EGMR Bsw22696/16

EGMRBsw22696/1625.1.2018

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache J. R. u.a. gg. Griechenland, Urteil vom 25.1.2018, Bsw. 22696/16.

 

Spruch:

Art. 3 EMRK, Art. 5 Abs. 1 EMRK, Art. 5 Abs. 2 EMRK - Anhaltung von Migranten in griechischem Aufnahmezentrum vor Abschiebung nach EU-Türkei-Abkommen 2016.

Unzulässigkeit der Beschwerde betreffen die behauptete Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK durch die Freiheitsentziehung nach dem 21.4.2016 (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde betreffen die behauptete Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK durch die Freiheitsentziehung zwischen 21.3. und 21.4.2016 (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 lit. f EMRK (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 5 Abs. 2 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 2 EMRK (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 5 Abs. 3 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 650,– für immateriellen Schaden an jeden der Bf.; € 1.000,– für Kosten und Auslagen an die Bf. gemeinsam (einstimmig).

 

Begründung:

Sachverhalt:

Am 20.3.2016 trat ein Abkommen zwischen den EU-Staaten und der Türkei zur Immigration (»Erklärung EU-Türkei«) in Kraft. Es sah unter bestimmten Voraussetzungen die Rückverbringung von illegal nach Griechenland eingereisten Migranten in die Türkei vor.

Am 21.3.2016 kamen die drei Bf. – afghanische Staatsangehörige – auf der griechischen Insel Chios in der Ägäis an. Sie wurden festgenommen und im Hotspot Vial untergebracht, einem Zentrum zur Aufnahme, Identifizierung und Registrierung von Migranten auf einem stillgelegten Industriegelände. Mit drei Entscheidungen vom selben Tag ordnete der Polizeidirektor von Chios die vorläufige Haft der Bf. bis zur Abschiebungsentscheidung an, die binnen drei Tagen ergehen sollte.

Am 24.3.2016 erließ der Polizeidirektor die drei Abschiebungsentscheidungen gegen die Bf. Wegen Fluchtgefahr wurde damit ihre Haft bis zu ihrer Abschiebung (allerdings maximal bis zu sechs Monaten) verlängert.

Die Bf. äußerten am 4.4.2016 gegenüber den Polizeibeamten im Zentrum Vial ihren Wunsch, einen Asylantrag zu stellen. Am 15.4.2016 wurden sie von einem Team im Zentrum Vial registriert und am 19.4.2016 erließ der Verantwortliche des Zentrums drei Entscheidungen, mit denen die Bewegungsfreiheit der Bf. ab dem 15.4.2016 und für zwei Wochen beschränkt wurde. Diese Frist konnte bis auf 25 Tage verlängert werden. Die Regierung anerkennt, dass diese Entscheidungen den Bf. nicht mitgeteilt wurden, da Letztere von den Behörden im Zentrum nicht ausfindig gemacht werden konnten.

Das Zentrum Vial, das ab dem 21.4.2016 halboffen geführt wurde (die dort Untergebrachten konnten es tagsüber nach eigenem Wunsch verlassen und mussten nur in der Nacht dort bleiben), wurde nach den Angaben der Bf. zunächst von humanitären Organisationen und dem UNHCR geführt, die sich aber am 20.3.2016 zurückgezogen hätten, als das Abkommen zwischen der EU und der Türkei in Kraft trat. Daraufhin hätten die griechischen Behörden und die Agentur Frontex die Leitung übernommen. Insgesamt wären die Bedingungen im Zentrum schlecht gewesen, vor allem sei die verteilte Nahrung von schlechter Qualität und unzureichend sowie seien die sanitären Anlagen und Toiletten aufgrund der Überbelegung verschmutzt gewesen. Zudem hätte es keine ausreichende medizinische Versorgung gegeben.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupteten eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Rechtmäßigkeit der Haft), weil ihre Haft aufgrund ihrer Dauer und Bedingungen willkürlich gewesen sei. Weiters rügten sie eine Verletzung von Art. 5 Abs. 2 (Information über die Gründe der Festnahme), da sie nicht von den Gründen für ihre Anhaltung in Kenntnis gesetzt worden wären, und von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) aufgrund ihrer Haftbedingungen im Zentrum von Vial. Schließlich rügte der ErstBf. eine Verletzung von Art. 34 EMRK (Individualbeschwerderecht).

