European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1984:0070OB00009.840.0913.000
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass das Ersturteil wiederhergestellt wird.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 10.825,52 S bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens (darin 1.100 S Barauslagen und 782,52 S USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
Die Klägerin begehrt nach einem tödlichen Flugunfall ihres Ehemannes am 1. 7. 1981 die Zahlung der mit dem beklagten Unfallversicherer für den Todesfall vereinbarten Versicherungssumme. Strittig ist nur, ob es sich bei dem abgestürzten Motorsegler um ein (zum zivilen Luftverkehr zugelassenes) Motorflugzeug im Sinn des Art 3 Punkt II Z 1 AUVB 1965 oder um ein Segelflugzeug gehandelt hat, als dessen Insasse der Verunglückte nach diesen Versicherungsbedingungen nicht versichert gewesen wäre.
Der Erstrichter gab dem Klagebegehren statt. Nach seinen Feststellungen stürzte das vom Ehemann der Klägerin als Fluggast benützte, unter der Zulassungsnummer ***** zugelassene Motorsegelflugzeug mit laufendem Motor aus der relativ geringeren Höhe von 40 bis 80 m ab. Ein technisches Gebrechen ist als Unfallursache auszuschließen. Der Pilot Alois M***** verfügte über einen gültigen Privatpilotenschein für Motorsegler.
Motorsegler können ohne Triebwerk im Gleitflug geflogen werden. 95 % der Motorseglerflüge werden aber mit eigenem Antrieb absolviert. Im Gegensatz zu den meist einsitzigen Segelfliegern werden mit Motorseglern oft Fluggäste befördert. Die Zivilluftfahrt‑Personalverordnung, die regelt, welche Berechtigungen ein Pilot von Luftfahrzeugen benötigt, unterscheidet zwischen „Motorflugzeugpiloten“ und „Segelfliegern“. Ein Privatpilotenschein, der von der Luftfahrtbehörde eingeschränkt auf Motorsegler im Motorflug erteilt wird, berechtigt dazu, einen Motorsegler im Motorflug zu führen. Die Motorseglerprüfung ist vor einer Privatpiloten‑Prüfungskommission abzulegen, die Ausbildung hiezu erfolgt durch Motorflugzeugpiloten‑Fluglehrer. Die Berechtigung zum Führen von Motorseglern im Motorflug muss gesondert zum Segelfliegerschein erworben werden. Aufgrund internationaler Abkommen und Vereinbarungen ist zum Führen eines Motorseglers im Motorflug in anderen Staaten ebenfalls ein Motorflugzeugpilotenschein erforderlich. Die Grundberechtigung für Segelflieger wird je nach der Startart erteilt. Unter anderem gibt es eine Berechtigung, einen Motorsegler mit Hilfsmotor zu starten. Mit diesem Segelfliegerschein ist es aber verboten, den Motorsegler auch im Motorflug zu betreiben. Eine Ausnahme besteht nur für Notsituationen. Die Gefahren für einen Fluggast in einem Motorsegler liegen nicht höher als in einem herkömmlichen, kleinen Flugzeug, das nicht Motorsegler ist. Die Gefahr für einen Fluggast in einem Segelflugzeug ist geringer als in einem Motorflugzeug.
