OGH 2Ob221/60

OGH2Ob221/6016.9.1960

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Rat des Obersten Gerichtshofes Dr. Sabaditsch als Vorsitzenden und durch die Räte des Obersten Gerichtshofes Dr. Köhler, Dr. Pichler, Dr. Höltzel und Dr. Bauer als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, Wien 9., Rossauerlände 3, vertreten durch Dr. Kurt Scheffenegger, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Johann W*****, vertreten durch Dr. Egon Morgenstern, Rechtsanwalt in St. Pölten, wegen S 6.786,70 und Feststellung, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes vom 1. März 1960, GZ 7 R 45/60-20, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Kreisgerichtes St. Pölten vom 19. Oktober 1959, GZ 2 Cg 189/59-11, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit S 663,08 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 29. 3. 1957 verunglückte der Maurer Josef G***** tödlich, als er als Arbeiter der Baufirma J***** bei Ausführung von Ausbesserungs- und Weißigungsarbeiten an der Tankstelle R***** in St. Pölten von einem 2,80 m hohen Bockgerüst herabstürzte. Der Sturz ist darauf zurückzuführen, dass ein zur Tankstelle fahrender LKW an einen der oben auf dem Gerüst liegenden Pfosten, der um etwa 1 m hervorragte, streifte und ihn dadurch verschob. Der Lenker des LKW wurde strafgerichtlich verurteilt, weil er die Zufahrt zur Tankstelle an der Seite, wo gearbeitet wurde, benutzte und dabei mit dem LKW an das Gerüst streifte. Auch der bei der Baufirma als Baumeister beschäftigte Beklagte wurde verurteilt, weil er es als Aufsichtsperson über die Baustelle unterließ, die Kennzeichnung und Absperrung der Baustelle zu verfügen. Die Klägerin erbringt aus diesem Anlass an die Witwe des Verunglückten Leistungen. Sie begehrt unter Hinweis auf § 334 ASVG vom Beklagten den Ersatz der bereits erbrachten Leistungen sowie die Feststellung, dass der Beklagte auch für die künftigen Leistungen im Rahmen des § 334 ASVG aufzukommen habe.

