EGMR Bsw46878/06

EGMRBsw46878/064.6.2013

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Teodor gg. Rumänien, Urteil vom 4.6.2013, Bsw. 46878/06.

 

Spruch:

Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 EMRK - Entlassung eines Manns wegen Feststellungen im eingestellten Strafverfahren gegen ihn.

Verbindung der Einrede der Regierung hinsichtlich der Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 2 EMRK ratione materiae auf den vorliegenden Fall mit der Entscheidung in der Sache (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 6 Abs. 2 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK (5:2 Stimmen).

Unzulässigkeit der Beschwerde im Übrigen (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 3.500,- für immateriellen Schaden, € 1.000,- für Kosten und Auslagen (5:2 Stimmen).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Am 24.4.2001 brachte die Handelsgesellschaft A., deren Generaldirektor der Bf. war, eine strafrechtliche Anzeige gegen ihn und andere leitende Angestellte der Gesellschaft ein. Sie wurden beschuldigt, falsche Rechnungsbelege verwendet zu haben, um Ausgaben im Rahmen ihrer Geschäftsreisen ins Ausland zwischen 1996 und 1998 rückerstattet zu erhalten. Die Handelsgesellschaft suspendierte den Bf. am 24.2.2003 in Erwartung des Ausgangs des Strafverfahrens.

Mit Entscheidung vom 5.5.2005 stellte die Staatsanwaltschaft beim Gericht erster Instanz von Bacau das Verfahren ein. Es stehe zwar außer Zweifel, dass der Bf. die ihm vorgeworfene Tat begangen habe und er dadurch der Verwendung gefälschter Urkunden und des Amtsmissbrauchs schuldig sei, doch seien diese Taten bereits verjährt. Die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Bacau bestätigte diese Entscheidung.

Am 18.8.2005 beendete die Handelsgesellschaft die Suspendierung des Bf., weigerte sich jedoch, ihm für den Zeitraum der Suspendierung den Lohn zu bezahlen. Sie stützte sich dabei auf die Entscheidung der Staatsanwaltschaft vom 5.5.2005, wonach der Bf. der ihm vorgeworfenen Taten schuldig war, auch wenn die Taten bereits verjährt waren. Am selben Tag wurde auch die Entlassung des Bf. ausgesprochen.

Der Bf. bekämpfte die Weigerung der Lohnzahlung für den Zeitraum der Suspendierung und die Entlassung vor dem Landgericht Bacau. Er erhob auch die Einrede, dass der Beschluss, ihn zu entlassen, verspätet erfolgt sei.

Mit Urteil vom 16.12.2005 wies das Gericht die Klage des Bf. wegen der Weigerung der Lohnzahlung ab und verwies dabei im Wesentlichen auf die Ausführungen der Staatsanwaltschaft im Beschluss zur Einstellung des Strafverfahrens bzw. gab diese teilweise sogar wörtlich wieder. Das Berufungsgericht Bacau bestätigte das Urteil des Landgerichts am 19.4.2006.

Am 19.10.2005 wies das Gericht die Verspätungseinrede des Bf. zurück. Am 2.11.2005 wurde auch die Klage des Bf. hinsichtlich der Entlassung abgewiesen. Das Gericht stellte - neuerlich unter Verweis auf die Ausführungen des Staatsanwalts im Einstellungsbeschluss - fest, dass es erwiesen sei, dass der Bf. sich schwerer Disziplinarvergehen schuldig gemacht habe. Die Verjährung bewirke nicht die Tilgung des Schuldspruchs, sondern stehe lediglich der Anwendung einer Strafe entgegen. Das Berufungsgericht Bacau wies die Berufung des Bf. am 19.4.2006 ab.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet, die nationalen Gerichte hätten sich bei der Abweisung seiner Zivilklagen auf einen Schuldspruch gestützt, den sie allein aus dem staatsanwaltlichen Beschluss zur Einstellung des gegen ihn gerichteten strafrechtlichen Verfahrens wegen Verjährung abgeleitet hätten. Er fühlt sich in seinem Recht nach Art. 6 Abs. 2 EMRK (Unschuldsvermutung) verletzt.

Der Bf. rügt weiters eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), da das Berufungsgericht Bacau im Fall eines Arbeitskollegen des Bf., der sich hinsichtlich der Verspätung der Entlassung in einer identischen Situation wie er selbst befunden habe, anders entschieden habe.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK

Die Regierung erhebt die Einrede, Art. 6 Abs. 2 EMRK sei nicht auf die zivilrechtlichen Verfahren des vorliegenden Falls anwendbar. Das diesbezügliche Vorbringen der Regierung ist eng mit dem Inhalt der Beschwerde verknüpft, so dass es angebracht ist, die Einrede mit der Entscheidung in der Sache zu verbinden (einstimmig).

Da die Beschwerde darüber hinaus nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Im vorliegenden Fall stellt sich die Frage, ob die nationalen Gerichte durch ihre Handlungsweise, die Gründe ihrer Entscheidungen oder die in ihrer Argumentation verwendete Sprache die Unschuld des Bf. in Zweifel gezogen und so die Unschuldsvermutung gemäß Art. 6 Abs. 2 EMRK verletzt haben.

