Spruch:
Die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft wird verworfen.
Der Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten wird Folge gegeben, das angefochtene Urteil aufgehoben und gemäß § 288 Abs 2 Z. 3 StPO. in der Sache selbst erkannt:
Boris A wird von der Anklage, er habe am 22.September 1980 in Wien Gottfried B vorsätzlich am Körper verletzt, indem er ihn zu Boden stieß und mit dem Fuß nach ihm trat, wodurch der Genannte einen beiderseitigen Unterkieferbruch, sohin eine an sich schwere Körperverletzung, verbunden mit einer mehr als 24-tägigen Gesundheitsstörung erlitt, er habe hiedurch das Vergehen der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs 1, 84 Abs 1 StGB. begangen, gemäß § 259 Z. 3 StPO. freigesprochen.
Text
Gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurde der am 22.September 1963 geborene Kochlehrling Boris A des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 4 StGB. schuldig erkannt.
Nach den hiezu getroffenen wesentlichen Urteilsfeststellungen wurde der Angeklagte am 22.September 1980 im Gasthaus C in Wien 15., Schwendergasse 29 von dem bereits mittelstark alkoholisierten Gottfried B angestänkert. Als er das Lokal verließ, folgte ihm Gottfried B nach, überholte ihn und stellte sich vor ihm auf, wobei er ihn beim Rock nahm und sagte: 'Was ist jetzt?' Dann tippte er ihn mehrmals mit dem Finger an. Da er Vorhalten, ihn weitergehen zu lassen, nicht zugänglich war, schob nun der Angeklagte den Angreifer energisch zur Seite (im Gegensatz zur Formulierung des Urteilsspruches stellte das Schöffengericht nicht fest, daß der Angeklagte D einen kräftigen Stoß versetzt hat; S. 77, 79 und 82 d. A.), worauf Gottfried D, sich nach hinten bewegend, zu Sturz kam, mit dem Rücken auf die Motorhaube eines parallel zum Gehsteig geparkten PKW. fiel und in weiterer Folge sich an der Stoßstange dieses Fahrzeuges schwere Verletzungen - einen beiderseitigen Unterkieferbruch - zuzog.
Das Erstgericht folgte bei diesen Feststellungen der - in wesentlichen Punkten durch die Zeugenaussage des Franz C jun. gestützten - Verantwortung des Angeklagten, wogegen es die Zeugenaussage des Gottfried B, er sei vom Angeklagten angegriffen, durch einen Stoß (von hinten) zu Sturz gebracht und - am Boden liegend - durch Fußtritte des Angeklagten verletzt worden, als unglaubwürdig ablehnte.
In rechtlicher Hinsicht beurteilte das Gericht das Tatverhalten des Angeklagten nicht (anklagekonform) als (mit Verletzungs- oder Mißhandlungsvorsatz begangene) schwere Körperverletzung nach §§ 83 Abs 1, 84 Abs 1
StGB., sondern als fahrlässige Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 4 StGB.
Dieser Schuldspruch wird vom Angeklagten und von der Staatsanwaltschaft mit Nichtigkeitsbeschwerde bekämpft.
Rechtliche Beurteilung
Zur Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft:
Die Staatsanwaltschaft macht die Nichtigkeitsgründe der Z. 4, 5 und 10 des § 281 Abs 1 StPO. geltend.
Einen den erstbezeichneten Nichtigkeitsgrund verwirklichenden Verfahrensmangel erblickt sie in der Abweisung ihres Antrages auf Beiziehung eines gerichtsmedizinischen Sachverständigen (u.a.) zum Nachweis, daß durch das 'Hinunterrutschen von einem PKW.' die Verletzungen des Gottfried B nicht entstehen konnten (vgl. S. 66, 69, 81 d.A.).
Dieses gegen den Antrag der Staatsanwaltschaft gefällte Zwischenerkenntnis (nach dessen Verkündung sich der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft die Nichtigkeitsbeschwerde vorbehalten hat) bewirkte keine Beeinträchtigung von Verfahrensgrundsätzen, deren Beobachtung durch das Wesen eines die Strafverfolgung sichernden Verfahrens geboten ist. Nach den Urteilsfeststellungen hat sich Gottfried B den doppelten Unterkieferbruch dadurch zugezogen, daß er bei seinem Sturz an die Stoßstange eines PKW. anprallte. Daß eine derartige schwere Verletzung bei einem entsprechend wuchtigen Anprall auf einen harten Gegenstand entstehen kann und auch unter den vom Erstgericht angenommenen besonderen Tatumständen zumindest nicht auszuschließen ist, konnte das Gericht ohne Zuziehung eines gerichtsmedizinischen Sachverständigen schon auf Grund der allgemeinen Lebenserfahrung annehmen.