Der Erstrichter wies das Klagebegehren ab. Er stellte im Wesentlichen fest: Der mit der Organisation und Überwachung der Arbeiten betraute Beklagte sei täglich in der Früh auf der Baustelle, die von den vorbeiführenden Straßen durch Schutzflächen getrennt sei, erschienen und habe sich dann zu anderen Baustellen, die er gleichfalls zu überwachen gehabt habe, begeben. Der mit der Durchführung der Arbeiten betraut gewesene Maurer Josef G***** sei ein älterer und sehr verlässlicher Maurer gewesen, der schon jahrzehntelang in seinem Fach tätig gewesen sei und bei der Baufirma J***** schon jahrelang als sogenannter Kiefelmaurer derartige kleinere Arbeiten zur vollsten Zufriedenheit ausgeführt habe, in Abwesenheit des Baumeisters für die Vorgänge auf der Arbeitsstätte verantwortlich und Anordnungsbefugter im Sinne des § 3 Abs 2 der Verordnung über den Schutz von Dienstnehmern bei Ausführung von Bauarbeiten, Bauneben- und Bauhilfsarbeiten vom 10. 11. 1954, BGBl Nr 267, gewesen sei. Er habe auch über die Erfordernisse eines Gerüstes genau Bescheid gewusst und Gerüsteverlegungen selbständig durchgeführt. Der Beklagte sei zuletzt am Vortag in der Früh auf der Baustelle gewesen. Damals habe ihn G***** gebeten, einen weiteren Arbeiter zuzuteilen, der über seine Veranlassung um 10 Uhr auf der Baustelle erschienen sei. Zu dieser Zeit sei das nordseitige Gerüst, von dem G***** später abstürzte, schon gestanden. Ob auch der Pfosten schon um einen Meter herausgeragt habe oder ob er erst später verschoben worden sei, habe durch die Beweisergebnisse nicht geklärt werden können, weil sich kein Zeuge habe erinnern können, den vorstehenden Pfosten gesehen zu haben. Das Zivilgericht sei jedoch in diesem Belange an die von der zweiten Instanz im Strafverfahren getroffene Feststellung gebunden, dass der Beklagte das vorstehende Pfostenstück hätte sehen und daher entweder dessen Beseitigung oder die Absperrung der Zufahrt hätte veranlassen müssen. Der Lenker des LKW sei deshalb an der eingerüsteten Seite der Tankstelle zugefahren, weil dort das Tanken für ihn bequemer gewesen sei. In dem Bestreben, dem vorstehenden Pfostenstück auszuweichen, sei er über den Rand der Schutzinsel gefahren, wobei sich der etwa 3 m hohe Aufbau des LKW etwas zur Seite geneigt und das Pfostenstück gestreift habe. Der Erstrichter beurteilte die dem Beklagten zur Last fallende Fahrlässigkeit nicht als grobes Verschulden im Sinne des § 334 ASVG.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Es übernahm die Feststellungen des Erstrichters und billigte auch dessen Rechtsauffassung, insbesondere auch in der Richtung, dass das Zivilgericht an die Feststellung des Strafrichters, der Beklagte hätte, als er zuletzt am Vortag in der Früh auf der Baustelle gewesen sei, das vorstehende Pfostenstück sehen müssen, gebunden sei. Das Strafgericht habe zwar nicht ausdrücklich festgestellt, dass das Pfostenstück schon damals um einen Meter vorgestanden sei, dies folge aber implicite aus der Feststellung, dass es der Beklagte hätte sehen müssen. Daraus allein könne aber noch keine grobe Fahrlässigkeit des Beklagten abgeleitet werden. Es sei zwar auch das Übersehen des überständigen Pfostenstückes eine Fahrlässigkeit, aber keine auffallende Sorglosigkeit, weil er sich darauf habe verlassen können, dass der erfahrene und als verlässlich bekannte Maurer G***** ohnehin von sich aus alles zur Verhütung eines Unfalles Erforderliche vorkehren werde. Auch die Unterlassung der Kennzeichnung und der Absperrung der Baustelle könne ungeachtet der aus diesem Grunde erfolgten strafgerichtlichen Verurteilung noch nicht als grobe Fahrlässigkeit gewertet werden.

Gegen das Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die auf § 503 Z 3 und 4 ZPO gestützte Revision der Klägerin mit dem Antrag, es dahin abzuändern, dass dem Klagebegehren stattgegeben werde oder es aufzuheben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Der Beklagte beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht begründet.

Als Aktenwidrigkeit wird gerügt, dass das Berufungsgericht annahm, es sei nicht ausdrücklich festgestellt, dass der Beklagte den überständigen Pfosten tatsächlich bemerkt habe. Das Strafgericht gehe nicht davon aus, dass der Beklagte den überständigen Pfosten bloß übersehen habe, sondern davon, dass er ihn gesehen und nicht das Erforderliche veranlasst habe. Das Strafgericht hat aber tatsächlich nicht festgestellt, dass der Beklagte das Vorstehen des Pfostens bemerkt habe. Es hat nur aus der Tatsache, dass ein Stück vorstand und dass der Beklagte die Baustelle besichtigte, gefolgert, dass ihm das Vorstehen des Pfostens habe auffallen müssen. Das besagt noch nicht, dass es ihm tatsächlich aufgefallen ist. Die Annahme des Berufungsgerichtes, es sei weder im strafgerichtlichen Urteil noch im vorliegenden Verfahren in erster Instanz festgestellt worden, dass der Beklagte den überständigen Pfosten wirklich bemerkt habe, ist daher nicht aktenwidrig.

Die Klägerin geht also, soweit sie die rechtliche Beurteilung der Sache darauf aufbauen will, dass der Beklagte das vorstehende Pfostenstück tatsächlich gesehen habe, nicht von dem festgestellten Sachverhalt aus.

