OGH 12Os107/78

OGH12Os107/7829.6.1978

Der Oberste Gerichtshof hat am 29.Juni 1978 unter dem Vorsitz des Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Breycha und in Gegenwart der Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Dienst, Dr. Kral, Dr. Schneider und Dr. Steininger als Richter sowie des Richteramtsanwärters Dr. Haindl als Schriftführer in der Strafsache gegen Heinrich A wegen Vergehens des Diebstahls nach § 127 Abs. 1 StGB, AZ. 29 Vr 1945/77 des Landesgerichtes Innsbruck, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck vom 8.März 1978, AZ. 3 Bs 51/78, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung, nach Anhörung des Vortrages des Berichterstatters, Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr. Steininger, und der Ausführungen des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Gehart, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

In der Strafsache gegen Heinrich A wegen Vergehens des Diebstahls nach § 127 Abs. 1 StGB, AZ. 29 Vr 1945/77 des Landesgerichtes Innsbruck, verletzen die Durchführung des Verfahrens über die Berufung der Staatsanwaltschaft und deren stattgebende Erledigung, obwohl dem Angeklagten weder die Berufung noch die Vorladung zum Gerichtstag zur öffentlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht rechtswirksam zugestellt wurden, das Gesetz in den Bestimmungen des § 467 Abs. 5 sowie des § 471 Abs. 1 und 2 StPO, jeweils in Verbindung mit § 489 Abs. 1 StPO.

Das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck vom 8.März 1978, 3 Bs 51/78, sowie alle weiteren sich darauf gründenden Vorgänge und Verfügungen werden aufgehoben. Den Untergerichten wird aufgetragen, das Berufungsverfahren, beginnend mit der Zustellung der Berufungsausführung an den Angeklagten, dem Gesetz gemäß erneut durchzuführen.

Text

Gründe:

Der am 7.November 1949 geborene Schlossergeselle Heinrich A wurde mit Urteil des Einzelrichters des Landesgerichtes Innsbruck vom 10. Oktober 1977, GZ. 29 Vr 1945/

77-6, des Vergehens des Diebstahls nach § 127 Abs. 1 StGB schuldig erkannt und hiefür nach dieser Gesetzesstelle zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen sowie zu einer dem § 19 Abs. 3 StGB entsprechenden Ersatzfreiheitsstrafe von 90 Tagen verurteilt.

Der Angeklagte verzichtete auf ein Rechtsmittel gegen dieses Urteil, wogegen die Staatsanwaltschaft durch ihren Vertreter in der Hauptverhandlung vorerst keine (Rechtsmittel-) Erklärung abgab, am 11. Oktober 1977 jedoch Berufung wegen des Ausspruches über die Strafe anmeldete.

Die für den Angeklagten bestimmte Ausfertigung der von der Staatsanwaltschaft fristgemäß überreichten Berufungsausführung wurde am 12.Jänner 1978, da der Angeklagte ungeachtet vorheriger Aufforderung in seiner Wohnung nicht anzutreffen war, bei dem für die Wohnadresse des Angeklagten zuständigen Postamt in Innsbruck hinterlegt; sie wurde nicht behoben.

Nach Ablauf der Frist zur überreichung einer Gegenausführung legte das Erstgericht die Akten dem Oberlandesgericht Innsbruck vor, welches den Gerichtstag zur öffentlichen Verhandlung über die Berufung der Staatsanwaltschaft für den 8.März 1978 anordnete. Die Ladung des Angeklagten zu dieser Berufungsverhandlung wurde gleichfalls, und zwar am 20.Februar 1978, beim Postamt hinterlegt. Sohin führte das Oberlandesgericht Innsbruck die Berufungsverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten durch und gab mit Urteil vom 8.März 1978, 3 Bs 51/78 (ON 12 des Vr-Aktes), der Berufung der Staatsanwaltschaft dahin Folge, daß über den Angeklagten an Stelle der Geldstrafe eine Freiheitsstrafe von fünf Monaten verhängt wurde.

