Spruch:
Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 8 EMRK - Amtsenthebung eines Richters des Obersten Gerichtshofs.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich des Grundsatzes eines unabhängigen und unparteiischen Gerichts (einstimmig).
Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich des Grundsatzes der Rechtssicherheit und des Fehlens einer Verjährungsfrist für das Verfahrens gegen den Bf. (einstimmig).
Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich des Grundsatzes der Rechtssicherheit und der Entlassung des Bf. im Rahmen der Vollversammlung des Parlaments (einstimmig).
Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich des Grundsatzes eines auf Gesetz beruhenden Gerichts (einstimmig).
Keine Notwendigkeit, die übrigen Beschwerden unter Art. 6 Abs. 1 EMRK zu untersuchen (einstimmig).
Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).
Keine Notwendigkeit, die Beschwerde auch unter Art. 13 EMRK zu untersuchen (einstimmig).
Verpflichtung der Ukraine, die Wiedereinsetzung des Bf. in das Richteramt beim Obersten Gerichtshof zum frühest möglichen Zeitpunkt sicherzustellen (einstimmig).
Feststellung, dass die Frage der gerechten Entschädigung hinsichtlich des materiellen Schadens noch nicht entscheidungsreif ist und Entscheidung, sich diese Frage daher vorzubehalten (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 6.000,- für immateriellen Schaden, € 12.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung
Sachverhalt:
Der Bf. war ab 1983 als Richter am Bezirksgericht tätig. Für die Aufnahme dieser Tätigkeit war damals noch keine Ableistung eines Eids gefordert. Am 5.6.2003 wurde er zum Richter des Obersten Gerichtshofs gewählt.
In der Folge brachten S.K. und zwei weitere Mitglieder des Parlamentsausschusses Anträge beim Hohen (auch Obersten) Justizrat (HJR) ein, Voruntersuchungen hinsichtlich eines möglichen beruflichen Fehlverhaltens des Bf. einzuleiten. Am 16.12.2008 beantragte R.K., ein Mitglied des HJR, festzustellen, ob der Bf. seines Amtes wegen Eidbruchs enthoben werden konnte, da er als Richter des Obersten Gerichtshofs mehrfach Entscheidungen des Richters B., des Bruders seiner Frau, überprüft hätte. Am 20.3.2009 brachte ein weiteres Mitglied des HJR, V.K., einen Antrag ein, den Bf. seines Amtes wegen Eidbruchs zu entheben, da dieser schwere Verletzungen von Verfahrensregeln begangen habe, als er Streitigkeiten rund um ein Unternehmen behandelte.
Dem Bf. wurden die genannten Anträge am 19.12.2008 bzw. am 3.4.2009 zugestellt. Am 22.3.2010 wurde V.K. Präsident des HJR. Der Bf. wurde am 20.5.2010 zu einer Anhörung wegen seiner Amtsenthebung am 25.5.2010 geladen. Der Bf. erbat eine Verschiebung der Anhörung, da er bis 28.5. dienstlich unterwegs sei und daher nicht an ihr teilnehmen konnte. Der HJR verschob die Anhörung in der Folge auf den 26.5., der Bf. erhielt diese Nachricht nach eigenen Angaben jedoch erst am 28.5. Dennoch beschloss der HJR am 26.5., Anträge auf Enthebung des Bf. aus seinem Amt beim Parlament einzubringen. Diese Entscheidung wurde von den sechzehn anwesenden Mitgliedern des HJR getroffen, von denen drei Richter waren. Am 31.5.2010 wurden die Anträge beim Parlament eingebracht.
Der Parlamentsausschuss untersuchte die Anträge am 16.6.2010 unter Vorsitz von S.K. im Rahmen einer Anhörung, an welcher der Bf. nicht teilnahm, und nahm eine Empfehlung an, den Bf. seines Amtes zu entheben. Am folgenden Tag wurden die Anträge des HJR und die Empfehlung vom Plenum des Parlaments behandelt. S.K. und V.K. berichteten über den Fall des Bf., der selbst anwesend war. Das Parlament beschloss die Enthebung des Bf. von seinem Amt wegen Eidbruchs, obwohl die Mehrheit der Parlamentsmitglieder abwesend war und die anwesenden Parlamentarier die Stimmkarten der Abwesenden verwendeten.
