OGH 12Os116/84

OGH12Os116/8413.9.1984

Der Oberste Gerichtshof hat am 13.September 1984 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Keller als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kral, Hon.Prof.

Dr. Steininger, Dr. Hörburger und Dr. Lachner als weitere Richter in Gegenwart des Richteramtsanwärters Dr. Beran als Schriftführer in der Strafsache gegen Christoph A wegen des Vergehens des Imstichlassens eines Verletzten nach § 94 Abs. 1 StGB. und einer anderen strafbaren Handlung über die Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Jugendgerichtshofes Wien als Schöffengericht vom 6.März 1984, GZ. 3 a Vr 46/84-12, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Nichtigkeitsbeschwerde wird Folge gegeben, das angefochtene Urteil, das im Schuldspruch zu Punkt B/ (wegen Vergehens nach § 88 Abs. 1 StGB.) unberührt bleibt, im Schuldspruch zu Punkt A/ (wegen Vergehens nach § 94 Abs. 1 StGB.) und demgemäß auch im Strafausspruch aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung im Umfang der Aufhebung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde der 16-jährige, sohin jugendliche Christoph A (zu A/) des Vergehens des Imstichlassens eines Verletzten nach § 94 Abs. 1 StGB. und (zu B/) des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs. 1 StGB. schuldig erkannt. Darnach hat er am 9.Oktober 1983 in Wien A/ es vorsätzlich unterlassen, der Elisabeth B, deren Verletzung am Körper (§ 83 StGB.) er durch die in Punkt B/ angeführte Handlung verursacht hatte, die erforderliche Hilfe zu leisten;

B/ dadurch, daß er den PKW. Marke BMW 732 i, polizeiliches Kennzeichen W 400.920, auf regennasser Fahrbahn mit relativ überhöhter Geschwindigkeit lenkte und plötzlich beschleunigte, wodurch das Fahrzeug ins Schleudern geriet und gegen den PKW. Marke Citroen C, polizeiliches Kennzeichen W 663.600, stieß, die in diesem Fahrzeug mitfahrende Elisabeth B fahrlässig am Körper verletzt, was bei der Genannten einen Bluterguß (Beule) an der Stirn und ein Peitschenschlagsyndrom zur Folge hatte.

Der Angeklagte bekämpft dieses Urteil lediglich im Schuldspruch wegen Imstichlassens eines Verletzten (Punkt A/ des Urteilssatzes) mit einer auf die Gründe der Z. 5, 9 lit. a und 9 lit. b des § 281 Abs. 1 StPO. gestützten Nichtigkeitsbeschwerde, mit welcher er in Ansehung des Ausspruchs, wonach er sich gegenüber der Verletzten völlig passiv verhalten und ihr keine Hilfe geleistet hat, Begründungsmängel geltend macht, weiters das Unterbleiben von Feststellungen über die konkrete Hilfsbedürftigkeit der Verletzten rügt und schließlich die Anwendung des § 42 StGB. begehrt. Der Nichtigkeitsbeschwerde kommt im Ergebnis Berechtigung zu, wobei allerdings - entgegen der Stellungnahme der Generalprokuratur, die dahin lautet, daß der Beschwerdeführer sogleich vom Vorwurf des Vergehens nach § 94 Abs. 1 StGB. freizusprechen wäre - eine Sachentscheidung durch den Obersten Gerichtshof nicht zu erfolgen hatte, sondern dem Erstgericht die Erneuerung des Verfahrens in Ansehung des bekämpften Vorwurfs (und damit auch im Strafausspruch) aufzutragen ist. Dies aus folgenden Erwägungen:

Das Jugendschöffengericht stellte zum Schuldspruch wegen § 94 Abs. 1 StGB. im wesentlichen fest, daß der Angeklagte, nachdem er den Unfall, bei dem Elisabeth B die im Punkt B/ des Urteilssatzes beschriebenen Verletzungen (die unter anderem das Tragen einer Schanzkrawatte für mehrere Tage notwendig machten) erlitten hat, verschuldet hatte, dem beteiligten Fahrzeuglenker Johann B, der ihm mitteilte, daß seine Frau verletzt sei, weinend erklärte, keinen Führerschein zu besitzen und mit dem PKW. seines Vaters unterwegs zu sein, und sich sodann zur Verletzten begab. Während Johann B Polizei und Rettung verständigen ließ, stand der Angeklagte bei der Verletzten, unternahm aber nichts, um dieser Hilfe zu leisten. Kurz nachdem der Angeklagte von Johann B erfahren hatte, daß die Verständigung von Polizei und Rettung veranlaßt wurde, entfernte er sich noch vor deren Eintreffen, wobei er den PKW. am Unfallsort stehen ließ; er begab sich in die elterliche Wohnung und teilte am Abend seinen Eltern das Geschehen mit, worauf sein Vater für ihn in einem Wachzimmer Selbstanzeige erstattete (S. 63).

Das Verschulden des Angeklagten im Sinne des § 94 Abs. 1 StGB. erblickte das Erstgericht darin, daß der Angeklagte es unterlassen hat, selbst alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um zur Rettung des Opfers und zur Wiederherstellung seiner Gesundheit beizutragen, daß er aeinerlei Vorkehrungen getroffen hat, die die Lage der Verunglückten hätten erleichtern können, sondern lediglich vollkommen passiv bei der Verletzten gestanden und es deren Mann überlassen hat, für die notwendige Hilfeleistung zu sorgen, und daß er sich nicht davon überzeugte, ob die Rettung tatsächlich eintrifft und den Abtransport der Verletzten bzw. ihre sonstige Versorgung übernimmt, sondern sich noch vor deren Eintreffen vom Unfallsort entfernte; glaubwürdige Gründe dafür, daß der Angeklagte nicht erkannt hätte, daß die Verletzte hilfsbedürftig war, seien im Beweisverfahren nicht hervorgekommen (S. 64).