Zur Einrede der Regierung betreffend die mangelnde Bevollmächtigung des Vertreters der Bf.

(67) Die Bf. hatten im vorliegenden Fall keinen direkten Kontakt mit dem GH, sondern brachten ihre Beschwerde über ihren [...] Anwalt ein, der das Beschwerdeformular unterzeichnet hat. In der Rubrik des Formulars, die für die Unterschrift der Bf. vorgesehen war, erwähnte der Anwalt, dass es diesen »unmöglich wäre, die Vollmacht zu unterzeichnen, da sie sich in Haft befänden«. In einer anderen Rubrik des Formulars wies er überdies darauf hin, dass »es den Bf. aktuell nicht möglich ist, die Vollmacht zu unterzeichnen, da sie im Anhaltezentrum von Vial auf der griechischen Insel Chios untergebracht sind«.

(72) Seinem Brief vom 9.5.2016 hat der Anwalt im Haftzentrum von Vial gemachte Fotos der drei Bf. beigefügt, ebenso wie eine Kopie der mit den Betroffenen [über WhatsAPP] ausgetauschten Nachrichten. Aus diesen geht klar hervor, dass die Bf. die Frage des Anwalts bejahten, ob sie wünschten, dass dieser an ihrer Stelle den GH anrief.

(73) Er bemerkt zudem, dass der Anwalt der Bf. ihm nach dem erwähnten Brief am 3.6.2016 drei Briefe mit identischem Wortlaut zukommen ließ, die von Hand geschrieben und von den Bf. unterschrieben worden waren. Mit diesen Schreiben erteilten Letztere dem Anwalt die Vollmacht, sie vor dem GH für die Prüfung ihrer am 19.4.2016 eingebrachten Beschwerden zu vertreten. Das vom Anwalt verfasste Begleitschreiben präzisierte, dass im Zentrum von Vial die Post nicht verteilt würde und dass es daher nicht möglich wäre, die vom Beschwerdeformular vorgesehene Vollmacht per Post zu schicken.

(74) Unter diesen Bedingungen befindet der GH, dass die vorliegende Beschwerde nicht aufgrund des Fehlens eines Beschwerdeführers iSd. Art. 34 EMRK zurückgewiesen werden kann und daher nicht ratione personae mit der Konvention unvereinbar ist.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK

Zur Anwendbarkeit von Art. 5 EMRK

Zur Vereinbarkeit der Beschwerde unter Art. 5 EMRK mit der Konvention ratione materiae

(83) Der GH erinnert daran, dass Art. 5 Abs. 1 EMRK [...] auf die körperliche Freiheit der Person abzielt [...]. Hingegen betrifft diese Bestimmung grundsätzlich nicht die einfachen Beschränkungen der Freizügigkeit, die Art. 2 4. Prot. EMRK unterfallen. Um zu entscheiden, ob einer Einzelperson iSd. Art. 5 EMRK ihre »Freiheit entzogen« wurde, muss von ihrer konkreten Situation ausgegangen und eine Gesamtheit von Kriterien berücksichtigt werden wie die Natur, die Dauer, die Auswirkungen und die Vollstreckungsmodalitäten der betreffenden Maßnahme. Zwischen der Entziehung und der Beschränkung der Freiheit besteht nur ein Unterschied im Hinblick auf den Grad und die Intensität, nicht im Hinblick auf die Natur oder das Wesen.

(84) Gewiss begründet die Anhaltung von Flüchtlingen in Zentren für die Aufnahme, die Identifikation und die Registrierung eine Beschränkung der Freiheit, doch kann diese Einschränkung nicht in allen Punkten mit jener gleichgesetzt werden, der die Ausländer in Anhaltezentren unterworfen sind, wenn sie die Ausweisung oder Abschiebung erwarten. Angemessene Garantien für die davon betroffenen Personen vorausgesetzt, ist eine solche Anhaltung nur akzeptabel, um es den Staaten zu erlauben, die neu angekommenen Migranten zu identifizieren, zu registrieren und ihre digitalen Fingerabdrücke zu nehmen.

