OGH 12Os169/79

OGH12Os169/7910.1.1980

Der Oberste Gerichtshof hat unter dem Vorsitz des Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Breycha und in Gegenwart der Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Keller, Dr. Kral, Dr. Steininger und Dr. Lachner als Richter sowie des Richteramtsanwärters Dr. Lehmann als Schriftführer in der Strafsache gegen Rupert A wegen des Vergehens der fahrlässigen Tötung nach § 80 StGB. nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Graz als Jugendschöffengericht vom 9. Oktober 1979, GZ. 4 Vr 1147/79-21, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Nichtigkeitsbeschwerde wird Folge gegeben, das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an den Gerichtshof erster Instanz zurückverwiesen. Der Angeklagte wird mit seiner Berufung auf diese Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde der am 15. August 1961 geborene Hilfsarbeiter Rupert A des Vergehens der fahrlässigen Tötung nach § 80 StGB. schuldig erkannt und zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er am 13. April 1979 im Ortsgebiet von Leibnitz als Lenker eines Motorfahrrades durch Unterlassen eines Brems- oder Ausweichmanövers die 83-jährige Fußgängerin Maria B niedergestoßen und auf diese Weise fahrlässig deren Tod herbeigeführt hatte.

Dieses Urteil bekämpft der Angeklagte mit Nichtigkeitsbeschwerde (irrig auch als Berufung wegen Nichtigkeit bezeichnet) sowie mit Berufung wegen des Ausspruches über die Schuld, dies unzulässiger Weise (§ 283 StPO.) und über die Strafe.

Rechtliche Beurteilung

Der ziffernmäßig auf die Nichtigkeitsgründe der Z. 5, 9 lit. a und b des § 281 Abs. 1 StPO., der Sache nach nur auf die ersteren beiden, gestützten Nichtigkeitsbeschwerde kommt Berechtigung zu.

Das Erstgericht traf folgende wesentliche Tatsachenfeststellungen:

Der Angeklagte lenkte am 13. April 1979 ein seinem Onkel gehöriges Motorfahrrad im Stadtgebiet von Leibnitz durch die Rudolf-Hans-Bartsch-Gasse (Landesstraße Nr. 669) in westlicher Richtung mit einer Geschwindigkeit von 20 - 25 km/h. Etwa 28 m nach der Kreuzung mit der Augasse begann die 83-jährige Rentnerin Maria B zwischen zwei parkenden Fahrzeugen die Fahrbahn der Rudolf-Hans-Bartsch-Gasse in nord-südlicher Richtung, in der Fahrtrichtung des Angeklagten gesehen, von rechts nach links zu überqueren. Für den Angeklagten war die Bewegung der Fußgängerin über eine von dieser bis zur Kontaktstelle zurückgelegte Wegstrecke von mindestens 3 m einsehbar. Für diese Strecke benötigte die Fußgängerin bei einer Gehgeschwindigkeit von 1,1 m pro Sekunde (= 4 km/h) eine Zeit von 2,7 Sekunden.

Obwohl der Angeklagte zu erkennen vermochte, daß es sich bei der Fußgängerin 'um eine Greisin handelte, welche offensichtlich den Anforderungen des heutigen Straßenverkehrs nicht mehr gewachsen war', leitete er weder ein Bremsmanöver ein, noch wich er 'weiter nach links aus', sondern fuhr geradeaus weiter und prallte gegen die linke Körperseite Frau BS, wodurch diese auf die Fahrbahn geschleudert wurde und derart schwere Kopfverletzungen erlitt, daß sie am 16.April 1979 verstarb.

Unter Zugrundelegung der von Frau B bis zum Anprall zurückgelegten Wegstrecke von 3 m und der dafür aufgewendeten Zeit von 2,7 Sekunden hatte sich der Angeklagte bei einer Annäherungsgeschwindigkeit von 25 km/h im Zeitpunkt der erstmöglichen Sicht auf Frau B 18,6 m vom späteren Unfallspunkt entfernt befunden und hätte daher sein Fahrzeug unter Berücksichtigung einer Reaktionszeit von 1 Sekunde und einer mittleren Bremsverzögerung von 3,5 m pro Sekunde2, woraus sich ein Anhalteweg von 13,8 m ergibt, noch rund 5 m vor der Überquerungslinie der Fußgängerin durch Bremsung zum Stillstand bringen können. Andererseits wäre der Angeklagte auch in der Lage gewesen,den Unfall durch Ausweichen zu vermeiden, da bei der Geschwindigkeit von 25 km/h innerhalb von einer Sekunde eine Seitenversetzung des Motorfahrrades über 1,8 bis 2 Meter technisch möglich gewesen wäre.