Nach der Rechtsansicht des Erstrichters fehle im Luftfahrtgesetz eine Legaldefinition des Begriffs Motorsegler. Das Gesetz unterscheide nur beispielhaft Flugzeuge und Segelflugzeuge, aber auch dies ohne Legaldefinition. Das Kennzeichen von Motorflugzeugen seien die Luftschrauben. Im Gegensatz dazu seien Segelflugzeuge wohl schwerer als Luft und Starrflügler, aber ohne eigenen Antrieb. Aufgrund dieser Abgrenzung seien Motorsegler unter Bedachtnahme darauf, dass 95 % der Motorsegelflüge mit eigenem Antrieb absolviert werden, eher zu den Motorflugzeugen zu zählen. In den Erläuterungen zu § 14 der Luftverkehrsregeln 1967, wonach mit Kraft angetriebene Luftfahrzeuge unter anderem auch den Segelflugzeugen auszuweichen haben, werden Motorsegler als mit Kraft angetriebene Luftfahrzeuge angesehen, soweit sie nicht im Segelflug geführt werden. Nach § 51 LVR seien Segelflüge innerhalb kontrollierter Flugpätze verboten, weil kontrollierte Flüge mit dem Segelflieger nicht möglich seien. Dazu werde erläutert, dass mit Motorseglern im Motorflug kontrollierte Flüge zulässig seien. Motorsegler würden damit als Motorflugzeuge verstanden. Schließlich dürfe ein Motorsegler im Motorflug nur mit einem von der Luftfahrtbehörde ausgestellten Privatpilotenschein, der den Motorflugzeugen zugeordnet sei und erst nach einer Schulung durch Motorflugzeugpilotenlehrer erworben werden könnte, geführt werden. In einem Erlass des Bundesministeriums für Verkehr vom 31. 7. 1973, der vorläufige Richtlinien für die Zulassung und den Betrieb von Motorseglern enthalte, werde der Motorsegler allerdings als Segelflugzeug definiert, das mittels eines Hilfsmotors selbständig starten kann. Aufgrund dieser Begriffsbestimmung erfolge die Zulassung für Motorsegler mit Eintragungszeichen eine Zifferngruppe, die für Segelflieger bestimmt ist. Für die Zuordnung von Motorseglern zu den Motorflugzeugen spreche aber schließlich auch das nicht größere Versicherungsrisiko, zumal die Piloten dieser Flugzeuge die gleiche Ausbildung wie solche von Motorflugzeugen haben, während für einen Versicherungsschutz für Segelfluggäste kaum Interesse bestehe, weil die meisten Segelflieger nur einsitzig sind, sodass nur allenfalls ein Flugschüler befördert werden kann. Selbst im Falle verbleibender Zweifel sei die strittige Bestimmung der AUVB gemäß § 915 zweiter Halbsatz ABGB gegen die beklagte Partei auszulegen.
Das Berufungsgericht änderte das Ersturteil im Sinne der Abweisung des Klagebegehrens ab. Es ging davon aus, dass dem Versicherungsnehmer nicht die Unklarheitenregel des § 915 ABGB zugute komme, sondern allgemeine Versicherungsbedingungen nach den §§ 6 und 7 ABGB wie Gesetze auszulegen seien. Die beklagte Partei sei nur dann leistungspflichtig, wenn der Versicherungsfall von der primären Risikoumschreibung eines „zum zivilen Luftverkehr zugelassenen Motorflugzeuges“ umfasst sei. Nach dem Erlass des Bundesministeriums für Verkehr vom 31. 7. 1973 seien Motorsegler aber in das Luftfahrtzeugregister als Segelflugzeuge einzutragen. Schon deshalb habe es sich beim abgestürzten Motorsegler um kein zugelassenes Motorflugzeug gehandelt. Es sei daher ohne Belang, ob Motorsegler mangels einer eigenen Kategorie tatsächlich als Segelflugzeuge qualifiziert werden könnten, welche Kategorie in den AUVB nicht genannt sei.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision der Klägerin ist berechtigt.
