OGH 2Ob158/75

OGH2Ob158/7518.9.1975

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Wittmann als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Piegler, Dr. Fedra, Dr. Thoma und Dr. Stix als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei A* F*, Witwenpensionistin, *, vertreten durch Dr. Othmar Slunsky, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei K* K*, Angestellter, *, vertreten durch Dr. Gottfried Lindner, Rechtsanwalt in Linz, wegen Schadenersatzes und Feststellung infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht vom 8. April 1975, GZ. 4 R 36/75‑46, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Zwischenurteil des Landesgerichtes Linz vom 12. Dezember 1974, GZ. 4 Cg 323/70-33, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1975:0020OB00158.75.0918.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben; das angefochtene Urteil wird mit der Maßgabe bestätigt, daß die Entscheidung zu lauten hat:

„Der Anspruch der Klägerin auf Zahlung von 40.052,50 S samt 4 % Zinsen aus 19.052,50 S seit 1.4.1970 und aus 21.000 S seit dem Klagstag sowie auf Zahlung einer monatlichen Rente von 600 S ab 1. 1. 1971 bis 31. 12. 1973 am Ersten eines jeden Monates im Vorhinein besteht dem Grunde nach zu Recht. Es wird festgestellt, daß der Beklagte der Klägerin für alle künftigen Schäden aus dem Unfall vom 28. 12. 1967 in Linz haftet."

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem Endurteil vorbehalten.

 

Entscheidungsgründe:

Am 28. Dezember 1967 gegen 6,30 Uhr überquerte R* F* die L*straße in * vom Haus * in Richtung zum Haus *. Er wurde vom Beklagten, der mit seinem PKW. auf der Linken Brückenstraße in Richtung Freistädterstraße fuhr, niedergestoßen und erlitt tödliche Verletzungen. Der Beklagte wurde nach § 335 StG. schuldig erkannt, weil er durch Außerachtlassung der im Straßenverkehr nötigen Sorgfalt und Aufmerksamkeit den R* F* mit dem Fahrzeug erfaßt und niedergestoßen habe. Die Klägerin als Witwe des Getöteten begehrte den Ersatz der Begräbniskosten von 19.052,50 S, den entgangenen Unterhalt für die Zeit vom 1. 2. 1968 bis einschließlich Dezember 1970 von 21.000 S und eine monatliche Rente von 600 S für die Zeit ab 1. 1. 1971 bis 31. 12. 1973 sowie die Feststellung der Haftung des Beklagten für ihren Schaden.

Der Beklagte wendete überwiegendes Mitverschulden des Verunglückten ein.

Das Erstgericht erkannte mit Zwischenurteil, der Ausspruch der Klägerin bestehe dem Grunde nach zu Recht (ONr. 33).

Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil und sprach aus, daß der Wert des Streitgegenstandes 50.000 S übersteige.

Der Beklagte erhebt Revision wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Rechtssache an die zweite oder erste Instanz zurückzuverweisen, oder aber es dahin abzuändern, daß der Anspruch der Klägerin hinsichtlich von drei Fünfteln nicht zu Recht bestehe und daher das darüber hinausgehende Klagebegehren abgewiesen werde.

Die Klägerin beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht begründet.

Die Untergerichte sind von folgenden Feststellungen ausgegangen:

Der am 13. 4. 1902 geborene Gatte der Klägerin R* F* litt seit etwa 32 Jahren an einem Raucherbein. Diese Krankheit bewirkte, daß das linke Bein im Unterschenkelbereich zeitweise offen war. Mit zunehmendem Alter verschlechterte sich sein Zustand, so daß er gezwungen war, mit 61 Jahren in Pension zu gehen, weil er den Anforderungen seines Berufes als Magazineur nicht mehr gewachsen war. In der letzten Zeit vor dem Unfall hatte sich sein Zustand verschlechtert, so daß er gehbehindert wurde. Er war zwar nicht genötigt, einen Stock zu benützen, ging jedoch etwa um die Hälfte langsamer als ein unbehinderter Erwachsener (2 bis 2,5 km), wobei er ganz kleine Schritte machte und die Beine nur wenig hob. Durch diese Gehbehinderung erweckte er den Eindruck, daß er mit dem linken Bein etwas hinke.

Am Unfallstag verließ er gegen 6,30 Uhr seine im Hause L*, befindliche Wohnung, um sich in das Geschäft des M* B* zu begeben, wo er einen Nebenverdienst suchte. Um in dieses Geschäft zu gelangen, mußte er die L*straße überqueren. Am Wohnhaus schließt unmittelbar an die Hausfront eine 4 m breite Grünfläche an, an der etwa parallel ein 4 m breiter Gehsteig vorbeiführt. Anschließend daran verläuft die Fahrbahn der L*straße mit einer Breite von 13,20 m. Sie war zum Zeitpunkt des Unfalles asphaltiert, eben und trocken. Die Straße verläuft nahezu völlig geradlinig; eine kürzere Sicht als 300 m, bezogen auf die Unfallsstelle, ist nirgends gegeben.