Wenn das Schöffengericht daher mit mängelfreier Begründung der Zeugenaussage des Gottfried B, er sei durch Fußtritte des Angeklagten verletzt worden, als in sich widersprüchlich den Glauben versagte, so stellte dies nach Lage des Falles keine unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung dar, und es war nach dem Gesagten die begehrte Beweisaufnahme nicht erforderlich.
Mit Beziehung auf die Nichtigkeitsgründe der Z. 5
und 10 des § 281 Abs 1 StPO. - der Sache nach primär Feststellungsmängel im Sinne des letztgenannten Nichtigkeitsgrundes relevierend - behauptet die Staatsanwaltschaft, das Erstgericht habe keine ausdrücklichen Konstatierungen über das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines Mißhandlungsvorsatzes getroffen bzw. schon auf Grund des angenommenen Sachverhaltes eine mit Mißhandlungsvorsatz begangene schwere Körperverletzung rechtsirrig verneint. Auch dieses Beschwerdevorbringen erweist sich als nicht zielführend. Die Entscheidungsgründe lassen, in ihrer Gesamtheit betrachtet, keinen Zweifel, daß das Erstgericht, indem es der Darstellung des Angeklagten folgte und die Zeugenaussage des Gottfried B als unglaubwürdig ablehnte, Mißhandlungs- (oder Verletzungs-) vorsatz des Angeklagten für nicht gegeben erachtete. Daß der Angeklagte den Gottfried B energisch zur Seite schob oder wegtauchte, um den Angriff abzuwehren und die Fortsetzung seines Weges zu ermöglichen, wobei er allenfalls sogar - im Sinne einer bewußten Fahrlässigkeit (§ 6 Abs 2 StGB.) - den Eintritt eines Verletzungserfolges für möglich hielt, impliziert noch keineswegs Mißhandlungsvorsatz, wenn man davon ausgeht, daß unter Mißhandlung eine das körperliche Wohlbefinden des Betroffenen (schon an sich) nicht ganz unerheblich beeinträchtigende unangemessene Behandlung, in der Regel durch physische Einwirkung zu verstehen ist (vgl. Leukauf-Steininger, Kommentar2, RN. 9 zu § 83 StGB.; Kienapfel, Besonderer Teil I, 318 und die dort angeführten Beispiele).
Der bekämpfte Ausspruch, dem zufolge das Tatverhalten des Angeklagten nicht als Vorsatztat - unabhängig von der Frage, ob ein Rechtfertigungsgrund vorliegt -
beurteilt wurde, ist sohin weder mit einem Rechtsirrtum noch mit einem auf einer unrichtigen Rechtsauffassung beruhenden Feststellungsmangel behaftet.
Zur Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten:
Die auf § 281 Abs 1 Z. 5, 9 lit a und 9 lit b StPO. gestützte Beschwerde ist, soweit der letztgenannte Nichtigkeitsgrund releviert wird, berechtigt, denn dem Erstgericht ist ein Rechtsirrtum unterlaufen, weil es die Frage, ob ein Rechtsfertigungsgrund vorliegt, nicht geprüft und daher auch nicht positiv beurteilt hat. Nach den Tatsachenfeststellungen des Erstgerichtes war dem Angeklagten, der einer Auseinandersetzung mit dem erheblich alkoholisierten D ausweichen wollte und der zu diesem Zweck das Gasthaus verlassen hatte, ebenso wie unbeteiligten Dritten klar, daß etwas in der Luft lag, das heißt, daß ein Angriff des D drohte, als dieser dem Angeklagten folgte und ihn auf der Straße überholte (S. 79 d.A.). Tatsächlich verstellte der Zeuge dem Angeklagten den Weg, faßte ihn beim Rock und ließ ihn nicht weitergehen (S. 77, 79 d.A.). Es lag somit ein Angriff, worunter die Verletzung eines geschützten Rechtsgutes durch menschliches Verhalten zu verstehen ist, (Steininger, Die Notwehr in der neueren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes, ÖJZ. 1980
Heft 9 S. 227 und die unter Anmerkung 13 zitierte Literatur) vor. Der Angriff dauerte im Zeitpunkt der Abwehrhandlung noch an. Ja es war sogar eine Eskalation des Angriffes als unmittelbar bevorstehend zu erwarten. Es handelte sich somit um einen gegenwärtigen Angriff gegen die körperliche Unversehrtheit des Angeklagten und gegen seine Freiheit, somit um eine konkrete Gefährdung notwehrfähiger Güter (Steininger a.a.O., S. 229). Von einer bloßen Belästigung, worunter zum Beispiel das bloße Anfassen eines anderen im Zuge einer Debatte oder Körperberührungen in der Menge durch Vordrängen u.ä. zu verstehen ist (Steininger a.a.O. S. 227 und die in der Anmerkung 21 zitierte Literatur) kann im vorliegenden Fall nicht mehr gesprochen werden. Die gegebene Notwehrsituation im Sinne des § 3 Abs 1 StGB.