(85) Im vorliegenden Fall hat der Polizeidirektor von Chios mit drei Entscheidungen vom 21.3.2016 die Anhaltung der Bf. für drei Tage angeordnet, bis zur Annahme einer Ausweisungsentscheidung auf Basis von Art. 76 des Gesetzes Nr. 3386/2005. Am 24.3.2016 hat derselbe Direktor drei Entscheidungen erlassen, welche die Ausweisung der Bf. sowie die Verlängerung ihrer Anhaltung bis zu ihrer Ausweisung und für einen Zeitraum, der sechs Monate nicht überschreiten darf, anordneten, weil Fluchtgefahr bestand. Der GH stellt daher fest, dass die Bf. zu diesem Zeitpunkt für einen Zeitraum von bis zu sechs Monaten angehalten wurden, und zwar in Anwendung von Art. 76 des vorgenannten Gesetzes betreffend die Anhaltung von Ausländern, die Gegenstand eines administrativen Ausweisungsverfahrens sind.

(86) Am 19.4.2016 traf der Verantwortliche des Zentrums drei Entscheidungen, welche die Bewegungsfreiheit der Bf. ab dem 15.4.2016 (dem Datum der Registrierung der Betroffenen durch ein Team des Zentrums) für einen Zeitraum von zwei Wochen einschränkte, der auf bis zu 25 Tagen verlängert werden konnte (Art. 11 Abs. 5 des Gesetzes Nr. 3907/2011, später ersetzt von Art. 14 des Gesetzes Nr. 4375/2016). [...] Zudem erhielten die Bf. am 21.4.2016, nachdem das Zentrum von Vial in ein halboffenes Zentrum umgewandelt worden war, die Möglichkeit, den ganzen Tag auszugehen, sie mussten lediglich für die Nacht dorthin zurückkehren. Auch wenn sich die Bf. damit vom 21.3. bis zum 21.4.2016 »in Haft« befanden, waren sie ab dem letztgenannten Datum bloß noch einer einfachen Beschränkung ihrer Bewegung unterworfen.

(87) Im Ergebnis kam die Anhaltung der Bf. im Zentrum von Vial vom 21.3. bis zum 21.4.2016 im vorliegenden Fall einer Freiheitsentziehung gleich. Er weist daher die Einrede der Regierung für die Periode vor dem 21.4.2016 zurück und akzeptiert sie für den Zeitraum vor diesem Datum. [Hinsichtlich der späteren Periode ist die Beschwerde daher unzulässig (einstimmig)].

Zur Nichterschöpfung des Instanzenzugs

(88) Die Regierung bringt vor, dass die Bf. den innerstaatlichen Instanzenzug nicht erschöpft hätten, weil sie einerseits gegen ihre Anhaltung keinen Einspruch auf Basis von Art. 76 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 3386/2005 eingelegt und andererseits keine Nichtigkeitsbeschwerde gegen die Ausweisungsentscheidung erhoben hätten [...].

(99) Im vorliegenden Fall hätten die Bf. eine auf Art. 76 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 3386/2005 gestützte Beschwerde sowohl ab dem 24.3.2016 (dem Datum der Entscheidung, mit dem die Ausweisung angeordnet und die Verlängerung ihrer Anhaltung angeordnet wurde) als auch ab dem 19.4.2016 (dem Datum, zu dem der Verantwortliche des Zentrums Vial die Beschränkung ihrer Freiheit anordnete) erheben können.

Dennoch ist der GH der Ansicht, dass die Bf. unter den Umständen des Falles keinen Zugang zu diesem Rechtsbehelf hatten [...].

(100) Zum einen handelte es sich bei den Bf. um Afghanen, die nur Farsi verstanden. Diese Entscheidungen, von denen bestimmte auf die Möglichkeit eines Rechtsbehelfs hinwiesen, waren auf Griechisch verfasst. Selbst unter der Annahme, dass die Bf. [eine] von der Regierung erwähnte Informationsbroschüre erhalten haben – ist es außerdem nicht sicher, dass sie – da sie im Zentrum von Vial von keinem Anwalt unterstützt wurden – über genügend rechtliche Kenntnisse verfügten, um den Inhalt der besagten Broschüre und insbesondere alles das zu verstehen, was auf die verschiedenen Beschwerdemöglichkeiten Bezug nahm, die ihnen im vorliegenden Fall nach dem einschlägigen innerstaatlichen Recht offenstanden. Zum Zweiten bezieht sich die Broschüre allgemein auf ein Verwaltungsgericht, ohne zu präzisieren, welches. Diesbezüglich muss festgehalten werden, dass es auf der Insel Chios, wo die Bf. angehalten wurden, kein Verwaltungsgericht gibt, sondern ein solches lediglich auf der Insel Lesbos existiert.