Der Bf. bekämpfte seine Amtsenthebung vor dem Verwaltungsgerichtshof insbesondere wegen deren Unrechtmäßigkeit, der fehlenden Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des HJR und des Parlamentsausschusses sowie seiner mangelnden Einbeziehung. Er verlangte die Aufhebung der Entscheidungen und Anträge des HJR und der entsprechenden Entschließung des Parlaments. Am 19.10.2010 stellte der Verwaltungsgerichtshof zwar fest, dass die Entscheidung und der Antrag des HJR im Hinblick auf die Initiative von R.K. unrechtmäßig war, da der Bf. und B. nicht als Verwandte im Sinne der damals in Geltung stehenden Gesetze anzusehen waren, sah allerdings keine Kompetenz für die Aufhebung der diesbezüglichen Akte des HJR gegeben. Die Akte des HJR hinsichtlich des Antrags von V.K. erachtete er dagegen ohnehin als rechtmäßig und begründet. Vor dem HJR und dem Parlamentsausschuss sei es zudem zu keinen verfahrensrechtlichen Verletzungen gekommen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. rügt verschiedene Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren). Er rügt weiters eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens), da seine Amtsenthebung zu einem ungerechtfertigten Eingriff in sein Privat- und Berufsleben geführt habe.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK
Zur Zulässigkeit bemerkt der GH, dass arbeitsrechtliche Streitigkeiten zwischen Beamten und dem Staat aus dem zivilrechtlichen Zweig des Art. 6 EMRK herausfallen können, wenn der Staat in seinem nationalen Recht den Zugang zu Gerichten für den betreffenden Posten oder die betreffende Kategorie von Bediensteten ausdrücklich ausgeschlossen hat.
Im vorliegenden Fall übten der HJR, der Parlamentsausschuss und das Plenum des Parlaments durch die Entscheidung des Falls und die Annahme einer bindenden Entscheidung in Kombination eine gerichtliche Funktion aus. Die verbindliche Entscheidung wurde zudem vom Verwaltungsgerichtshof überprüft, einem klassischen Gericht im Rahmen der innerstaatlichen Gerichtsbarkeit. Angesichts des Vorgesagten kann man nicht zu dem Schluss kommen, dass das nationale Recht für das Begehren des Bf. »den Zugang zu einem Gericht ausdrücklich ausgeschlossen« hat. Art. 6 EMRK findet daher unter seinem zivilrechtlichen Aspekt Anwendung.
Die gegenüber dem Bf. verhängte Sanktion stellte eine klassische Disziplinarmaßnahme für berufliches Fehlverhalten dar. Insgesamt stand die Amtsenthebung des Bf. in keinem Bezug zur Entscheidung über eine strafrechtliche Anklage iSd. Art. 6 EMRK. Dieser ist daher unter seinem strafrechtlichen Aspekt nicht anwendbar.
Da die Beschwerden unter Art. 6 Abs. 1 EMRK außerdem nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig sind, müssen sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).
Zu den Grundsätzen eines unabhängigen und unparteiischen Gerichts
Zunächst ist zu untersuchen, ob die Grundsätze eines unabhängigen und unparteiischen Gerichts bei der Entscheidung über den Fall des Bf. und der Annahme eines verbindlichen Beschlusses eingehalten wurden.
Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Entscheidungsorgane
Der HJR besteht aus zwanzig Mitgliedern, die von unterschiedlichen Körperschaften bestellt werden. Drei Mitglieder werden direkt vom Präsident der Ukraine ernannt, drei weitere Mitglieder vom ukrainischen Parlament und zwei weitere Mitglieder von der Konferenz der Staatsanwälte. Der Justizminister und der Generalstaatsanwalt sind kraft ihres Amtes Mitglied. Insgesamt bestand die große Mehrheit des HJR aus nichtrichterlichem Personal, das direkt von der Exekutive oder der Legislative bestellt wurde. Als eine Folge davon wurde der Fall des Bf. von sechzehn Mitgliedern entschieden, von denen nur drei Richter waren.
Außerdem arbeiten nur vier Mitglieder des HJR dort in Vollzeit, während die übrigen Mitglieder außerhalb beschäftigt sind. Das führt unweigerlich zur Abhängigkeit von ihren Hauptarbeitgebern und gefährdet ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Insbesondere im Fall des Justizministers und des Generalstaatsanwalts ist der Verlust des Hauptberufs gleichbedeutend mit dem Ende ihrer Tätigkeit im HJR.
Die Einbeziehung des Generalstaatsanwalts kraft seines Amtes wirft zudem weitere Bedenken auf, da sie eine abschreckende Wirkung auf Richter haben und als potentielle Bedrohung wahrgenommen werden kann. Insbesondere steht der Generalstaatsanwalt an der Spitze der Hierarchie des staatsanwaltlichen Systems und überwacht alle Staatsanwälte. Diese nehmen an vielen Fällen teil, die Richter zu entscheiden haben. Die Präsenz des Generalstaatsanwalts in einem Körper, der mit der Ernennung, disziplinarischen Bestrafung und Absetzung von Richtern befasst ist, schafft die Gefahr, dass Richter in solchen Fällen nicht unparteiisch handeln oder dass der Generalstaatsanwalt gegenüber Richtern, mit deren Entscheidungen er nicht einverstanden ist, nicht unparteiisch handelt. Dasselbe gilt für die anderen Mitglieder des HJR, die von der Konferenz der Staatsanwälte bestellt werden.
Weiters ist zu beobachten, dass die Mitglieder des HJR, die im Fall des Bf. die Voruntersuchungen durchgeführt und Anträge auf dessen Amtsenthebung eingebracht haben, nämlich R.K. und V.K., nachher auch an den Entscheidungen teilgenommen haben, den Bf. aus seinem Amt zu entfernen. V.K. wurde zudem zum Präsidenten des HJR bestellt und hatte den Vorsitz bei der Anhörung des Falls des Bf.. Die Rolle dieser Mitglieder bei der Erhebung der disziplinarrechtlichen Anklage gegen den Bf., die sich auf die Ergebnisse ihrer eigenen Voruntersuchungen stützte, bringt objektive Zweifel an ihrer Unparteilichkeit bei der Entscheidung über den Fall des Bf. in der Sache.
Es sollte auch berücksichtigt werden, dass S.K., der Vorsitzende des Parlamentsausschusses, der auch Mitglied des HJR war, sich weigerte, dem Bf. zu gestatten, den Amtseid als Mitglied des HJR abzuleisten. Auch deutete eine am 14.6.2007 veröffentlichte Stellungnahme von S.K. darauf hin, dass er mit der gerichtlichen Zwischenentscheidung im Fall betreffend die Unrechtmäßigkeit der parlamentarischen Entschließung über das vorübergehende Verfahren zur Ernennung von Präsidenten und Vize-Präsidenten lokaler Gerichte überhaupt nicht übereinstimmte. Obwohl S.K. den Bf. nicht direkt kritisierte, ist es offensichtlich, dass er die Handlungen des Bf. missbilligte, der ein Kläger in diesem Fall gewesen war.
Die Fakten des vorliegenden Falls enthüllen daher eine Zahl von ernsten Problemen, die sowohl auf strukturelle Mängel im Verfahren vor dem HJR als auch auf den Anschein persönlicher Befangenheit auf Seiten bestimmter Mitglieder des HJR, die den Fall des Bf. entschieden, hindeuten. Der GH kommt daher zum Schluss, dass das Verfahren vor dem HJR nicht mit den von Art. 6 Abs. 1 EMRK geforderten Grundsätzen von Unabhängigkeit und Unparteilichkeit vereinbar war.
Die weitere Entscheidung des Falls durch das Parlament schloss strukturelle Defekte der »Unabhängigkeit und Unparteilichkeit« nicht aus, sondern trug lediglich zur Politisierung des Verfahrens bei und verschärfte die fehlende Übereinstimmung des Verfahrens mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung.
Was das Verfahren vor dem Parlamentsausschuss betrifft, waren der Vorsitzende S.K. und eines der Mitglieder auch Mitglieder des HJR und beteiligten sich an der Entscheidung des Falls des Bf. auf beiden Ebenen. Folglich könnte es ein, dass sie nicht unparteiisch gehandelt haben, als sie die Eingaben des HJR untersuchten. Außerdem sollte auch berücksichtigt werden, dass S.K. und zwei weitere Mitglieder des Parlamentsausschusses den HJR wegen eines möglichen Fehlverhaltens des Bf. angerufen haben, um die Einleitung von Voruntersuchungen zu erreichen. Gleichzeitig konnten Mitglieder des HJR nicht zurücktreten, da kein entsprechendes Verfahren vorgesehen war. Das weist auf das Fehlen geeigneter Garantien hinsichtlich der Konformität des Verfahrens mit dem Test der objektiven Unparteilichkeit hin.
Das Verfahren vor dem Plenum des Parlaments erschöpfte sich in der Annahme einer verbindlichen Entscheidung auf Basis der Feststellungen, die zuvor vom HJR und vom Parlamentsausschuss getätigt worden waren. Die Fakten des vorliegenden Falls legen nahe, dass dieses Verfahren kein geeignetes Forum darstellte, um Sach- oder Rechtsfragen zu untersuchen, Beweise zu beurteilen und die Fakten rechtlich zu würdigen. Die Rolle der im Parlament sitzenden Politiker, die keine rechtliche und richterliche Erfahrung bei der Entscheidung komplexer Sach- und Rechtsfragen in einem individuellen Disziplinarfall haben mussten, wurde von der Regierung nicht ausreichend klar gemacht und auch nicht als mit den Erfordernissen von Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eines Gerichts nach Art. 6 EMRK vereinbar gerechtfertigt.
Heilung durch den Verwaltungsgerichtshof?
Zunächst stellt sich die Frage, ob der Verwaltungsgerichtshof die Entscheidungen des HJR und des Parlaments wirksam überprüfen konnte, da er diese zwar für unrechtmäßig erklären, sie aber nicht aufheben oder andere für notwendig erachtete geeignete Schritte setzen konnte. Die mangelnde Möglichkeit für den Verwaltungsgerichtshof, die angefochtenen Entscheidungen formell aufzuheben, und das Fehlen von Regeln für den weiteren Verlauf des Disziplinarverfahrens schaffen ein beträchtliches Maß an Unsicherheit darüber, welches die wahren rechtlichen Folgen einer solchen Erklärung sind.
Zweitens bemerkt der GH, dass wichtige Argumente des Bf. vom Verwaltungsgerichtshof nicht korrekt behandelt wurden. Insbesondere wurde die Behauptung des Bf. hinsichtlich des Fehlens der Unparteilichkeit von Mitgliedern des HJR und des Parlamentsausschusses nicht mit der notwendigen Sorgfalt untersucht.
Außerdem unternahm der Verwaltungsgerichtshof keinen echten Versuch, die Behauptung des Bf. zu untersuchen, dass die parlamentarische Entscheidung über seine Amtsenthebung mit dem Gesetz über den Status von Mitgliedern des Parlaments aus 1992 und der Geschäftsordnung des Parlaments unvereinbar war, obwohl er die Kompetenz dazu hatte und der Bf. diese Frage eindeutig aufwarf und Beweise vorlegte. Unterdessen wurde die Behauptung des Bf. hinsichtlich der Unrechtmäßigkeit des Abstimmungsverfahrens im Parlament als eine solche über die Verfassungswidrigkeit der betreffenden Resolution uminterpretiert. Damit vermied der Verwaltungsgerichtshof die Behandlung des Problems zugunsten des Verfassungsgerichtshofs, zu dem der Bf. keinen direkten Zugang hatte.