berechtigte den Angegriffenen zur notwendigen Verteidigung. Die Grundvoraussetzung der sogenannten Unfugabwehr (die Offensichtlichkeit, daß nur ein geringer Nachteil drohe; § 3 Abs 1 StGB. letzter Satz) lag nicht vor, sodaß auch keine Güterabwägung (die aber vorliegend auch zu Gunsten des Angeklagten ausfallen müßte) vorzunehmen war. Der Angeklagte hat nur das für den Angreifer am wenigsten schädliche und gefährliche Verteidigungsmittel verwendet, wenn er D bloß mit der flachen Hand wegtauchte. Die Abwehr war sohin maßhaltend (Steininger a.a.O. S. 230). Ihm kann somit auch keine Überschreitung der Grenzen notwendiger Verteidigung angelastet werden. Ein nochmaliges Ausweichen des Angeklagten (das dieser durch das Verlassen des Gasthauses ohnehin, allerdings vergeblich versucht hatte) war in dieser Situation nicht möglich und zumutbar, da ein Losreißen nur die Gefahr eines verstärkten und wirkungsvolleren Angriffes erhöht hätte: Weil für den Angeklagten gar keine Möglichkeit bestand, durch Flucht oder ein anderes den Angreifer schonenderes Mittel den Angriff abzuwehren oder zu entgehen, bot der vorliegende Fall auch keinen Anlaß die Frage zu beantworten, ob die neuere Rechtsprechung, die ein erhöhtes Maß an Rücksichtnahme, insbesondere eine Pflicht zum Ausweichen, auch vor rechtswidrigen Angriffen Betrunkener oder Volltrunkener verlangt, aufrechterhalten werden kann. Gegen eine erhöhte Rücksichtnahme auf diese Personen spricht, daß sie - anders als Kinder, Unreife oder Geisteskranke -
grundsätzlich nicht den besonderen Schutz des Gesetzes genießen, im Gegenteil, Trunkenheit wird als an sich sozialschädliches Verhalten angesehen, das nur nicht immer und unter allen Umständen strafwürdig ist (vgl. §§ 35, 81 Z. 2, 88 Abs 3 und Abs 4 2. Fall, 287 Abs 1 StGB.).
Gegen den - in der Regel besonders gefährlichen - Angriff Berauschter (oder durch Drogen beeinträchtigter Personen) besteht das Interesse der Rechtsbewährung im vollen Umfang (s. Steininger a. a.O. S. 231 und Fuchs, Probleme der Notwehr, in Strafrechtliche Probleme der Gegenwart, 8 - 1980, S. 16).
Ausgehend von den mängelfrei begründeten Feststellungen des Erstgerichtes war das Verhalten des Angeklagten als Notwehr gerechtfertigt. Der Angeklagte hat auch die Grenzen der nötigen Verteidigung nicht überschritten, es kann ihm somit auch keine Fahrlässigkeit angelastet werden. Der Beschwerde war daher aus dem Nichtigkeitsgrund des § 281 Abs 1 Z. 9 lit b StPO. Folge zu geben, das angefochtene Urteil aufzuheben und in der Sache selbst gemäß § 288 Abs 2 Z. 3 StPO. dahin zu entscheiden, daß der Angeklagte von der wider ihn erhobenen Anklage freigesprochen wird, ohne daß es eines Eingehens auf die übrigen vom Beschwerdeführer geltend gemachten Nichtigkeitsgründe bedarf.
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