Die von den Vorinstanzen verschieden beantwortete Frage, allgemeine Versicherungsbedingungen nach dem Vertragsrecht oder wie Gesetze auszulegen sind und ob im besonderen die Unklarheitenregel des § 915 zweiter Satz ABGB dem Versicherungsnehmer zugute kommt, wird in Lehre und Rechtsprechung nicht einheitlich beantwortet. Die ältere österreichische Rechtsprechung legte nach dem Vertragsrecht aus (SZ 28/37; ebenso OG Brünn, E 28 bis 30 zu § 1 in Grubmann VVG 2 ) und wurde von der Lehre gebilligt ( Gschnitzer in Klang 2 IV/1, 317 f, Wahle , Vergleich der österreichischen und deutschen Versicherungsjudikatur, VersRdSch 1966, 137, 139; einschränkend Ehrenzweig , Deutsches/österreichisches/Versicherungsvertragsrecht 16 f). Nur in der Bundesrepublik Deutschland wurde schon damals der Standpunkt vertreten, dass behördlich genehmigte AVB nicht nach der Unklarheitenregel, sondern wie Gesetze auszulegen seien ( Wahle aaO mwN). Bald darauf folgte jedoch der Oberste Gerichtshof der deutschen Rechtsprechung und vertrat nun wiederholt die Ansicht, AVB seien wie Gesetze nach den Regeln der §§ 6 und 7 ABGB auszulegen (ZVR 1969/185 uva, siehe Grubmann aaO E 26 a). In der österreichischen Lehre wurde diese neue Rechtsansicht bekämpft und besonders darauf hingewiesen, dass zwar bei der bloßen Zugrundelegung von AVB eine Erforschung des Parteiwillens nicht in Frage komme, die Unklarheitenregel des Vertragsrecht aber trotz der Genehmigung der AVB durch die Versicherungs‑Aufsichtsbehörde anzuwenden sei ( Ertl , Der Versicherer als Gesetzgeber, ÖRZ 1973, 113, 120 ff, Jabornegg , Das Risiko des Versicherers 16; vgl auch Rummel in Rummel , ABGB, Rdz 13 zu § 864a). In den letzten Jahren hat dann der Oberste Gerichtshof die strittige Frage meist mit dem Bemerken offen gelassen, dass das Ergebnis im Einzelfall vom Auslegungsstreit unabhängig sei (7 Ob 57/83 ua). Aber auch der Bundesgerichtshof hat den Grundsatz der gesetzesähnlichen Auslegung einerseits dahin eingeschränkt, dass diese am Maßstab eines verständigen durchschnittlichen Versicherungsnehmers vorzunehmen sei (BGH VersR 1982, 841; VersR 1983, 848), und andererseits durch den Rechtssatz, dass die Unklarheitenregel des § 5 dABGB anzuwenden sei, wenn die objektive Auslegung zu keinem Ergebnis führe (VersR 1980, 668; Prölss‑Martin VVG 23 20 f mwN).
Auch im vorliegenden Fall bedarf die dargestellte Streitfrage keiner abschließenden Prüfung. Wenngleich klar ist, dass die Anwendung der Unklarheitenregeln des § 915 zweiter Satz ABGB hier zu einer Auslegung zu Lasten des beklagten Versicherers führen müsste, weil er bei seiner Ausschlussklausel die Existenz von Motorseglern nicht Bedacht hat, die zwischen reinen Motorflugzeugen und reinen Segelfliegern existieren, so führt doch auch eine gesetzesähnliche Auslegung im Sinne der §§ 6 f ABGB unter Berücksichtigung der berechtigten Erwartungen eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers zum selben Ergebnis im Sinne des Ersturteils:
Nach dem Wortlaut des strittigen Art 3 II Z 1 AUVB 1965 erstreckt sich der Versicherungsschutz auch auf Unfälle, die der Versicherte als Fluggast eines zum zivilen Luftverkehr zugelassenen Motor ... flugzeuges ... erleidet. Dieser Wortlaut geht nicht so weit wie die Annahme des Berufungsgerichts, dass es auf die Zulassung unter der Bezeichnung als Motorflugzeug ankäme. Maßgebend ist danach nur, ob ein Motorflugzeug zum zivilen Luftverkehr zugelassen worden ist. Die Zulassung des verunglückten Motorseglers zum zivilen Luftverkehr steht fest. Sie erfolgte (nach der öffentlichen Urkunde im beiliegenden Strafakt) nicht unter der Bezeichnung „Segelflieger“, sondern als „Motorsegler“. Somit bleibt ungeachtet des Wortlautes der AUVB erst zu prüfen, ob dieses Flugzeug als Motorflugzeug anzusehen ist. Der erlaßmäßigen, also durch eine bloße sogenannte Verwaltungsverordnung (vgl Adamovich‑Funk , Österreichisches Verfassungsrecht 2 219) angeordneten Zuordnung einer Zulassungsnummer aus der Zifferngruppe der Segelflieger im Luftfahrtzeugregister kommt nach der zutreffenden Ansicht der Revisionswerberin keine Bedeutung zu; sie ist bloß als organisatorische Maßnahme anzusehen.