Daher war die Überprüfung des Falls des Bf. durch den Verwaltungsgerichtshof nicht ausreichend und konnte die auf den vorigen Ebenen gegebenen Mängel hinsichtlich der Fairness des Verfahrens nicht kompensieren.
Weiters beobachtet der GH, dass die Richter des Verwaltungsgerichtshofs ebenfalls der disziplinarrechtlichen Jurisdiktion des HJR unterstanden und daher gleichfalls Verfahren vor diesem unterworfen werden konnten. Angesichts der umfassenden Macht des HJR in Bezug auf die Karriere von Richtern durch Ernennung, disziplinarische Bestrafung und Amtsenthebung und dem Fehlen von Schutzvorkehrungen für die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des HJR ist der GH nicht überzeugt davon, dass die Richter des Verwaltungsgerichtshofs, die den Fall des Bf., in dem der HJR Partei war, behandelten, die von Art. 6 EMRK geforderte »Unabhängigkeit und Unparteilichkeit« aufwiesen.
Insgesamt verabsäumten es die nationalen Behörden somit, eine unabhängige und unparteiische Entscheidung des Falls des Bf. sicherzustellen. Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Mangelnde Rechtssicherheit durch Fehlen einer Verjährungsfrist für das Verfahren gegen den Bf.
Die vom HJR 2010 untersuchten Fakten gehen auf 2003 und 2006 zurück. Das versetzte den Bf. in eine schwierige Situation, da er seine Verteidigung im Hinblick auf Ereignisse organisieren musste, die teilweise in ferner Vergangenheit geschahen. Das nationale Recht scheint keine zeitlichen Schranken für Verfahren wegen Amtsenthebung eines Richters wegen »Eidbruchs« vorzusehen. Ein solcher unbefristeter Ansatz im Hinblick auf Disziplinarfälle, welche die Gerichtsbarkeit betreffen, stellt eine ernste Bedrohung des Grundsatzes der Rechtssicherheit dar. Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Mangelnde Rechtssicherheit im Rahmen der Plenarsitzung des Parlaments
Der GH stellt aufgrund des vorliegenden Beweismaterials fest, dass über die Amtsenthebung des Bf. in Abwesenheit der Mehrheit der Parlamentsmitglieder abgestimmt wurde. Die anwesenden Mitglieder gaben in voller Absicht und unrechtmäßig die Stimmen ihrer Kollegen ab. Damit wurden Bestimmungen der Verfassung, des Gesetzes über den Status von Mitgliedern des Parlaments und der Geschäftsordnung des Parlaments verletzt, die verlangen, dass die Mitglieder des Parlaments persönlich an Sitzungen und Abstimmungen teilnehmen. Die Abstimmung über die Amtsenthebung des Bf. untergrub daher den Grundsatz der Rechtssicherheit. Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Übereinstimmung mit dem Grundsatz eines »auf Gesetz beruhenden Gerichts«
Nach dem Gesetz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit konnte der Fall des Bf. nur von einer Sonderkammer des Verwaltungsgerichtshofs behandelt werden. Diese Sonderkammer musste durch Entscheidung des Präsidenten des Verwaltungsgerichtshofs eingerichtet werden. Als die persönliche Zusammensetzung der Kammer im vorliegenden Fall erfolgte, war jedoch die fünfjährige Amtszeit des Präsidenten bereits abgelaufen.
In diesem Zeitraum wurde das Verfahren zur Ernennung von Präsidenten von Gerichten nicht durch nationales Recht geregelt, da die betreffenden Bestimmungen für verfassungswidrig erklärt und neue Bestimmungen vom Parlament noch nicht beschlossen worden waren. Diese bedeutende Frage wurde daher auf die Stufe der innerstaatlichen Praxis delegiert. Das führte zu ernsten Auseinandersetzungen unter den Behörden. Es scheint, dass Richter P. die Pflichten des Präsidenten des Verwaltungsgerichtshofs auch nach der gesetzlich vorgesehenen Frist weiter wahrnahm, obwohl die legislative Grundlage diesbezüglich nicht ausreichend feststand.
Unter diesen Umständen kann der GH nicht zum Schluss kommen, dass die Kammer, die den Fall des Bf. behandelte, auf solch rechtmäßige Weise eingerichtet und zusammengesetzt war, dass sie das Erfordernis eines »auf Gesetz beruhenden Gerichts« erfüllen würde. Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Weitere Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK
Angesichts der obigen Überlegungen und Schlussfolgerungen sieht es der GH nicht als notwendig an, die übrigen Beschwerdepunkte unter Art. 6 Abs. 1 EMRK zu untersuchen (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK
Diese Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
Die Amtsenthebung des Bf. betraf einen großen Bereich seiner Beziehungen zu anderen Personen, einschließlich der beruflichen Beziehungen. Sie hatte auch Auswirkungen auf seinen »inneren Kreis«, da der Verlust der Arbeit spürbare Folgen für das materielle Wohl des Bf. und seiner Familie gehabt haben muss. Außerdem legt die Amtsenthebung des Bf. auf Grund eines Eidbruchs nahe, dass sein berufliches Ansehen beeinflusst wurde. Es lag daher ein Eingriff in das Recht des Bf. auf Achtung des Privatlebens im Sinne von Art. 8 EMRK vor.
Zur Rechtfertigung des Eingriffs verweist der GH darauf, dass er bereits festgestellt hat, dass die parlamentarische Abstimmung über die Entscheidung, den Bf. seines Amtes zu entheben, nicht rechtmäßig im Sinne des nationalen Rechts war. Diese Schlussfolgerung allein würde ausreichen, um festzustellen, dass der Eingriff in das Recht des Bf. auf Achtung seines Privatlebens nicht gesetzlich vorgesehen im Sinne von Art. 8 EMRK war. Dennoch erachtet es der GH für angemessen, die Beschwerde weiter zu untersuchen und festzustellen, ob die Anforderungen an die »Qualität des Gesetzes« erfüllt wurden.
Die Parteien waren sich über die Vorhersehbarkeit des anwendbaren Rechts uneinig. Diesbezüglich beobachtet der GH, dass bis 15.5.2010 das materielle Recht keine Beschreibung der Tat des »Eidbruchs« enthielt. Die Grundlage für die Analyse des Anwendungsbereichs dieser Tat wurde aus dem Text des richterlichen Eids abgeleitet. Dieser Text bot ein weites Ermessen bei der Auslegung des »Eidbruchs«.
Grenzen in Bezug auf die Erfordernisse der Bestimmtheit von Gesetzen sind vor allem im Bereich des Disziplinarrechts von Bedeutung. In diesem Rahmen ist es eine Frage objektiver Notwendigkeit, dass der actus reus solcher Vergehen in allgemeiner Sprache formuliert wird. Das Gesetz darf die Frage nicht umfassend behandeln und wird ständige Überprüfung und Aktualisierung in Übereinklang mit den zahlreichen neuen Umständen, die in der Praxis auftreten, erfordern. Daraus folgt, dass die Beschreibung eines Vergehens im Gesetz, die auf einer Liste spezieller Verhaltensweisen basiert, aber auf eine allgemeine und nicht berechenbare Anwendung abzielt, keine Garantie für eine ausreichend korrekte Vorhersehbarkeit des Gesetzes bietet. Es sollen daher die anderen Faktoren, welche die Qualität gesetzlicher Regelungen und die Angemessenheit des gesetzlichen Schutzes gegen Willkür beeinflussen, identifiziert und untersucht werden.
Das Vorliegen einer entsprechenden und übereinstimmenden internationalen Praxis hinsichtlich der betreffenden gesetzlichen Bestimmung ist ein Faktor, der dazu führt, dass die Bestimmung vorhersehbar war. Im vorliegenden Fall gibt es kein Anzeichen, dass zur Zeit der Entscheidung des Falls des Bf. irgendwelche Richtlinien oder eine Praxis gegeben waren, die eine übereinstimmende und restriktive Auslegung des Begriffs des »Eidbruchs« festlegten.
