EGMR Bsw56402/12

EGMRBsw56402/124.4.2018

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Correia de Matos gg. Portugal, Urteil vom 4.4.2018, Bsw. 56402/12.

 

Spruch:

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK - Zwingende Vertretung durch einen Strafverteidiger.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK und von Art. 6 Abs. 3 EMRK (9:8 Stimmen).

 

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. hat die Ausbildung zum Rechtsanwalt absolviert. 1993 wurde ihm jedoch von der Rechtsanwaltskammer die Zulassung entzogen, weil die Tätigkeit als Rechtsanwalt als unvereinbar mit seiner Arbeit als Wirtschaftsprüfer erachtet wurde. Nachdem er im April 2016 diese Tätigkeit beendet hatte, blieb ihm aufgrund einer Disziplinarverfügung wegen unerlaubter Berufsausübung seine Zulassung zumindest bis Ende des Jahres entzogen. Bereits 2008 war er in einem Zivilprozess als Anwalt aufgetreten und hatte im Zuge dessen den Richter beleidigt, was eine strafrechtliche Anzeige nach sich zog.

Im Februar 2010 wurde erneut ein Strafverfahren gegen den Bf. wegen Beleidigung eines Richters eingeleitet und ein Pflichtverteidiger bestellt, nachdem der Bf. keinen Anwalt namhaft gemacht hatte. Im September eröffnete das Untersuchungsgericht Baixo-Vouga das Verfahren und wies einen Antrag des Bf. ab, die gerichtlich bestellte Anwältin zu entlassen und sich selbst verteidigen zu dürfen. Begründend führte das Gericht aus, auch ein Angeklagter, der selbst Anwalt sei, dürfe sich nicht selbst verteidigen, sondern bedürfe des Beistands eines Verteidigers.

Das Berufungsgericht Coimbra bestätigte diese Entscheidung. Obwohl das Rechtsmittel vom Bf. persönlich – und nicht von seiner Anwältin – eingebracht wurde, erachtete es das Gericht für zulässig, weil es gerade die Frage betraf, ob er sich selbst verteidigen durfte. In der Sache betonte das Gericht, dass der verfahrensrechtliche Status als Angeklagter nicht mit jenem des Verteidigers verbunden werden könne. Das portugiesische Strafprozessrecht diene nicht dazu, die Verteidigungsrechte einzuschränken, sondern der Gewährleistung einer angemessenen Verteidigung des Angeklagten.

Das Verfassungsgericht lehnte die Behandlung der vom Bf. erhobenen Beschwerde ab, weil diese nicht von der gerichtlich bestellten Strafverteidigerin unterschrieben oder gebilligt war.

Im Verfahren vor dem Strafgericht nahm der Bf. nicht an den Verhandlungen teil, sondern wurde von seiner Verteidigerin vertreten. Im Dezember 2013 wurde er wegen Beleidigung eines Richters zu einer Geldstrafe von € 1.260,– sowie zum Ersatz der Verfahrenskosten, einschließlich des Betrags von €150,– für die Pflichtverteidigerin, verurteilt.

Eine vom Bf. erhobene Berufung gegen das Strafurteil wurde vom Strafgericht Baixo-Vouga zurückgewiesen, weil sie nicht von einem Anwalt unterschrieben war und der Bf. nicht befugt war, sich selbst zu vertreten. Das Berufungsgericht Porto bestätigte diese Entscheidung.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK (Recht, sich selbst zu verteidigen oder sich durch einen Verteidiger der eigenen Wahl verteidigen zu lassen) durch die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte, mit denen ihm die Erlaubnis verweigert wurde, sich im Strafverfahren gegen ihn selbst zu verteidigen, und ihm aufgetragen wurde, sich durch einen Anwalt vertreten zu lassen.

Zulässigkeit

(88) Angesichts des ihm vorliegenden Materials ist der GH der Ansicht, dass die vorliegende Beschwerde eine Frage im Hinblick auf [...] das Recht des Bf. gemäß Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. c EMRK aufwirft, sich selbst zu verteidigen. Sie ist daher nicht offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK.

(89) Die Beschwerde ist auch nicht aus einem anderen Grund unzulässig. [...] Der von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 EMRK gewährte Schutz gilt für eine Person, die einer strafrechtlichen Anklage ausgesetzt ist. Eine solche liegt insbesondere von dem Moment an vor, zu dem eine Person von der zuständigen Behörde offiziell über den Vorwurf der Begehung einer Straftat in Kenntnis gesetzt wird. Daher wirft der vorliegende Fall insofern keine Frage hinsichtlich der Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auf, als der Bf. eine Verletzung seiner Verteidigungsrechte während des Ermittlungsverfahrens behauptet.

(90) Wie der GH weiters feststellt, hat die Regierung keine anderen Unzulässigkeitseinreden [...] erhoben. Die Beschwerde muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

Vorbemerkungen betreffend den Inhalt und Kontext der Beschwerde

(109) Der GH bemerkt zunächst, dass die Beschwerde [...] zwei Aspekte betrifft. Der Bf. rügte hauptsächlich, dass ihm trotz seiner rechtlichen Ausbildung nicht gestattet wurde, sich im Sinne der ersten Alternative des Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK ohne jede rechtliche Unterstützung durch einen Anwalt selbst zu verteidigen. Er brachte weiters vor, dass er sich nicht im Sinne der zweiten Alternative des Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK von einem Verteidiger seiner Wahl – nämlich sich selbst – verteidigen lassen konnte.

(110) [...] Die Stoßrichtung des vorliegenden Falls betrifft den Umfang des Rechts von Angeklagten mit rechtlicher Ausbildung, sich selbst zu verteidigen. Der GH stellt jedoch fest, dass der Bf. zur Zeit des fraglichen Verfahrens vor den innerstaatlichen Gerichten von der Liste der zugelassenen Anwälte gestrichen war und er daher ungeachtet der Vorschriften des portugiesischen Strafprozessrechts, die eine rechtliche Vertretung zwingend vorschreiben, nicht als Anwalt in seinem eigenen Fall auftreten hätte können.

Allgemeine Grundsätze

Charakter und Umfang der Prüfung des GH

(115) [...] Die Aufgabe des GH besteht nicht darin, das innerstaatliche Recht in abstracto zu beurteilen. Er muss vielmehr entscheiden, ob die Art, wie es angewendet wurde oder sich auf den Bf. auswirkte, eine Verletzung der Konvention begründete.

(118) Bei der Prüfung der Rüge des Bf. über die auf dem nationalen Recht beruhende Weigerung der innerstaatlichen Gerichte, ihm zu gestatten, sich im gegen ihn geführten Strafverfahren selbst zu verteidigen, wird der GH seine ständige Rechtsprechung zum Umfang des Rechts nach Art. 6 EMRK, sich selbst zu verteidigen, und den Ermessensspielraum berücksichtigen, den die Konvention den Mitgliedstaaten in diesem Bereich traditionellerweise gewährt hat. Auch wird er den rechtlichen Rahmen in Portugal, der eine zwingende Vertretung von Angeklagten in beinahe allen Strafverfahren vorsieht, und die besondere Anwendung dieser Bestimmungen im vorliegenden Fall durch die innerstaatlichen Gerichte im Licht der Notwendigkeit prüfen, die Fairness des Verfahrens insgesamt zu gewährleisten.

Umfang des Rechts, sich selbst zu verteidigen

(120) Die in Art. 6 Abs. 3 EMRK aufgelisteten Mindestrechte [...] sind jeweils keine Selbstzwecke, sondern sie dienen immer dazu, zur Gewährleistung der Fairness eines Strafverfahrens insgesamt beizutragen.

(121) Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK räumt einer Person, die einer Straftat angeklagt ist, das Recht ein »sich selbst zu verteidigen oder sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen«. Ungeachtet der Wichtigkeit der Vertrauensbeziehung zwischen einem Anwalt und seinem Mandanten gilt das letztgenannte Recht nicht absolut. [...] Es unterliegt notwendigerweise gewissen Einschränkungen, wenn es um kostenlosen Rechtsbeistand geht und auch insofern, als es Sache der Gerichte ist zu entscheiden, ob das Interesse am Funktionieren der Gerichtsbarkeit es erfordert, dass der Angeklagte von einem von ihnen bestellten Anwalt verteidigt wird.