Soweit die Klägerin dartun will, dass schon das Übersehen des vorstehenden Pfostenstückes eine grobe Fahrlässigkeit darstelle, kann ihr nicht gefolgt werden. Das Herausragen des Pfostens widersprach wohl der Bestimmung des § 19 Abs 3 der Verordnung über den Schutz von Dienstnehmern bei Ausführung von Bauarbeiten, Bauneben- und Bauhilfsarbeiten vom 10. 1. 1954, BGBl Nr 267, die besagt, dass der Überstand von Pfosten nicht mehr als 20 cm betragen darf. Ein Verstoß gegen eine solche Dienstnehmervorschrift muss aber, wenn er auch nach der Rechtsprechung als qualifizierte Fahrlässigkeit im Sinn des § 903 RVO zu beurteilen ist, nicht immer eine grobe Fahrlässigkeit im Sinn des § 334 ASVG darstellen. Ob grobe Fahrlässigkeit (= grobes Verschulden, vgl Klang2, VI, S 124) vorliegt, kann nur nach den Umständen des einzelnen Falles beurteilt werden, doch wird darunter ein besonderer Grad von Fahrlässigkeit verstanden werden müssen. Nur ungewöhnliche, auffallende Vernachlässigung wird als grobe Fahrlässigkeit zu beurteilen sein, sofern der Eintritt des vermeidbaren Schadens als wahrscheinlich voraussehbar war. Die Übertretung von Dienstnehmerschutzbestimmungen und Unfallverhütungsvorschriften muss an sich noch kein grobes Verschulden begründen (E v 10. 12. 1958, JBl 1959, S 211; Wedl JBl 1955, S 592f, auch Fenzl, ÖJZ 1955, S 635).

Eine auffallende Vernachlässigung der dem Beklagten als Aufsichtsperson im Sinne des § 3 Abs 1 der Bauarbeiterschutzverordnung obliegenden Verpflichtung wurde von den Vorinstanzen mit Recht nicht angenommen. Ein bewusster Verstoß gegen die Bauarbeiterschutzverordnung in der Richtung, dass der Beklagte gegen das Vorstehen des Pfostenstückes nichts unternommen habe, obwohl er es bemerkt habe, wurde, wie bereits erwähnt, nicht festgestellt. Dass das Gerüst von vornherein nur unter seiner Aufsicht hätte aufgestellt werden dürfen, behauptet die Klägerin selbst nicht. Der rechtlichen Beurteilung kann daher nur zugrunde gelegt werden, dass der Beklagte das gegen die Bestimmung des § 19 Abs 3 der Bauarbeiterschutzverordnung verstoßende Vorstehen des Pfostenstückes übersehen hat. Dieses Übersehen haben die Vorinstanzen ohne Rechtsirrtum nihct als grobe Fahrlässigkeit gewertet. Es kann insbesondere nicht gesagt werden, dass der Beklagte den Eintritt des Schadens als wahrscheinlich habe voraussehen können, wenn er sein Augenmerk nicht auf die Beschaffenheit des Gerüstes richte, da Josef G*****, wie festgestellt wurde, derartige Gerüste selbständig aufstellen konnte.

Desgleichen haben die Vorinstanzen auch das Unterlassen der Kennzeichnung und der Absperrung der Baustelle ungeachtet der aus diesem Grunde erfolgten strafgerichtlichen Verurteilung des Beklagten mit Recht nicht als groben Verstoß gegen die in den Straßenpolizeigesetzen enthaltenen Unfallverhütungsvorschriften angesehen. § 46 Abs 1 StPolO schreibt nicht schlechthin die Absperrung von Arbeitsstellen auf der Straße vor, sondern nur insoweit, als dies erforderlich ist. Wenn der Beklagte ein Erfordernis in dieser Richtung nicht als gegeben sah, so kann ihm dies mit Rücksicht auf die gegebenen Umstände nicht als grobe Fahrlässigkeit angelastet werden. Dass die Unterlassung der Kennzeichnung der durch das Gerüst für jedermann erkennbaren Baustelle kein grobes Verschulden darstellt, bedarf keiner weiteren Begründung.

Der Revision war daher der Erfolg zu versagen.

Der Ausspruch über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte