kann. Dass diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall gegeben waren, kann nach den Feststellungen der Vorinstanzen nicht zweifelhaft sein. Die Verpflichtung nach § 10 Abs 2 StVO trifft beide Fahrzeuglenker in gleicher Weise. Wie der Oberste Gerichtshof bereits mehrfach ausgesprochen hat, bedeutet diese Verpflichtung aber nicht, dass die Lenker ihre Fahrzeuge unverzüglich bei erster Sicht oder bei Erkennen der Notwendigkeit anzuhalten, zum Stillstand bringen müssten. Es genügt, wenn sie ihre Fahrzeuge vor der Mitte der Sichtstrecke anhalten (ZVR 1980/125; ZVR 1977/52; ZVR 1974/3; 8 Ob 7/78; 8 Ob 204/77 ua). Ob dieser Grundsatz generell und insbesondere auch dann gilt, wenn die Summe der Anhaltestrecken beträchtlich unter der Sichtstrecke liegt und sich die einander begegnenden Fahrzeuge mit stark unterschiedlicher Geschwindigkeit nähern, ist hier, entgegen der Meinung des Berufungsgerichts, nicht zu erörtern, weil diese Voraussetzungen nicht gegeben waren. Insbesondere die Geschwindigkeiten der beiden Fahrzeuge wiesen keine beträchtliche Differenz auf. Der Erstbeklagte hat auch weder vor der Mitte der Sichtstrecke noch auch sonst rechtzeitig angehalten. Sein Verschulden ist nicht zweifelhaft und zwischen den Parteien auch nicht strittig. Fraglich ist nur, ob dem Lenker des VW-Kombi, ungeachtet des Umstands, dass er noch vor der Mitte der Sichtstrecke anhalten hätte können, ein Mitverschulden trifft. Wie der Oberste Gerichtshof bereits klargestellt hat, reicht es nicht aus, dass ein beteiligter Lenker sein Fahrzeug innerhalb der halben Sichtstrecke anhalten hätte können, um ihn von jeglicher Mitschuld loszuzählen, wenn er angesichts des Verhaltens des entgegenkommenden Lenkers nicht mit dessen Anhalten innerhalb der halben Sichtstrecke rechnen konnte (ZVR 1983/216; ZVR 1981/71). Im vorliegenden Fall betrug die halbe Sichtstrecke, innerhalb der der Lenker des VW-Kombi ein Anhalten des Erstbeklagten erwarten konnte, 46 m. Erst als sich der Erstbeklagte diesem Punkt auf eine Entfernung genähert hatte, die seiner Bremsstrecke von rund 14 m entsprach, war für Franz S***** erkennbar, dass der Erstbeklagte nicht mehr innerhalb der halben Sichtstrecke anhalten werde. Dies war rund 2,3 Sekunden nach der ersten Sicht der Fall. Da dem Franz S***** von der ersten Sicht bis zur Kollision rund 4,3 Sekunden zur Verfügung standen und er rund 1,9 Sekunden vor der Kollision seinen Bremsentschluss fasste, fällt ihm keine meßbare Reaktionsverspätung zur Last. Das Erstgericht ist daher im Ergebnis zu Recht von einem Alleinverschulden des Erstbeklagten ausgegangen.

Demgemäß ist der Revision Folge zu geben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

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