Gegenüber dem Hause Nr. * verläuft parallel zur Fahrbahn ein 5 m breiter Parkplatz, woran sich wiederum ein 3 m breiter Gehsteig und ein 4 m breiter Grünstreifen bis zur Front des Hauses * anfügen. Auf den Gehsteigen sind jeweils in einem Abstand von 30 m Masten für Beleuchtungskörper angebracht. Die Lichtquellen liegen in etwa 10 m Höhe. Die Masten sind so aufgestellt, daß sie links und rechts der Straße etwa um 15 m aneinander versetzt sind. Ein solcher Mast befindet sich auch vor dem Hause Nr. *, und zwar nahezu genau gegenüber der Unfallsstelle.

Zum Zeitpunkt des Unfalles war es noch dunkel, doch war die Straßenbeleuchtung eingeschaltet. Die Fahrbahn war so gut beleuchtet, daß auch ohne eigenes Scheinwerferlicht ein Fußgänger auf weite Entfernung wahrgenommen werden konnte. Die Ausleuchtung der Fahrbahn erfolgte überdies schlagschattenfrei.

Der Beklagte kam mit seinem PKW. von der O*straße und mußte an der Einmündung derselben in die L*straße verkehrsbedingt anhalten. Er hatte das Abblendlicht eingeschaltet. Ehe er in die L*straße einfuhr, befand sich R* F* bereits auf der Fahrbahn dieser Straße, um sie geradlinig zu überqueren. Von der Einmündung der O*straße in die L*straße bis zur Unfallsstelle hatte der Beklagte 195 m zurückzulegen. Er fuhr von dieser Straßeneinmündung an mit einer Geschwindigkeit von rund 45 km/h und benötigte für diese Strecke bei der eingehaltenen Geschwindigkeit 15,5 Sekunden. In diesem Zeitraum konnte R* F* bei seiner Gehweise 8,70 m zurücklegen. Da die Zusammenstoßstelle 2,30 m vom rechten Fahrbahnrand (gesehen in Fahrtrichtung des Beklagten) liegt, hatte R* F* bereits 10,90 m zurückgelegt und sonach einige Zeit, bevor er vom Beklagten wahrgenommen werden konnte, mit der Überquerung der Fahrbahn begonnen; als er die Fahrbahnmitte überschritt, war der PKW. des Beklagten noch 94 m von ihm entfernt. Es herrschte in beiden Richtungen Fahrzeugverkehr, der in Fahrtrichtung des Beklagten etwas stärker war. Der Beklagte fuhr in einer aufgelockerten Kolonne in einem Tiefenabstand von etwa 45 m hinter dem Vorderfahrzeug. Der Lenker desselben kreuzte den Weg des R* F*; davon bemerkte der Beklagte nichts. Daher nahm er auch mit dem Fußgänger weder durch optische noch durch akustische Signale Kontakt auf. Erst als sich der Beklagte auf etwa 15,5 m in dem R* F* angenähert hatte, bemerkte er ihn zum ersten Mal, versuchte durch Linkslenken und Bremsen einem Zusammenstoß zu entgehen, erfaßte jedoch nach einer Reaktionszeit von einer Sekunde und einer Bremszeit von 0,27 Sekunden mit dem rechten vorderen Fahrzeugteil 2,30 m vom rechten Fahrbahnrand den Fußgänger und stieß ihn nieder.

Der Klägerin sind nicht nur Begräbniskosten im Ausmaß von mindestens 16.000 S (insoweit außer Streit gestellt) erwachsen, sondern es ist ihr auch ein Unterhalt entgangen, weil der Getötete außer seiner Alterspension auch noch ein Nebeneinkommen durch Mithilfe im Geschäft des M* B* hatte. Der Unterhaltsentgang beträgt mindestens 1 S. Der entgangene Unterhalt unterliegt immer wieder Veränderungen, weil sich die Höhe der von der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter ausbezahlten Witwenrente jährlich ändern wird.

Das Erstgericht war der Ansicht, daß der Unfall auf das Alleinverschulden des Beklagten zurückgehe. Selbst wenn ein Mitverschulden des Getöteten anzunehmen wäre, sei dieses so geringfügig, daß es gegenüber dem Verhalten des Beklagten in den Hintergrund treten müsse. Das Feststellungsinteresse sei gegeben; die Voraussetzungen für die Fällung eines Zwischenurteiles lägen vor, weshalb die Ansprüche der Klägerin dem Grunde nach zur Gänze zu Recht bestünden.

Das Berufungsgericht schloß sich den Erwägungen des Erstgerichtes an.