(102) Drittens wurden die Bf. nicht von einem Anwalt einer in dem Zentrum anwesenden NGO vertreten. Die Regierung macht keine genaueren Angaben zu den Modalitäten der Gewährung dieser Unterstützung und vor allem dazu, ob die Zahl der Anwälte und die finanziellen Mittel der NGO ausreichend waren, um die Bedürfnisse der Gesamtheit der Bevölkerung des Zentrums von Vial abzudecken, die zum Zeitpunkt der Anhaltung der Bf. aus mehr als tausend Personen bestand. Der UNHCR hat festgestellt, dass es vom 20.3. bis zum 19.4.2016 an den Eintrittspunkten auf das griechische Territorium keine kostenlose rechtliche Unterstützung für Asylwerber gab, und dass eine begrenzte rechtliche Unterstützung und eine kostenlose Vertretung von einigen NGOs geleistet wurden, dies aber unzureichend war, um alle Bedürfnisse abzudecken. Der griechische Rat für Flüchtlinge hielt Ende März die Anwesenheit von zwei Anwälten [...] [von NGOs] fest. Laut ihm würden diese vor allem die nicht begleiteten Minderjährigen unterstützen. Der begrenzte Zugang zu rechtlicher Beratung wurde auch von Human Rights Watch in einem Bericht hervorgehoben, den es nach seinem Besuch vom 7. und 8.4.2016 erstellte.

(103) Unter diesen Bedingungen kann man den Bf. nach Ansicht des Bf. nicht vorwerfen, keinen Gebrauch von den von der Regierung erwähnten Rechtsmitteln gemacht zu haben. Daher weist er die diesbezügliche Einrede der Regierung zurück.

Schlussfolgerung

(104) Da diese Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, erklärt sie der GH für zulässig (einstimmig).

In der Sache

(111) Der GH betont zunächst, dass die Anhaltung der illegalen Migranten nach dem einschlägigen innerstaatlichen Recht nur in den Fällen Anwendung findet, wo sie sich als notwendig erweist. Art. 76 des Gesetzes Nr. 3386/2005 sieht die Anhaltung eines Ausländers vor, der abgeschoben werden soll, wenn er Gefahr läuft zu flüchten, eine Drohung für die öffentliche Ordnung darstellt oder die Vorbereitung seiner Abschiebung verhindert. Art. 30 des Gesetzes Nr. 3907/2011, der Art. 15 der RL 2008/115/EG ins griechische Recht umsetzt, bestimmt, dass Drittstaatsangehörige, die einem Abschiebeverfahren unterworfen werden, mit dem Ziel der Vorbereitung der Abschiebung und der Abwicklung des diesbezüglichen Verfahrens in Haft genommen werden, wenn keine anderen, weniger restriktiven Maßnahmen angewendet werden können. Jeder Fall ist Gegenstand einer individuellen Überprüfung und die Anhaltung wird für die Zeit aufrechterhalten, die für die Erfordernisse des – mit Sorgfalt zu führenden – Abschiebeverfahrens strikt notwendig ist. Schließlich dürfen die Asylwerber ausnahmsweise und unter den gesetzlich vorgesehenen Bedingungen angehalten werden [...].

(112) Die strittige Situation unterfällt Art. 5 Abs. 1 lit. f EMRK und hat eine Grundlage im nationalen Recht. Die Anhaltung der Bf. hatte zum Ziel zu verhindern, dass sie illegal auf dem griechischen Staatsgebiet verweilten, um ihre allfällige Ausweisung zu garantieren und um sie im Rahmen der Umsetzung der EU-Türkei-Erklärung zu identifizieren und zu registrieren. Er urteilt daher, dass der gute Wille der zuständigen Behörden im vorliegenden Fall nicht in Frage gestellt werden kann.

(113) [...] Der GH bemerkt, dass die Freiheitsentziehung der Bf. auf Art. 76 des Gesetzes Nr. 3386/2005 gestützt wurde und zunächst darauf abzielte, die Möglichkeit ihrer Abschiebung zu garantieren. Die vorläufige Haft, die ursprünglich am 21.3.2016 angeordnet wurde, wurde durch die Entscheidungen vom 24.3.2016 verlängert, welche nach den gesetzlichen Bestimmungen über das verwaltungsrechtliche Ausweisungsverfahren die Ausweisung der Betroffenen und ihre Anhaltung für eine nicht über sechs Monate hinausgehende Periode anordneten. In der Folge wurden die Bf. entsprechend den Bestimmungen des Gesetzes Nr. 4375/2016 [...] im Zentrum von Vial dem Aufnahme- und Identifikationsverfahren unterworfen. Für die Erfordernisse dieses Verfahrens und in Anwendung von Art. 14 Abs. 2 dieses Gesetzes hat der Verantwortliche des Zentrums Vial mit Entscheidungen vom 19.4.2016 eine Beschränkung der Bewegungsfreiheit der Bf. ab dem 15.4.2016 für eine Periode von zwei Wochen angeordnet. Der GH betont, dass die Regierung anerkannt hat, dass diese Entscheidungen den Bf. nicht mitgeteilt wurden, da die Behörden sie im Inneren des Zentrums nicht lokalisieren konnten. Wie dem auch sei, das Zentrum wurde ab dem 21.4.2016 in ein halboffenes Zentrum umgewandelt, was es den Personen dort erlaubte, während des ganzen Tages auszugehen und erst für die Nacht zurückzukehren.

(114) Was die Dauer der Anhaltung betrifft, betont der GH daher, dass die Bf. tatsächlich für den Zeitraum von einem Monat angehalten wurden, nämlich vom 21.3. bis zum 21.4.2016. Er weist darauf hin, dass eine solche Zeitspanne grundsätzlich nicht als für die Vornahme der genannten administrativen Formalitäten übermäßig angesehen werden sollte.

(115) Im Hinblick auf den von den Bf. formulierten Asylantrag betont der GH, dass ein entsprechender Antrag nach dem innerstaatlichen Recht zwar die Vollstreckung der Abschiebemaßnahme aussetzt, nicht aber die Haft. Das innerstaatliche Recht sieht lediglich vor, dass der Asylantrag mit absoluter Priorität geprüft wird. Im vorliegenden Fall wurden die Bf. aber einen Monat und zehn Tage nach ihrem Wunsch zur Beantragung von Asyl und einen Monat nach ihrer Registrierung freigelassen.

(116) Angesichts des Vorgesagten befindet der GH, dass die Anhaltung der Bf. nicht willkürlich war und dass man nicht der Ansicht sein kann, sie wäre nicht »rechtmäßig« iSd. Art. 5 Abs. 1 lit. f EMRK gewesen.

Es erfolgte daher keine Verletzung dieser Bestimmung (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 2 EMRK

(118) Da diese Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, erklärt sie der GH für zulässig (einstimmig).

(121) Art. 5 Abs. 2 EMRK beinhaltet eine grundlegende Garantie: jede festgenommene Person muss wissen, warum ihr die Freiheit entzogen wurde. Diese Garantie verpflichtet dazu, eine solche Person in einer für sie leicht zugänglichen Sprache von den rechtlichen und tatsächlichen Gründen für ihre Freiheitsentziehung zu informieren, damit sie deren Rechtmäßigkeit gemäß Art. 5 Abs. 4 EMRK vor einem Tribunal erörtern kann. Die genannte Person muss »innerhalb möglichst kurzer Frist« in den Genuss dieser Belehrung kommen. Der Vertreter der Ordnungskräfte, der ihre Festnahme vornimmt, kann sie ihr nicht auf der Stelle in vollem Umfang gewähren. Um zu entscheiden, ob die Person ausreichend oder früh genug informiert wurde, müssen die Besonderheiten des Falles berücksichtigt werden.