Wenn auch ein einfacher Verweis auf den Inhalt eines Einstellungsbeschlusses eines Staatsanwalts für sich nicht reichen kann, um zum Schluss zu kommen, dass der Betroffene strafrechtlich für die ihm vorgeworfenen Vergehen verantwortlich war, so kann ein Wiederaufgreifen ohne Differenzierung oder Vorbehalt Zweifel auf seine Unschuld werfen, wenn sich nicht von Seiten der Zivilgerichte andere Argumente dazu gesellen.

Im vorliegenden Fall haben die Gerichte den Einstellungsbeschluss des Staatsanwalts vom 5.5.2005, was die Begehung der dem Bf. vorgeworfenen Delikte durch diesen anbelangt, ausgiebig zitiert - und das ohne zu versuchen, davon Abstand zu nehmen. Zudem bemerkt der GH, dass die Gerichte dem Bf. vorgeworfen haben, dieser habe die Rechtsmittel nach den Art. 13 und 278 StPO nicht verwendet, um »seine Unschuld feststellen zu lassen« oder »die Schuldfeststellung ihm gegenüber zu beseitigen«. Es muss jedoch festgehalten werden, dass diese Bestimmungen dem strafrechtlichen Bereich zugehören und offensichtlich die strafrechtliche Verantwortlichkeit einer Person betreffen. Die Zivilgerichte, welche über die volle Jurisdiktionsbefugnis verfügten, haben nicht von ihrer Befugnis Gebrauch gemacht, den Sachverhalt und die mögliche disziplinarische Verantwortlichkeit des Bf. in einem Wortlaut festzustellen, der ausschließlich diesem Bereich entspricht.

Zudem unterstreicht der GH, dass die Zivilgerichte im Verfahren betreffend die Entlassung des Bf. den Umstand betont haben, dass die Verjährung »nicht die Tilgung des Schuldspruchs bedeute, sondern lediglich der Anwendung einer Strafe entgegenstehe«. Eine solche Behauptung über die Schuld könnte aber nach Ansicht des GH den Leser leicht zur Annahme führen, dass der Betroffene ohne Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit jedenfalls der ihm vorgeworfenen Vergehen für schuldig befunden worden wäre.

Angesichts des Vorgesagten befindet der GH, dass die Zivilgerichte trotz ihres Verweises auf Bestimmungen des Arbeitsgesetzbuches einen Wortlaut verwendet haben, welcher den zivilrechtlichen Rahmen verließ und so Zweifel an der Unschuld des Bf. nährte.

Im Ergebnis rechtfertigt die Verwendung des Beschlusses der Staatsanwaltschaft zur Einstellung des Strafverfahrens gegen den Bf. durch die Zivilgerichte, um dessen Klagen im Bezug auf sein Arbeitsverhältnis abzuweisen, die Ausweitung des Anwendungsbereichs von Art. 6 Abs. 2 EMRK auf die beiden Zivilprozesse. Der GH sieht zudem den von den Zivilgerichten verwendeten Wortlaut und den Umstand, dass sie sich entscheidend auf den Einstellungsbeschluss im Strafverfahren stützten, als mit der Unschuldsvermutung unvereinbar an.

Der GH weist daher die Einrede der Regierung zurück (einstimmig). Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK (5:2 Stimmen; Sondervotum der Richter Sikuta und Silvis; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum des Richters Lpez Guerra).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

Der GH stellt zunächst fest, dass der Bf. ein kontradiktorisches Verfahren erhalten hat und seine Beweise vorbringen und sich verteidigen konnte. Seine Beschwerde hinsichtlich der Verspätung der Entlassung wurde vom nationalen Richter gebührend untersucht. Der GH befindet, dass die Schlussfolgerungen der Gerichte und ihre Auslegung der einschlägigen Bestimmungen nicht als offensichtlich willkürlich oder unvernünftig angesehen werden können.

Auch war die vom Bf. behauptete auseinanderlaufende gerichtliche Praxis weder stark noch andauernd. Diesbezüglich betont der GH, dass der Bf. nur ein einziges Urteil mit einem unterschiedlichen Ergebnis vorgelegt und keine weiteren Urteile angegeben hat, die dem Ansatz im fraglichen Urteil gefolgt wären und denken lassen könnten, dass dieses nicht allein dasteht.

Angesichts des Vorgesagten kann man das Verfahren im vorliegenden Fall nicht als ungerecht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK ansehen. Diese Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet und wird als unzulässig zurückgewiesen (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 3.500,- für immateriellen Schaden, € 1.000,- für Kosten und Auslagen (5:2 Stimmen; Sondervotum der Richter Sikuta und Silvis).

Vom GH zitierte Judikatur:

Puig Panella/E v. 25.4.2006

Tendam/E v. 13.7.2010 = NL 2010, 227

Sikic/HR v. 15.7.2010

Celik (Bozkurt)/TR v. 12.4.2011

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 4.6.2013, Bsw. 46878/06 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2013, 172) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/13_3/Teodor.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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