Alle übrigen Umstände sprechen aber dafür, dass auch ein Motorsegler, wenigstens solange der Motor beim Flug als Antriebsquelle benützt wird, als Motorflugzeug anzusehen ist. Das kennzeichnende Unterscheidungsmerkmal zwischen einem Motorflugzeug und einem Segelflieger ist schon nach dem allgemeinen Sprachgebrauch (wie ihn der Sachverständige auch S 67 anführt) als auch nach Halbmair‑Wiesenwasser , Das österreichische Luftfahrtrecht 30 zu § 11 LFG 1957, die vorwiegende Verwendung eines eigenen Antriebs. Ein solcher ist bei Motorseglern vorhanden und er wird nach den Feststellungen zu 95 % aller Motorsegelflüge auch verwendet. Dementsprechend haben Motorsegler beim Motorflug die Nachrangregel gegenüber Segelflugzeugen ebenso zu beachten wie sonstige Motorflugzeuge, und es sind kontrollierte Flüge mit Motorseglern im Motorflug nach §§ 36 ff LVR 1967 zulässig ( Halbmair‑Wiesenwasser aaO, 204 zu § 51 LVR 1967). Dem entspricht der Umstand, dass die Berechtigung zum Führen von Motorseglern im Motorflug vom Piloten über den Segelfliegerschein hinaus erworben werden muss, dass diese Prüfung vor einer Privatpilotenprüfungskommission abzulegen ist (die Zivilluftfahrt‑Personalverordnung, BGBl 1958/219, unterscheidet zwischen Motorflugzeugpiloten und Segelfliegern) und dass auch die Ausbildung für diese Prüfung durch Motorflugzeugpiloten‑Fluglehrer erfolgt. Dazu kommt nach der zutreffenden Ansicht des Erstgerichts, dass aus versicherungstechnischer Sicht ebenfalls keine Unterscheidung zwischen Motorflugzeugen und mit Motorkraft betriebenen Motorseglern geboten ist, weil die Gefahren für einen Fluggast in einem Motorsegler nicht höher liegen als in einem herkömmlichen kleinen Motorflugzeug. Der Hinweis der Revisionsgegnerin darauf, dass die Ausbildung von Motorseglerpiloten geringer sei als jene von Motorflugzeugpiloten, mag ungeachtet der gegenteiligen Ausführungen des Erstgerichts (bloß) in dessen rechtlicher Beurteilung zutreffend. Dieser Unterschied ist aber schon dehalb ohne Bedeutung, weil gemäß § 29 LFG und § 4 ZLPV auch innerhalb der Motorflugzeuge ähnlich wie bei Kraftfahrzeugen mehrere Typen, Klassen und Kategorien von Zivilluftfahrerscheinen bestehen. Der Vergleich mit dem Kraftfahrzeugrecht bestätigt auch in einem anderen Punkt die Richtigkeit der Ansicht des Erstgerichts. Auch ein Fahrrad mit leichtem Antriebsmotor, womit der Sachverständige den Motorsegler technisch verglichen hat (S 69), ist nach § 2 Z 14 KFG als Motorfahrrad ein Kraftrad, also im Sinne der Begriffsbestimmungen der §§ 2 Z 1 und 4 KFG ein durch technisch freigemachte Energie angetriebenes Kraftfahrzeug, ohne dass der Gesetzgeber darauf Rücksicht genommen hat, dass es im Ausnahmsfall auch ohne Verwendung der eigenen Kraftquelle betrieben werden kann.
Ein Motorsegler wie der Verunglückte ist demnach wenigstens solange als Motorflugzeug im Sinne der strittigen Versicherungsbestimmung anzusehen, als ein Flug, sei es auch abwechselnd, mit eigenem Antrieb erfolgt. Letzteres war nach den unbekämpften Feststellungen des Erstrichters hier der Fall. Erst im Revisionsverfahren verweist die beklagte Partei auf die Möglichkeit, dass der Unfall dadurch entstanden sein könnte, dass der Pilot erst kurz vor dem Absturz zu starten versucht habe. Auf diese Behauptung ist als unzulässige Neuerung des Rechtsmittelverfahrens nicht mehr einzugehen. Hatte nämlich die Klägerin bewiesen, dass das Unglück den Motorsegler im Motorflug traf, dass also der Unfall unter den Kreis der ausnahmsweise gedeckten Luftverkehrsunfälle fällt, so hätte der beklagte Versicherer schon in erster Instanz den Gegenbeweis antreten müssen, dass die Benützung der eigenen Antriebsquelle des Motorseglers einen Unfall nicht mehr vermeiden ließ, der (vielleicht) beim freien Flug ohne eigene Antriebskraft eingeleitet wurde.
Der Ausspruch über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens beruht auf den §§ 41 und 50 ZPO.
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