(122) Im vorliegenden Fall zweifelt der GH nicht daran, dass – auch wenn die Bf. allenfalls wussten, dass sie das griechische Staatsgebiet illegal betreten hatten – ihnen nicht bekannt sein konnte, dass sie unter die »EU-Türkei-Erklärung« fielen, die am Tag vor ihrer Festnahme in Kraft getreten war und gemäß der sie nach einem Verfahren, das eine Freiheitsentziehung oder eine Beschränkung der Freiheit mit sich brachte, entsprechend Art. 14 des Gesetzes Nr. 4375/2016 einer Abschiebung in die Türkei ausgesetzt waren.

(123) Selbst unter der Annahme, dass die Bf. eine Informationsbroschüre ähnlich der von der Regierung ihrer Stellungnahme beigefügten erhalten haben, bemerkt der GH, dass diese Broschüre die Betroffenen ihrem Inhalt nach nicht ausreichend aufklärte – weder über die Gründe ihrer Festnahme noch über die Rechtsmittel, über die sie verfügten. Die genannte Broschüre weist insbesondere darauf hin, dass die Person, an die sie adressiert ist, nicht rechtmäßig in das Staatsgebiet eingereist ist und sie die Möglichkeit hat, nach Zuziehung der Polizei auf eigene Kosten einen Anwalt zu engagieren oder sich an einen Polizeibeamten zu wenden, um weiterführende Informationen zu erhalten. Weiters konnte sie demnach [...] »binnen einer Frist von 48 Stunden Einsprüche im Hinblick auf die Entscheidung zu ihrer Abschiebung formulieren«, »binnen einer Frist von fünf Tagen ab der Zustellung dieser ein Rechtsmittel gegen die Abschiebungsentscheidung beim Generalsekretär der Region einbringen« und »Einsprüche betreffend ihre Anhaltung vor dem Präsidenten des Verwaltungsgerichts formulieren«.

(124) Der GH bemerkt, dass die in der fraglichen Broschüre enthaltenen Informationen nicht in einer einfachen und für die Bf. zugänglichen Sprache gehalten sind und nicht über die rechtlichen und tatsächlichen Gründe ihrer Freiheitsentziehung Auskunft geben, so dass sie deren Rechtmäßigkeit gemäß Art. 5 Abs. 4 EMRK nicht vor einem Gericht erörtern konnten.

Er befindet daher, dass im vorliegenden Fall eine Verletzung von Art. 5 Abs. 2 EMRK erfolgte (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK

(126) Die Regierung wiederholt ihre Einreden, die sie zu Art. 5 Abs. 1 EMRK erhoben hat.

(127) Der GH verweist auf seine Schlussfolgerungen in Rn. 83 und 99 oben. Da diese Beschwerde zudem nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, erklärt sie der GH für zulässig (einstimmig).

(137) Der GH [...] erinnert an seine Rechtsprechung, wonach die Faktoren, die mit einem steigenden Migrantenzustrom verbunden sind, die Vertragsstaaten angesichts des absoluten Charakters von Art. 3 EMRK nicht von ihren Verpflichtungen nach dieser Bestimmung befreien können. Diese verlangt nämlich, dass jede Person, der die Freiheit entzogen wurde, Bedingungen genießen kann, die mit ihrer Menschenwürde vereinbar sind. Diesbezüglich kann auch eine Behandlung, die ohne Absicht zur Erniedrigung oder Herabsetzung des Opfers erfolgt, und die z.B. aus objektiven Schwierigkeiten in Verbindung mit der Verwaltung einer Migrationskrise resultiert, eine Verletzung von Art. 3 EMRK begründen.

(138) Der GH betont, dass die Ereignisse wie von der Regierung behauptet gewiss in einer Zeit stattfanden, wo Griechenland einen außergewöhnlichen und brutalen Anstieg des Migrantenzustroms erfuhr. Ohne Zweifel schuf die starke Ankunft von Migranten für die griechischen Behörden organisatorische, logistische und strukturelle Probleme. Gemäß den von der Regierung gelieferten Informationen kamen während der ersten Wochen der Umsetzung der »EU-Türkei-Erklärung« 1.740 Migranten täglich auf den griechischen Inseln im Osten der Ägäis an. Was die Insel Chios betrifft, trafen dort zwischen 20.3.2016 und 1.4.2016 1.593 Migranten ein, sowie 1.424 weitere zwischen dem 2.4.2016 und dem 16.5.2016. Diese Realität und die Überlastung der Aufnahme- und Identifikationsstrukturen der Inseln wurden von der Europäischen Kommission in ihrem Bericht vom 20.4.2016 anerkannt. Letztere empfahl eine Reihe von Maßnahmen, die es den griechischen Behörden erlauben sollten, dieser außergewöhnlichen Situation entgegenzutreten.