Wie sich später ergab, war Heinrich A am 30.November 1977 wegen anderer strafbarer Handlungen verhaftet und nach Verbüßung einer Verwaltungsstrafe am 4.Dezember 1977 in das Gefangenenhaus des Landesgerichtes Innsbruck eingeliefert worden, wo er sich seither in Untersuchungshaft und ab 17.Februar 1978 in Strafhaft befindet, die bis 4.August 1978 dauert (S 171 und 173 sowie S 5 und 14 in ON 26 des Aktes 35 Vr 1638/77 des Landesgerichtes Innsbruck).

Rechtliche Beurteilung

Die Durchführung des Berufungsverfahrens vor dem Oberlandesgericht Innbruck und demzufolge auch die Berufungsentscheidung stehen mit dem Gesetz nicht im Einklang. Der das gerichtliche Strafverfahren in Österreich beherrschende Grundsatz des beiderseitigen Gehörs verlangt, daß der Angeklagte die Gelegenheit hat, sich am Verfahren über Rechtsmittel gegen ein ihn betreffendes Urteil entweder persönlich oder durch einen Verteidiger zu beteiligen (SSt 42/ 41 u.a.).

Demgemäß ist eine vom Ankläger zum Nachteil des Angeklagten eingebrachte Berufung letzterem mit dem Bedeuten mitzuteilen, daß er binnen vierzehn Tagen seine Gegenausführung überreichen könne; erst nach überreichung dieser Gegenausführung oder nach Ablauf der hiezu bestimmten Frist sind die Akten dem Berufungsgericht vorzulegen (§ 467 Abs. 5 StPO).

Vom Gerichtstag zur öffentlichen Verhandlung über die Berufung ist der Angeklagte so rechtzeitig zu verständigen, daß ihm wenigstens drei Tage zur Vorbereitung seiner Verteidigung freibleiben (§ 471 Abs. 1 und 2 StPO), obschon es im Ermessen des Berufungsgerichtes liegt, ob ein verhafteter Angeklagter zum Gerichtstag vorzuführen ist (§ 471 Abs. 3 StPO). Diese Vorschriften, die dem Sinne nach auch für Berufungen gegen vom Einzelrichter des Gerichtshofes erster Instanz gefällte Urteile gelten (§ 489 Abs. 1 StPO), wurden im vorliegenden Fall nicht eingehalten.

Tatsächlich war nämlich der Angeklagte ohne sein Zutun außerstande, von der Berufung der Staatsanwaltschaft und von der Ladung zur Berufungsverhandlung Kenntnis zu nehmen, da diese Schriftstücke bei dem für seine Wohnanschrift zuständigen Postamt hinterlegt und die entsprechenden Benachrichtigungen an dieser Wohnanschrift zurückgelassen wurden, während er sich zu dieser Zeit - wie oben erwähnt - beim Landesgericht Innsbruck in einem anderen Strafverfahren in Haft befand. Deshalb hatte die Hinterlegung gerichtlicher Schriftstücke beim Wohnortpostamt nicht die Rechtswirkung einer ordnungsgemäßen Zustellung (Gebert-Pallin-Pfeiffer III/1

§ 80 StPO/Nr. 34 und 70 a). Demzufolge war dem Angeklagten die Möglichkeit genommen, rechtzeitig Gegenausführungen zur Berufung zu erstatten und sich - zumindest durch einen Vertreter - an der Berufungsverhandlung vor dem Oberlandesgericht Innsbruck zu beteiligen.

Bei dieser Sachlage, die allerdings weder dem Erstrichter noch dem Berufungsgericht bekannt war, widersprach die Durchführung des Berufungsverfahrens ohne Beteiligungsmöglichkeit für den Angeklagten den Bestimmungen des § 467 Abs. 5

sowie des § 471 Abs. 1 und 2 StPO, jeweils in Verbindung mit § 489 Abs. 1 StPO (vgl. abermals SSt 42/41). Im Hinblick auf die erfolgte Verhängung einer strengeren als der vom Erstgericht ausgesprochenen Strafe kann nicht ausgeschlossen werden, daß diese gesetzwidrigen Vorgänge im Berufungsverfahren dem Angeklagten zum Nachteil gereichten.

Es war daher in Stattgebung der von der Generalprokuratur erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes spruchgemäß zu entscheiden.

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