Ziffernmäßig aus dem Nichtigkeitsgrund der Z. 9 lit. a des § 281 Abs. 1 StPO., sachlich jedoch als Begründungsmangel nach der Z. 5 dieser Gesetzesstelle, rügt der Beschwerdeführer die Urteilsannahme, er habe zu erkennen vermocht, daß es sich bei der Fußgängerin um eine Greisin handelte, 'welche offensichtlich den Anforderungen des heutigen Straßenverkehrs nicht mehr gewachsen war', als nicht begründet.

Dieser Einwand ist berechtigt, weil das Urteil jegliche Begründung für diese Annahme vermissen läßt und auch die Aktenlage keinen Anhaltspunkt dafür bietet, daß Frau B den Eindruck einer im Sinne des § 3 StVO. schutzwürdigen Person, insbesondere einer solchen erweckt hätte, aus deren augenfälligem Gehaben hätte geschlossen werden müssen, daß sie unfähig gewesen wäre, die Gefahren des Straßenverkehrs zu erkennen oder sich dieser Einsicht gemäß zu verhalten. Das bloß erkennbare höhere Alter eines Fußgängers allein reicht für eine derartige, den Vertrauensgrundsatz ausschließende Annahme nicht aus (vgl. ENr. 53 und 54 zu § 3 StVO. MGA 1977 u. a.).

Fehlt es an einer zureichend begründeten Feststellung in Ansehung des für die Frage der Ausnahme vom Vertrauensgrundsatz nach dem § 3 StVO. bedeutsamen Sachverhaltes, auf Grund dessen nach den Urteilsannahmen dem Angeklagten eine verspätete Reaktion auf das Verhalten der Fußgängerin anzulasten war, dann kommt es bei der Prüfung der Fahrlässigkeit des Beschwerdeführers darauf an, ob, inwieweit und ab welchem Zeitpunkt er, abgesehen von den vorerwähnten Umständen, das Verhalten der Fußgängerin aus anderen Gründen als unrichtig oder zumindest verkehrsbedenklich hätte ansehen müssen und ob eine den Unfall verhindernde oder dessen Folgen mildernde Reaktion des Beschwerdeführers auf Grund dieser Feststellungen noch möglich und zumutbar gewesen wäre. Zu dieser entscheidungswesentlichen Frage sind die Urteilsfeststellungen, wie die Beschwerde unter dem Nichtigkeitsgrund der Z. 5, dem Sinne nach der Z. 9 lit. a, des § 281 Abs. 1 StPO. im Ergebnis zu Recht bemängelt, jedoch unvollständig geblieben.

Denn die Urteilsgründe lassen, auch nicht unter Heranziehung der Ausführungen des Kraftfahrzeug-Sachverständigen, auf welchen die Urteilsannahmen beruhen (S. 87, 93 f), erkennen, ob die vom Beschwerdeführer eingesehene, von der Fußgängerin zurückgelegte Wegstrecke von mindestens 3 m vom Ende des Profilraumes der, in der Fahrtrichtung des Beschwerdeführers gesehen, am rechten Fahrbahnrand geparkten PKW zu messen ist, oder bereits von einer innerhalb des Parkstreifens, näher zu dessen nördlichen Begrenzung (vgl. Skizze S. 37 und die Feststellungen im Hauptverhandlungsprotokoll S. 85 f) gelegenen Stelle, an welcher Frau B zwischen den abgestellten Kraftfahrzeugen gehend erstmals ins Blickfeld des Beschwerdeführers (vgl. dessen Verantwortung vor der Gendarmerie, S. 33, 82), geraten sein konnte.