(139) Andererseits bemerkt der GH, dass die Dringlichkeit der Situation auf den genannten Inseln sowie die Herausforderungen, denen die Behörden gegenüberstanden, von der Regierung weder verneint noch kaschiert werden. Obwohl sie präzisierte, dass die Kapazität des Zentrums von Vial sich auf [lediglich] 1.100 Personen belief, hat die Regierung selbst die Entwicklung der Belegung desselben ab dem 21.3.2016 dargelegt.

(140) Der GH stellt zunächst fest, dass mehrere NGOs die Örtlichkeiten besuchten und in ihren Berichten bestimmte Behauptungen der Bf. über den Gesamtzustand des Zentrums von Vial bestätigten.

(141) [...] Der griechische Rat für Flüchtlinge, der das Zentrum von Vial am 30. und 31.3.2016 besuchte, hielt fest, dass das nach dem 18.3.2016 installierte Regime in Verbindung mit dem totalen Fehlen einer Vorbereitung für die Verwaltung der Ankunft der Migranten und den Weggang des norwegischen Rats für Flüchtlinge, der das Zentrum in der Praxis geführt hatte, eine chaotische Situation geschaffen hatte. Mehrere Migranten hätten auf dem Boden auf Kartons oder kleinen Teppichen geschlafen. Einige Duschen und Toiletten hätten nicht funktioniert und die Ernährung sei unzureichend gewesen.

(142) Die NGO Human Rights Watch, welche das Zentrum von Vial am 7. und 8.4.2016 besuchte, kam zu denselben Feststellungen. Die nationale Kommission für Menschenrechte stellte ihrerseits das Vorliegen von de facto-Verletzungen der Rechte der Migranten fest, da diese auf den Inseln im Osten der Ägäis umfassend und ohne Augenmaß in Haft behalten wurden und auf Hindernisse im Hinblick auf den wirksamen und raschen Zugang zum Asylverfahren treffen würden sowie ihre Aufenthalts- und sanitären Bedingungen unangemessen wären. Schließlich bemerkte der Sonderbeauftragte des Generalsekretärs des Europarats für Migration und Flüchtlinge, dass kurz nach seinem Besuch im Zentrum von Vial im März 2016 dessen Aufnahmekapazität überschritten worden wäre und die Behörden sehr rasch die Kontrolle über die Situation verloren hätten.

(143) Der GH erinnert daran, dass die Große Kammer im Urteil Khlaifia u.a./I entschieden hat, neben anderen Faktoren im Auge zu behalten, dass die unbestreitbaren Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten, welche die Bf. aushalten mussten, in bedeutendem Maß aus der extrem schwierigen Situation resultierten, der sich die italienischen Behörden zur betreffenden Zeit gegenübersahen. Auf Basis dieser Erwägungen kam sie zum Schluss, dass die im Aufnahmezentrum von Lampedusa vorherrschenden Bedingungen nicht das Maß an Schwere erreicht hätten, damit sie als unmenschlich oder erniedrigend eingestuft werden konnten.

(144) Diesbezüglich stellt der GH fest, dass das Antifolterkomitee [des Europarats], das die Hotspots der Inseln der Nordägäis 2016 zweimal besuchte, sich im Hinblick auf die Bedingungen im Zentrum von Vial – insbesondere zu dem, was die Situation der Bf. betreffen konnte – nicht besonders kritisch äußerte. Seine Kritik konzentrierte sich vor allem auf Probleme, die mit der medizinischen Betreuung verbunden waren, die im Zentrum und im Krankenhaus von Chios geleistet wurde, auf das Fehlen angemessener Informationen über die Rechte der Angehaltenen und Asylwerber und auf das Fehlen rechtlicher Unterstützung sowie die schlechte Qualität des Trinkwassers und der angebotenen Nahrung. Nun geht aber aus der Akte hervor, dass diese Probleme nicht derart waren, um die Bf. im Hinblick auf Art. 3 EMRK übermäßig zu beeinträchtigen. Im Übrigen lieferten weder das Antifolterkomitee noch die NGOs oder die Parteien Informationen über die behauptete Überbelegung des Zentrums. Sie gaben auch nicht die allgemein in den Containern oder speziell im von den Bf. belegten Container verfügbaren Quadratmeter an.