Der Revisionswerber meint, es stehe fest, daß der Verunglückte bis zur Fahrbahnmitte, also für 6,6 m, 11,9 Sekunden gebraucht habe. Für die zweite Fahrbahnhälfte hätte er daher noch einmal 11,9 Sekunden benötigt. Der Beklagte sei aber 94 m von der Unfallsstelle entfernt gewesen, als der Fußgänger die Fahrbahn (richtig; die Fahrbahnmitte) überschritten habe. Bei einer Geschwindigkeit von 45 km/h habe der PKW. für diese Strecke rund 8 Sekunden benötigt. Daraus ergebe sich, daß der Fußgänger nicht in der Lage gewesen sei, vor dem PKW. die Fahrbahn zu überqueren. Er hätte bei richtiger Einschätzung der Verkehrslage in der Fahrbahnmitte stehenbleiben und die Vorbeifahrt des Beklagten abwarten müssen. Den Verunglückten treffe daher ein Mitverschulden von drei Fünfteln.

Die Revisionsgegnerin erwidert, daß sich ja ihr Gatte schon 2,2 m in der Fahrbahn befunden habe, als der Beklagte an der Kreuzung O*straße-L*straße losgefahren sei. Der Beklagte hätte von vornherein seine Fahrweise auf den Fußgänger einstellen sollen. Veranlasse ein Fußgänger einen Autofahrer lediglich zu einer geringeren Beschleunigung oder zu einer geringeren Endgeschwindigkeit beim Losfahren aus dem Stillstand, sei dies keine Behinderung. Aber auch bei seiner Endgeschwindigkeit von 45 km/h hätte der Beklagte durch ein geringes Auslenken nach links oder duch Gaswegnehmen den Unfall vermeiden können. Der Verunglückte sei ersichtlich gebrechlich und daher auch nicht verpflichtet gewesen, die Straße auf einem Schutzweg zu überqueren.

Nach § 76 Abs 5 StVO 1960 haben Fußgänger die Fahrbahn „in angemessener Eile“ zu überqueren, das heißt ohne vermeidbare Verzögerung, mit der individuell zumutbaren Eile (vgl. Jagusch, Straßenverkehrsrecht21, Randzahl 41, zu § 25 der deutschen StVO.). Daraus, daß der Gatte der Klägerin gehbehindert war und deshalb nur langsam die Fahrbahn überqueren konnte, kann ihm daher kein Vorwurf gemacht werden. Der Fußgänger hat ferner nach der erwähnten Gesetzesstelle außerhalb von Schutzwegen den kürzesten Weg zu wählen. Das hat R* F* getan. Schließlich darf der Fußgänger bei der Überquerung „den Fahrzeugverkehr nicht behindern“. Was der Gesetzgeber unter der Behinderung von Fahrzeugen versteht, hat er in der Neufassung des § 19 Abs. 7 StVO. 1960 durch die Novelle BGBl 1969/209 zum Ausdruck gebracht: Der Vorrangberechtigte darf weder zu einem unvermittelten Bremsen noch zum Ablenken des Fahrzeuges genötigt werden. Eine geringfügige Ermäßigung der Geschwindigkeit ist daher dem vorrangberechtigten Kraftfahrer zuzumuten (ZVR 1970/151, 1970/173, 1972/61), ohne daß deshalb ein Verstoß gegen § 19 Abs. 7 StVO 1960 vorläge. Diese Grundsätze sind entsprechend auch auf das Verhalten eines die Fahrbahn überquerenden Fußgängers anzuwenden. Daraus ergibt sich, daß dem Verunglückten kein Mitverschulden wegen eines Verstoßes gegen § 76 Abs. 5 StVO 1960 anzulasten ist, weil er die Fahrbahn bei solchen Sichtverhältnissen überquert hat, daß es dem Beklagten bei gehöriger Aufmerksamkeit leicht möglich gewesen wäre, durch eine geringfügige und keineswegs unvermittelte Verlangsamung seines Fahrzeuges den Unfall zu vermeiden.

Das angefochtene Urteil beruht daher nicht auf einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung des Sachverhaltes.

Zur Form der Entscheidung ist Folgendes zu bemerken:

Das Erstgericht hat nicht beachtet, daß ein Zwischenurteil begriffsnotwendig nur über ein Leistungsbegehren, nicht aber über ein Feststellungsbegehren ergehen kann und daß daher dem Feststellungsbegehren einfach stattzugeben gewesen wäre. Das Berufungsgericht meinte, hier handle es sich um einen Verfahrensmangel, dem es ohne Rüge in der Berufung nicht abhelfen könne. In Wahrheit hat sich aber das Erstgericht lediglich in der Entscheidungsform vergriffen und die übergeordnete Instanz ist berechtigt, der Entscheidung die richtige Form zu geben, was der Oberste Gerichtshof hiemit tut (JBl 1928, 516).

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf §§ 41, 50 ZPO.

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