Rechtliche Beurteilung

Gerade in letzterem Zusammenhang macht die Beschwerde zutreffend Begründung-, aber auch Feststellungsmängel geltend, indem sie rügt, daß das Erstgericht in den Urteilsgründen wesentliche Verfahrensergebnisse unerörtert gelassen und keine Feststellungen darüber getroffen hat, ob und inwieweit eine Hilfsbedürftigkeit der Elisabeth B für den Angeklagten zur Tatzeit erkennbar gewesen ist. Der Tatbestand des § 94 Abs. 1 StGB. setzt objektiv voraus, daß das Opfer hilfsbedürftig ist; subjektiv muß für den Täter im Tatzeitpunkt diese Hilfsbedürftigkeit erkennbar gewesen sein, weil ihm nur dann die (vorsätzliche) Unterlassung der Hilfeleistung zum Vorwurf gemacht werden kann (vgl. ÖJZ-LSK. 1978/334; RZ. 1980/61). Hat der Täter die Hilfsbedürftigkeit des Opfers erkannt, dann wird er allerdings - entgegen der Meinung des Beschwerdeführers - von seiner Hilfeleistungspflicht nicht dadurch entbunden, daß dritte Personen die Herbeiholung von sachkundiger Hilfe (Verständigung der Rettung) veranlaßt haben; seine Hilfeleistungspflicht endet vielmehr erst, wenn der Verletzte diese Hilfe tatsächlich erhält, also die Rettung eingetroffen ist und die Versorgung des Verletzten übernommen hat (vgl. ÖJZ. 1976/157, 158; 1978/185; Leukauf/Steininger Kommentar 2 § 94 RN. 10).

Eine Verletzung am Körper indiziert in der Regel die (objektive) Hilfsbedürftigkeit des Opfers; bei einer blos unerheblichen Beeinträchtigung der körperlichen Integrität des Opfers, mag diese auch dem Begriff der Verletzung am Körper entsprechen (sog. 'Bagatellverletzung'), kann es jedoch (objektiv) an einer Hilfsbedürftigkeit fehlen (Leukauf/Steininger a.a.O.

§ 94 RN. 7; Kienapfel BT I 2 § 94 RN. 23; ÖJZ-LSK. 1984/89). Unterläuft dem Täter diesbezüglich ein Irrtum, weil nach Lage des Falles am Unfallsort nur eine solche 'Bagatellverletzung' erkennbar war und er deshalb nur eine solche erkannt hat, so kann dies den Tatbestandsvorsatz ausschließen (Leukauf/Steininger a.a.O. § 94 RN. 16; Kienapfel a.a.O. § 94 RN. 49).

Vorliegend ergibt sich aus der Aussage der Zeugin Elisabeth B, daß das Peitschenschlagsyndrom erst später festgestellt wurde; am Unfallsort vermeinte die Genannte, sich lediglich den Kopf angeschlagen zu haben, was sie auch dem Angeklagten, der sich bei ihr erkundigt habe, was passiert sei, gesagt habe (S. 57). Daraus könnte der Schluß gezogen werden, daß am Unfallsort lediglich die Beule an der Stirn als erlittene Verletzung erkennbar war, die eine Bagatellverletzung dargestellt und damit (noch) keine Hilfsbedürftigkeit des Opfers bewirkt haben könnte. Insoweit läßt aber das angefochtene Urteil begründete Konstatierungen vermissen, wiewohl solche zur rechtlichen Beurteilung geboten gewesen wären. Das Ersturteil läßt aber auch unerörtert, daß sich der Angeklagte, wie die Zeugin B bekundete (abermals S. 57), bei ihr erkundigt hat, was passiert sei, welche Angabe im übrigen mit der Aussage des Zeugen Johann B im Einklang steht, wonach sich der Angeklagte 'um die Verletzte gekümmert hat' (S. 57). Diese Verfahrensergebnisse sprächen aber dafür, daß sich der Angeklagte nicht, wie dies das Ersturteil konstatiert, völlig passiv verhalten und nichts unternommen hat, um sich von einer allfälligen Hilfsbedürftigkeit des Opfers zu überzeugen, sondern daß er vielmehr schon in dieser Richtung aktiv geworden ist, eine Hilfsbedürftigkeit der Verletzten aber im Hinblick auf deren Angaben (subjektiv) nicht erkannt haben könnte. Die Nichterörterung der aufgezeigten Verfahrensergebnisse stellt demnach einen Begründungsmangel in Ansehung des Ausspruchs über entscheidende Tatsachen dar.

Die somit von der Beschwerde zutreffend aufgezeigten Mängel des Ersturteils, die vom Obersten Gerichtshof nicht saniert werden können, machen deshalb die Kassierung des Schuldspruchs wegen Imstichlassens eines Verletzten (und damit auch des Strafausspruchs) und die Anordnung der Erneuerung des Verfahrens im bezeichneten Umfang erforderlich, sodaß der Nichtigkeitsbeschwerde Folge zu geben und spruchgemäß zu erkennen war, ohne daß auf das weitere Beschwerdevorbringen eingegangen zu werden braucht. Hiezu sei lediglich bemerkt, daß der Annahme mangelnder Strafwürdigkeit der Tat (schon) der Umstand entgegensteht, daß der Angeklagte wegen unbefugten Fahrzeuggebrauchs vorbestraft ist, sodaß es bei ihm jedenfalls der Bestrafung bedarf, um ihn von strafbaren Handlungen abzuhalten (§ 42 Abs. 1 Z. 3 StGB.).

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