(122) Nach der ständigen Rechtsprechung sowohl der EKMR als auch des GH garantiert Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. c EMRK somit, dass das Verfahren gegen den Angeklagten nicht ohne angemessene Vertretung für die Verteidigung stattfindet, aber er gibt dem Angeklagten nicht unbedingt das Recht, selbst zu entscheiden, auf welche Art diese Verteidigung sichergestellt werden soll. Die Entscheidung darüber, welche der beiden [...]Alternativen gewählt werden sollte – nämlich das Recht des Bf., sich selbst zu verteidigen oder sich von einem Anwalt seiner Wahl oder unter bestimmten Umständen einem vom Gericht bestellten Anwalt verteidigen zu lassen – hängt von den anwendbaren Gesetzen oder Verfahrensordnungen der Gerichte ab.

(123) Die Entscheidung, ob es einem Angeklagten gestattet wird, sich selbst ohne Beistand eines Anwalts zu verteidigen, oder ob stattdessen ein Anwalt bestellt wird, um ihn zu vertreten, fällt in den Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten. [...]

Grenzen des Ermessensspielraums

(130) Auch wenn die Vertragsparteien der EMRK ihrem durch die ständige Rechtsprechung des GH gewährten Ermessensspielraum entsprechend wählen können, ob sie eine zwingende rechtliche Vertretung vorsehen, kann der GH bei der Beurteilung der Relevanz und des Ausreichens der für diese Wahl vorgebrachten Gründe und bei der Entscheidung, ob der Staat die Grenzen seines Spielraums beachtet hat, berücksichtigen, welche Wahl andere Staaten getroffen haben und auf welche Kriterien sie sich dabei stützen. Auch kann der GH Entwicklungen im Völkerrecht und, sofern relevant, im Unionsrecht beachten.

(131) [...] Das vorliegende rechtsvergleichende Material zeigt, dass die untersuchten Mitgliedstaaten – unabhängig davon, ob sie als allgemeine Regel die Verteidigung durch den Angeklagten selbst gestatten – dazu tendieren, die persönliche Verteidigung durch den Angeklagten ohne Beistand eines Anwalts in einer stärker individualisierten Form zu gestatten. Dabei wird auf Faktoren wie die betroffene Ebene der Gerichtsbarkeit, die Schwere der Straftat und die Fähigkeit des Angeklagten abgestellt, seine eigene Verteidigung vorzunehmen.

(132) Der GH hat im Kontext seiner Prüfung der Vereinbarkeit staatlicher Maßnahmen mit den anderen Anforderungen von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK ähnliche Faktoren berücksichtigt, nämlich wenn er entschieden hat, ob die Interessen der Gerichtsbarkeit die Gewährung kostenlosen rechtlichen Beistands für den Bf. verlangen. [...]

(133) Zum Völkerrecht bemerkt der GH, dass der Wortlaut von Art. 14 Abs. 3 IPBPR jenem von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK entspricht. Dennoch hat der Menschenrechtsausschuss in seinem General Comment Nr. 32 [...] dargelegt, dass [...] jeder absolute rechtliche Ausschluss des Rechts, sich in einem Strafverfahren selbst ohne anwaltlichen Beistand zu verteidigen, vermieden werden sollte – insbesondere in vergleichsweise einfachen Fällen, die weniger schwerwiegende Anklagen betreffen und in denen der Angeklagte in der Lage ist, seine eigene Verteidigung ordentlich durchzuführen.

(136) Was das Unionsrecht betrifft, scheint [...] die RL 2013/48/EU [...] dem einzelnen Mitgliedstaat die Wahl zu überlassen, ob er sich für ein System der zwingenden rechtlichen Vertretung entscheidet oder nicht.

(137) Insgesamt ist der GH der Ansicht, dass die von anderen Mitgliedstaaten angewendeten Standards und die oben dargelegten internationalen Entwicklungen sowohl von den Mitgliedstaaten bei der Durchführung ihrer parlamentarischen Überprüfung [der Notwendigkeit einer Maßnahme] als auch vom GH bei der Ausübung seiner Überwachungsaufgabe beachtet werden sollten. Allerdings sind diese Standards angesichts der diesen Staaten von der Rechtsprechung des GH gewährten beträchtlichen Freiheit in der Wahl der Mittel zur Sicherstellung, dass ihre Gerichtssysteme den Anforderungen des in Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK enthaltenen Rechts »sich selbst zu verteidigen oder sich durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen« entsprechen, und angesichts der Tatsache, dass das eigentliche Ziel dieser Bestimmung darin besteht, die Fairness des Strafverfahrens insgesamt zu gewährleisten, nicht ausschlaggebend. Wären sie entscheidend, würde dies die Freiheit der Staaten hinsichtlich der Wahl der Mittel und den ihnen dabei zukommenden Ermessensspielraum erheblich einschränken. Während es also eine Tendenz in den Mitgliedstaaten geben mag, das Recht eines Angeklagten anzuerkennen, sich selbst ohne Beistand eines eingetragenen Anwalts zu verteidigen, besteht kein Konsens und selbst die nationalen Rechtsordnungen, die ein solches Recht gewähren, unterscheiden sich erheblich darin, wann und wie sie dies tun.