Hätte es sich aber bei der Fußgängerin nicht augenscheinlich um eine nach dem § 3 StVO. geschützte Person gehandelt, dann wäre bei der letztgenannten Fallkonstellation für den Beschwerdeführer mangels anderer Indizien ein verkehrswidriges oder bedenkliches Verhalten der Fußgängerin nicht vor dem Zeitpunkt des Verlassens des Profilraumes der geparkten Kraftfahrzeuge und dem Betreten der eigentlichen Fahrbahn, woraus sich ja erst der Verstoß gegen die Bestimmungen des § 76 (Abs. 1, Abs. 4 lit. b, Abs. 5 und Abs. 6) StVO.

über das Verhalten der Fußgängerin ergeben hätte, erkennbar und er deshalb zu einer unverzüglichen Abwehrreaktion verpflichtet gewesen. Ob dem Beschwerdeführer jedoch die Unterlassung einer rechtzeitigen Reaktion vorwerfbar ist, kann auf Grund der derzeit vorliegenden Tatsachenfeststellungen, nach welchen, wie erwähnt, der vom Beschwerdeführer einsehbare Weg der Fußgängerin, im Verhältnis zur gesamten Fahrbahnbreite, nicht lokalisierbar ist, nicht entschieden werden.

Da demnach das Urteil sowohl mit einem Begründungsmangel im Sinne der Z. 5 des § 281 Abs. 1 StPO., aber auch mit einem, die rechtliche Subsumtion hindernden, Feststellungsmangel nach der Z. 9 lit. a derselben Gesetzesstelle behaftet ist, war der Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten gemäß § 285 e StPO. in nichtöffentlicher Beratung Folge zu geben und spruchgemäß zu entscheiden.

Im zu erneuernden Verfahren wird zur Frage des Vorliegens der negativen Voraussetzungen des § 3 StVO. beachtlich sein, daß nach der bisherigen Aktenlage es sich bei Maria B um keine ersichtlich behinderte oder gebrechliche Person gehandelt hat, zumal sie dem gerichtsmedizinischen Gutachten zufolge keine Alters- oder Erkrankungserscheinungen aufwies, die über die üblichen ihres Lebensalters hinausgingen (S. 11, 84).

Auf die Frage der erstmaligen Sichtbarkeit der Fußgängerin auf ihrem Weg zwischen den parkenden Kraftfahrzeugen könnte auch ihre geringe Körpergröße (152 cm; vgl. S. 7) von Einfluß sein.

Ferner wird in Ansehung der bislang, auch nicht annähernd fixierten Anstoßstelle, welche für die Lokalisierung des Weges der Fußgängerin von ausschlaggebender Bedeutung ist, zu klären sein, ob die laut der Unfallsskizze (S. 37) auf der Fahrbahn befindlichen Milch- und Blutspuren mit der Endlage der Fußgängerin, in welche sie durch das Niederstoßen kam, übereinstimmen. In diesem Fall wäre aber eine Gehrichtung der Fußgängerin, wie sie in der Skizze eingezeichnet ist und vom Angeklagten behauptet wird, technisch kaum möglich. Zum Zwecke der Unfallsrekonstruktion wird in diesem Zusammenhang, unter Heranziehung der Sachverständigen für gerichtliche Medizin und für Kraftfahrzeug-Technik, allenfalls auch eine Erörterung angezeigt sein, ob und inwieweit die vom Angeklagten beschriebene Fahrrichtung sowie die Gehrichtung Frau BS und der primäre Anstoß an ihrer linken Brustseite mit der Lage der, offenbar durch den Aufprall auf der Straße, jedoch im Bereich der linken Schädelseite entstandenen schweren Verletzungen sowie der Hautabschürfung am rechten Ellenbogen (S. 7 f, 11, 84) in Einklang gebracht werden können (Drehbewegung?) oder ob und welche anderen Schlüsse aus der Lage dieser Verletzungen gezogen werden müßten.

Letztlich könnte sich im Falle des Nachweises einer schuldbaren Reaktionsverzögerung des Beschwerdeführers für die objektive Erfolgszurechnung auch noch die Problematik einer Risikoerhöhung gegenüber rechtmäßigem Alternativverhalten (vgl. Leukauf-Steininger2 S. 538 ff) stellen, wozu es ebenfalls Feststellungen tatsächlicher Natur bedürfte.

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