(145) Der GH bemerkt außerdem, dass die Anhaltung der Bf. in diesem Zentrum unter den gerügten Bedingungen durch ihre Kürze charakterisiert ist: auch wenn die Bf. am 21.3.2016 im Zentrum von Vial untergebracht wurden, wurde dieses am 21.4.2016 eine halboffene Struktur, was den Bf. erlaubte, das Zentrum während des ganzen Tages zu verlassen und erst für die Nacht dorthin zurückzukehren.

(146) Da die Bf. tatsächlich für einen Zeitraum von dreißig Tagen angehalten wurden, befindet der GH, dass der Grad an Schwere nicht erreicht wurde, der erforderlich ist, damit ihre Anhaltung als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung qualifiziert werden könnte.

(147) Daher befindet er, dass es im vorliegenden Fall zu keiner Verletzung von Art. 3 EMRK gekommen ist (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 34 EMRK

(148) Zusätzlich [...] rügt der ErstBf. zum ersten Mal in seiner Gegenstellungnahme [...] eine ihm gegenüber erfolgte Verletzung von Art. 34 EMRK. Er weist darauf hin, dass er am 17.10.2016 zum Polizeidepartement von Chios bestellt worden sei, wo ihm Fragen über die beim GH am 19.4.2016 erhobene Beschwerde sowie seine Kontakte zu und seine Korrespondenz mit seinem Anwalt gestellt worden seien. Er behauptet, die Ladung durch die Polizei [...] und die Befragung, der er unterworfen worden wäre, hätten einen einschüchternden Effekt auf ihn gehabt. Diese Ereignisse könnten nur als ein Versuch interpretiert werden, ihn davon abzuschrecken, seine Beschwerde weiterzuverfolgen.

(152) [...] Der GH betont, dass aus dem dem Prozessbevollmächtigten der Regierung vom Direktor der Polizei von Chios übermittelten Dokument [...] hervorgeht, dass die Ladung des ErstBf. und dessen folgende Befragung lediglich auf die Sammlung von Auskünften über das Domizil der Bf. nach dem Verlassen des Zentrums von Vial und über die Art und Weise, auf die diese sich durch einen deutschen Anwalt vertreten ließen, der nicht auf der Insel Chios anwesend war, abzielte. Dies diente zur Vorbereitung der Stellungnahme der Regierung an den GH.

(153) Nach Ansicht des GH weist nichts darauf hin, dass die betreffende Befragung darauf gerichtet war, die Bf. dazu zu drängen, ihre Beschwerde zurückzuziehen oder zu ändern oder sie auf eine andere Weise bei der wirksamen Ausübung ihres Individualbeschwerderechts zu behindern. Auch scheint sie nicht eine solche Wirkung gehabt zu haben. Die Behörden des belangten Staates haben daher die Ausübung des Individualbeschwerderechts durch die Bf. nicht behindert. Deshalb befindet der GH, dass der belangte Staat es nicht verabsäumt hat, seinen Verpflichtungen nachzukommen, die ihm unter Art. 34 EMRK auferlegt sind.

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 650,– für immateriellen Schaden an jeden der Bf.; € 1.000,– für Kosten und Auslagen an die Bf. gemeinsam (jeweils einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Amuur/F v. 25.6.1996 = EuGRZ 1996, 577 = ÖJZ 1996, 956

Chahal/GB v. 15.11.1996 (GK) = NL 1996, 168 = ÖJZ 1997, 632

Conka/B v. 5.2.2002 = NL 2002, 22

Saadi/GB v. 29.1.2008 (GK) = NL 2008, 18

M. S. S./B und GR v. 21.1.2011 (GK) = NLMR 2011, 26 = EuGRZ 2011, 243

Khlaifia u.a./I v. 15.12.2016 (GK) = NLMR 2016, 511

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 25.1.2018, Bsw. 22696/16, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2018, 17) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/18_1/J.R..pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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