Der relevante Test

(143) Zusammengefasst sind bei der Prüfung der Vereinbarkeit von Fällen einer zwingenden rechtlichen Vertretung in einem Strafverfahren mit Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. c EMRK die folgenden Grundsätze anzuwenden: (a) Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. c EMRK gibt dem Angeklagten nicht unbedingt das Recht selbst zu entscheiden, auf welche Art seine Verteidigung gewährleistet werden soll; (b) die Entscheidung, welche der beiden in dieser Bestimmung genannten Alternativen gewählt werden sollte, nämlich das Recht des Bf., sich selbst zu verteidigen oder sich durch einen Verteidiger seiner Wahl – oder unter bestimmten Umständen einem vom Gericht bestellten Verteidiger – verteidigen zu lassen, hängt grundsätzlich von der nationalen Gesetzgebung oder den Verfahrensordnungen ab; (c) Mitgliedstaaten genießen einen Ermessensspielraum bei dieser Wahl, der allerdings nicht unbeschränkt ist. Im Lichte dieser Grundsätze muss der GH prüfen, ob erstens relevante und ausreichende Gründe für die im vorliegenden Fall zur Anwendung gelangte Wahl des Gesetzgebers vorgebracht wurden. Selbst wenn dies der Fall ist, ist es zweitens immer noch geboten, im Kontext der Gesamteinschätzung der Fairness des Strafverfahrens zu prüfen, ob die innerstaatlichen Gerichte bei Anwendung der umstrittenen Regel ebenfalls relevante und ausreichende Gründe für ihre Entscheidungen vorgebracht haben. In diesem Zusammenhang wird es relevant sein einzuschätzen, ob einem Angeklagten in der Praxis die Möglichkeit eingeräumt wurde, sich effektiv an seinem Verfahren zu beteiligen.

Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall

Prüfung der Relevanz und des Ausreichens der Gründe für die im vorliegenden Fall angewandte portugiesische Gesetzgebung

(144) Was die im vorliegenden Fall von den innerstaatlichen Gerichten angewandten gesetzlichen Bestimmungen über die zwingende rechtliche Vertretung betrifft, bemerkt der GH, dass die Gerichte ihre Entscheidung auf Art. 32 der Verfassung und auf Art. 64 StPO in ihrer Auslegung durch die ständige Rechtsprechung des Verfassungsgerichts und des OGH stützten. Nach Art. 64 Abs. 1 StPO in der damals anwendbaren Fassung war der Beistand eines Strafverteidigers in der Verhandlung vor dem Untersuchungsrichter und während der Gerichtsverhandlung zwingend, außer wenn das Verfahren nicht zu einer Freiheitsstrafe führen konnte. Allerdings können [...] beinahe alle Straftaten grundsätzlich eine Freiheitsstrafe nach sich ziehen, weil das portugiesische Strafgesetzbuch selbst für die meisten leichten Delikte die Möglichkeit einer Freiheitsstrafe vorsieht. Auch in der Praxis der portugiesischen Gerichte scheint die Vertretung durch einen Rechtsanwalt in allen wesentlichen Stadien des Strafverfahrens zwingend zu sein. [...] Somit ist das portugiesische Strafprozessrecht ohne Zweifel besonders strikt was die Möglichkeit angeklagter Personen betrifft, ihre eigene Verteidigung ohne rechtlichen Beistand durchzuführen, wenn sie dies wünschen. [...]

(145) [...] Die Relevanz und Hinlänglichkeit der Gründe für die zwingende rechtliche Vertretung hängen auch von der Qualität der in Portugal durchgeführten parlamentarischen und gerichtlichen Kontrolle ab. Wie aus der Präambel zur StPO von 1987 hervorgeht, zielte [...] Art. 64 Abs. 1 darauf ab, die Rechtsstellung des Angeklagten zu stärken und die effektive Waffengleichheit mit der Staatsanwaltschaft [...] sicherzustellen. [...]

(146) Wie der GH weiters zur Kenntnis nimmt, wurden einige Fragen betreffend den in Art. 64 Abs. 1 StPO festgeschriebenen zwingenden rechtlichen Beistand im Strafverfahren vom portugiesischen Gesetzgeber überprüft. Insbesondere blieb die Wahl des Gesetzgebers hinsichtlich dieses Mechanismus der rechtlichen Verteidigung bei der Überarbeitung dieser Bestimmung [1998 und 2008] unverändert, wobei das Verfassungsgericht 2001 die Vereinbarkeit mit der Verfassung und der Konvention bestätigte.

(147) Was die Qualität der gerichtlichen Überprüfung betrifft, stellte das Verfassungsgericht fest, dass die in den Art. 61, 62 und 64 StPO zum Ausdruck kommende Wahl des Gesetzgebers, die von angeklagten Personen selbst dann, wenn sie selbst ordentlich in die Liste eingetragene Anwälte sind – und erst recht, wenn sie dies nicht sind – verlangt, dass sie sich im Strafverfahren von einem Verteidiger vertreten lassen, nicht mit der portugiesischen Verfassung unvereinbar ist. Diese Regeln versuchen zu garantieren, dass die Interessen des Angeklagten in sachlicher Weise verteidigt werden. Auch werden sie durch die Befugnis des Angeklagten ausgeglichen, jede von seinem Anwalt gesetzte Handlung zu widerrufen, und durch weitere Möglichkeiten des Angeklagten unterstützt, im Verfahren jederzeit persönlich einzuschreiten. In anderen Entscheidungen verwies das Verfassungsgericht auf die Notwendigkeit, die Rechtsdurchsetzung sowie die Interessen des Angeklagten zu schützen sowie auf die Notwendigkeit, die Teilnahme von qualifizierten Fachleuten sicherzustellen, die fähig sind, die nötigen technischen Vorbereitungen und die Wahrung des Berufsethos zu gewährleisten.

(148) In einer Reihe von Urteilen des OGH erklärte dieser näher, welche Philosophie hinter der Einschränkung der Verteidigung durch den Angeklagten alleine steht und welche Ziele die Bestimmung über die zwingende rechtliche Vertretung verfolgt: die Notwendigkeit, eine gleichberechtigte Praxis sicherzustellen, die es dem Angeklagten erlaubt, seine Verteidigung gemeinsam mit einem Anwalt vorzubereiten, ihm aber das Recht vorbehält, Anträge, schriftliche Stellungnahmen und Anmerkungen vorzubringen, die keine Rechtsfragen betreffen; die Notwendigkeit, eine leidenschaftslose Abhandlung eines Falls als zusätzliche Sicherstellung im Strafverfahren zu gewährleisten; die Notwendigkeit sicherzustellen, dass der Angeklagte technische Unterstützung erhalten hat, sodass sein Fall nicht geschwächt wurde; und das Bestehen eines prozessualen oder sonstigen Spannungsverhältnisses zwischen der Stellung als angeklagter Person und den Verantwortlichkeiten eines Verteidigers. Außerdem unterstrich der OGH die prozessualen Werkzeuge, die dem Angeklagten während der Verhandlung zur Verfügung stehen [...]. Diese Werkzeuge sind sowohl im Kontext der Prüfung der Relevanz und Hinlänglichkeit der Gründe, die der Wahl des Gesetzgebers zu Grunde liegen, als auch im Kontext der Einschätzung der Fairness des Verfahrens insgesamt wichtig.

(150 Der GH misst diesen Überprüfungen erhebliches Gewicht bei. Die Gesetzgebung hielt wiederholt an der Anforderung des zwingenden Rechtsbeistands in Strafverfahren fest. Die portugiesischen Gerichte, namentlich der OGH und das Verfassungsgericht, lieferten in ihrer umfangreichen und gefestigten Rechtsprechung zu diesem Gegenstand sehr ausführliche Begründungen dafür, warum sie die vergleichsweise strikte Regel der zwingenden rechtlichen Vertretung als verfassungskonform und als sowohl im Interesse des Angeklagten als auch im öffentlichen Interesse notwendig ansahen.

(151) In diesem Zusammenhang möchte der GH betonen, dass die zentrale Frage hinsichtlich der umstrittenen Maßnahme nicht ist, ob eine weniger strenge Regel angenommen hätte werden sollen oder ob der Staat beweisen könnte, dass die Verteidigungsrechte eines Angeklagten ohne die Erfordernis der zwingenden rechtlichen Vertretung nie garantiert werden könnten. Die Kernfrage aus der Perspektive der Frage, ob relevante und ausreichende Gründe für die getroffene Wahl vorlagen, ist vielmehr, ob der Gesetzgeber innerhalb des ihm gewährten Ermessensspielraums gehandelt hat.

(152) Wie der GH weiters feststellt, befassten sich die innerstaatlichen Gerichte im vorliegenden Fall gewissenhaft mit den Begründungen, denen das portugiesische Verfassungsgericht, der OGH und die Berufungsgerichte seit vielen Jahren folgten. Sie betonten, dass die von ihnen angewendeten Regeln über den zwingenden rechtlichen Beistand im Strafverfahren nicht dazu dienten, die Handlungen der Verteidigung einzuschränken, sondern dazu, den Angeklagten durch die Sicherstellung einer effektiven Verteidigung zu schützen [...].

(153) Die Entscheidung der portugiesischen Gerichte, die vom Bf. verlangte, sich von einem Anwalt vertreten zu lassen, war daher das Resultat einer umfassenden Gesetzgebung, die darauf abzielte, angeklagte Personen zu schützen, indem eine effektive Verteidigung in Fällen sichergestellt wurde, in denen eine Freiheitsstrafe möglich ist. Der GH kann akzeptieren, dass ein Mitgliedstaat legitimerweise davon ausgehen kann, dass ein Angeklagter zumindest in der Regel besser verteidigt wird, wenn er die Unterstützung eines Strafverteidigers hat, der leidenschaftslos und technisch vorbereitet ist. Diese Prämisse spiegelt sich in den einschlägigen Bestimmungen des portugiesischen Rechts wider, auf denen die umstrittenen Entscheidungen im vorliegenden Fall beruhten. Er akzeptiert weiters, dass es selbst für einen zum Anwalt ausgebildeten Angeklagten wie den Bf. in Folge seiner persönlichen Betroffenheit von den Vorwürfen unmöglich sein kann, eine effektive Verteidigung seines eigenen Falls durchzuführen.

(154) Die Legitimität solcher Überlegungen gilt umso mehr, wenn ein Angeklagter wie hier von der Anwaltskammer ausgeschlossen wurde, daher kein ordentlich eingetragener Anwalt mehr und von der Gewährung rechtlicher Unterstützung an Dritte ausgeschlossen war. Außerdem geht im Fall des Bf. aus den Unterlagen klar hervor, dass er trotz seiner Suspendierung als Verteidiger aufgetreten war und bereits wegen Beleidigung eines Richters in diesem Verfahren angeklagt wurde. Angesichts der in der ständigen Rechtsprechung des GH anerkannten besonderen Rolle von Anwälten in der Gerichtsbarkeit und insbesondere ihrer Pflichten hinsichtlich ihres Verhaltens gab es vernünftige Gründe für die Annahme, dass dem Bf. der sachliche und leidenschaftslose Zugang fehlte, der nach portugiesischem Recht als notwendig für die effektive Durchführung der eigenen Verteidigung angesehen wird.

(155) Überdies darf der GH nicht den prozessualen Gesamtkontext aus den Augen verlieren, in dem die Anforderung der zwingenden Vertretung anzuwenden war und im vorliegenden Fall angewendet wurde. Die besondere Strenge des portugiesischen Rechts aus Sicht eines Angeklagten wie dem Bf. bedeutet nicht, dass er aller Mittel beraubt wurde, mit denen er über die Durchführung seiner Verteidigung entscheiden und sich effektiv an seiner eigenen Verteidigung beteiligen konnte. Während die technische Verteidigung nach dem portugiesischen Strafprozessrecht dem Anwalt vorbehalten war, verlieh die einschlägige Gesetzgebung dem Angeklagten mehrere Mittel, um sich an dem Verfahren zu beteiligen und persönlich einzuschreiten.

(156) Der Angeklagte hatte das Recht, in allen ihn betreffenden Stufen des Verfahrens anwesend zu sein, sich zum Inhalt der Vorwürfe zu äußern oder zu schweigen und Stellungnahmen, Erklärungen und Anträge vorzulegen, in denen er Rechts- und Sachfragen aufwerfen konnte, und die zum Akt gegeben wurden, ohne dass sie von einem Anwalt unterschrieben sein mussten. Außerdem konnte er unter den in Art. 63 Abs. 2 StPO dargelegten Umständen jede in seinem Namen gesetzte Maßnahme widerrufen. Zudem sah das portugiesische Recht vor, dass der Angeklagte die letzte Person war, der nach Abschluss der mündlichen Plädoyers und vor der Urteilsverkündung das Wort erteilt wurde.

(157) Schließlich konnte der Angeklagte, wenn er mit dem gerichtlich bestellten Verteidiger nicht zufrieden war, aus bestimmten Gründen einen Verteidigerwechsel beantragen. Angeklagten stand es [...] auch frei, einen Anwalt ihrer Wahl zu beauftragen, dem sie vertrauten und mit dem sie sich hinsichtlich der Verteidigungsstrategie einig waren. Es stimmt, dass Angeklagte im Fall einer Verurteilung die Kosten des Pflichtverteidigers tragen mussten. Allerdings konnten sie Verfahrenshilfe beantragen, wenn sie für diese Kosten nicht aufkommen konnten. [...]

(158) Trotz der Anforderung, sich von einem Anwalt vertreten zu lassen, blieb nach Ansicht des GH in der Praxis eine vergleichsweise große Bandbreite für einen Angeklagten wie den Bf., um zu beeinflussen, wie seine Verteidigung im Strafverfahren gegen ihn durchzuführen war und um sich aktiv an seiner eigenen Verteidigung zu beteiligen.

(159) Angesichts des Vorgesagten stellt der GH fest, dass das wesentliche Ziel der portugiesischen Regel über die zwingende rechtliche Vertretung im Strafverfahren darin besteht, das ordnungsgemäße Funktionieren der Justiz und eines fairen Verfahrens, das dem Recht des Angeklagten auf Waffengleichheit entspricht, sicherzustellen. Unter Berücksichtigung des prozessualen Gesamtkontexts, in dem die Anforderung der zwingenden rechtlichen Vertretung angewendet wurde, und des den Staaten hinsichtlich der Wahl der Mittel zur Sicherstellung der Verteidigung eines Angeklagten zustehenden Ermessensspielraums erachtet der GH die insgesamt und im vorliegenden Fall für die Anforderung der zwingenden Vertretung vorgebrachten Gründe sowohl als relevant als auch als ausreichend.

Gesamtfairness des Verfahrens

(160) Für den GH bleibt zu prüfen, ob das Strafverfahren gegen den Bf., in dem die innerstaatlichen Gerichte die umstrittene Regel der zwingenden Vertretung anwendeten, insgesamt als fair betrachtet werden kann.

(161) [...] Die Verteidigung des Bf. wurde bei den Anhörungen vor dem Untersuchungsrichter und dem verhandelnden Gericht durch seine gerichtlich bestellte Verteidigerin gewährleistet.

(162) Der Bf. nahm seinerseits nicht an diesen Verhandlungen teil und entschied sich freiwillig, nicht von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, sich gemeinsam mit seiner Anwältin an seiner Verteidigung zu beteiligen. Er kommunizierte nicht mit seiner Anwältin und versuchte nicht, sie anzuweisen und gemeinsam mit ihr zu bestimmen, wie seine Verteidigung durchgeführt werden sollte. Im Verfahren vor dem GH erklärte er, kein Vertrauensverhältnis zu seiner Anwältin gehabt und sie für unerfahren gehalten zu haben, weil sie aus einem kleinen Dorf stammte. Allerdings scheint er die Qualifikationen oder Qualität der gerichtlich bestellten Verteidigerin im innerstaatlichen Verfahren nicht angefochten zu haben. Er beantragte auch nicht die Bestellung eines anderen Anwalts durch die Gerichte, wie es ihm bei Vorliegen entsprechender Gründe zugestanden wäre. Gleichermaßen machte er keinen Gebrauch von der nach innerstaatlichem Recht gegebenen Möglichkeit, einen Anwalt seiner Wahl zu beauftragen [...].

(163) Zudem hatte der Bf. [...] das Recht, an den Verhandlungen teilzunehmen und einzuschreiten und insbesondere den Gerichten seine eigene Version der Geschehnisse [...] zu schildern. Er machte jedoch keinen Gebrauch von irgendeiner dieser Möglichkeiten. Der Bf. behauptete vor dem GH nie, dass es ihm nicht möglich gewesen wäre, den Gerichten seine eigene Version des Sachverhalts oder seine eigene Auslegung der einschlägigen Vorschriften zu präsentieren.

(164) In diesem Zusammenhang muss der GH festhalten, dass es der Bf. vorzog, nicht an den Verhandlungen vor dem Untersuchungsrichter und dem verhandelnden Gericht teilzunehmen, obwohl er kein Vertrauen in die Fähigkeit seiner Anwältin hatte, ihn angemessen zu verteidigen. Die von ihm vorgebrachten Gründe, warum es ihr an dieser Fähigkeit mangelte, nimmt der GH zur Kenntnis. Allerdings behauptete der Bf. nicht, dass seiner Anwältin irgendwelche Verfahrensfehler unterlaufen wären. [...]

(165) Überdies wurde der Bf. ein zweites Mal wegen Beleidigung eines Richters angeklagt. Angesichts der besonderen Rolle von Anwälten in der Gerichtsbarkeit [...] kann ein solches wiederholtes Vergehen, das zu einer Freiheitsstrafe von bis zu vier Monaten und 15 Tagen führen konnte, nicht als geringfügig angesehen werden. Angesichts der Umstände und der Art der ihm vorgeworfenen Straftat war es nicht unvernünftig von den innerstaatlichen Gerichten anzunehmen, dass dem Bf. der objektive und leidenschaftslose Zugang fehlte, der nach portugiesischem Recht als zur Durchführung der eigenen Verteidigung notwendig erachtet wurde.

(166) Unter Beachtung des ihm vorliegenden Materials erkennt der GH keinen stichhaltigen Grund dafür zu bezweifeln, dass die Verteidigung des Bf. durch die gerichtlich bestellte Anwältin unter den Umständen des Falls angemessen durchgeführt wurde, oder dass die Verfahrensführung der innerstaatlichen Gerichte in irgendeiner Weise unfair war.

(167) Tatsächlich geht aus den Stellungnahmen und wiederholten Beschwerden des Bf. an den GH betreffend die Anforderung der zwingenden Vertretung im Strafverfahren hervor, dass das Hauptanliegen des Bf. nicht das spezielle Strafverfahren war, das den Anlass für die vorliegende Beschwerde lieferte, sondern sein Wunsch, seinen grundsätzlichen Standpunkt hinsichtlich der zwingenden rechtlichen Vertretung im portugiesischen Recht zu verfolgen. Über seine generelle Ablehnung dieser zwingenden Anforderung hinaus brachte der Bf. kein stichhaltiges Argument vor, das auf die Fehlerhaftigkeit oder Unfairness des Strafverfahrens gegen ihn hindeuten würde.

(168) Angesichts dieser Überlegungen sieht der GH keine Grundlage dafür, das Strafverfahren gegen den Bf., in dem die innerstaatlichen Gerichte das umstrittene Erfordernis der zwingenden Vertretung anwendeten, für unfair zu erklären.

Schlussfolgerung

(169) Folglich hat keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 EMRK stattgefunden (9:8 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Sajó; gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richterinnen Tsotsoria und Motoc und des Richters Mits; abweichendes Sondervotum von Richter Pinto de Albuquerque, gefolgt von Richter Sajó; gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richter Pejchal und Wojtyczek; abweichendes Sondervotum von Richter Bošnjak).

Vom GH zitierte Judikatur:

Correia de Matos/P v. 15.1.2001 (ZE)

Mayzit/RUS v. 20.1.2005

Sakhnovskiy/RUS v. 2.11.2010 (GK) = NLMR 2010, 341

Dvorski/HR v. 20.10.2015 (GK) = NLMR 2015, 412

Ibrahim u.a./GB v. 13.9.2016 (GK) = NLMR 2016, 423

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 4.4.2018, Bsw. 56402/12, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2018, 132) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/18_2/Correia.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

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