Der GH befindet weiters, dass die erforderlichen verfahrensrechtlichen Schutzmechanismen nicht in Kraft gesetzt wurden, um eine willkürliche Anwendung des maßgeblichen materiellen Rechts zu verhindern. Insbesondere sah das nationale Recht keine zeitliche Befristung für die Einleitung und das Führen von Verfahren gegen einen Richter wegen »Eidbruchs« vor. Das Fehlen irgendwelcher Verjährungsfristen, wie oben unter Art. 6 EMRK diskutiert, gab den Disziplinarbehörden ein unbegrenztes Ermessen und untergrub den Grundsatz der Rechtssicherheit.
Außerdem wies das nationale Recht keine geeignete Sanktionsskala für Disziplinarvergehen aus und entwickelte keine Regelungen, um ihre Anwendung im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sicherzustellen. Zur Zeit, als der Fall des Bf. entschieden wurde, gab es lediglich drei Sanktionen für disziplinäres Fehlverhalten: einen Verweis, eine Herabstufung oder eine Entlassung. Diese drei Sanktionstypen beließen wenig Raum für das disziplinarische Vorgehen gegen einen Richter auf einer verhältnismäßigen Basis. So wurden den Behörden nur beschränkte Möglichkeiten gegeben, die widerstreitenden öffentlichen und individuellen Interessen im Lichte jedes einzelnen Falls abzuwägen.
Das wichtigste Gegengewicht gegen das unvermeidbare Ermessen eines Disziplinarkörpers in diesem Bereich wäre schließlich die Verfügbarkeit einer unabhängigen und unparteiischen Überprüfung. In der Zwischenzeit hat das nationale Recht keinen geeigneten Rahmen für eine solche Überprüfung eingeführt und hat sich eine solche auch nicht als zugänglich für den Bf. erwiesen.
Folglich führten das Fehlen irgendwelcher Richtlinien oder einer Praxis, die eine übereinstimmende und restriktive Auslegung des Vergehens des »Eidbruchs« festgelegt hätten, und der Mangel an geeigneten rechtlichen Schutzvorkehrungen zur Unvorhersehbarkeit der Wirkung der betreffenden Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts. Vor diesem Hintergrund konnte wohl angenommen werden, dass beinahe jedes Fehlverhalten eines Richters zu jeder beliebigen Zeit seiner oder ihrer Karriere als eine ausreichende faktische Grundlage für eine disziplinarrechtliche Anzeige wegen »Eidbruchs« interpretiert werden konnte, wenn dies von einer Disziplinarstelle gewünscht wurde, und zu seiner oder ihrer Amtsenthebung führen konnte.
Der Eingriff in das Recht des Bf. auf Achtung seines Privatlebens war daher nicht rechtmäßig, da er nicht mit dem nationalen Recht vereinbar war und das anwendbare nationale Recht zudem nicht die Erfordernisse der Vorhersehbarkeit und Vorsorge für geeignete Schutzmaßnahmen gegen Willkür erfüllte. Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK
Der Bf. rügt weiters das Fehlen eines wirksamen Rechtsmittels im Bezug auf seine Amtsenthebung. Dieser Teil der Beschwerde ist zulässig (einstimmig), doch erachtet es der GH angesichts seiner Feststellungen nach Art. 6 EMRK nicht für nötig, die Beschwerde auch unter Art. 13 EMRK zu untersuchen (einstimmig).
Anwendung von Art. 46 EMRK
Der GH stellt zum einen fest, dass der vorliegende Fall ernste systembedingte Probleme hinsichtlich der Funktion des ukrainischen Gerichtswesens enthüllt. Insbesondere legen die im Fall festgestellten Verletzungen nahe, dass das richterliche Disziplinarsystem in der Ukraine nicht richtig organisiert wurde, da es die ausreichende Trennung der Gerichtsbarkeit von anderen Zweigen der staatlichen Gewalt nicht sicherstellt. Zudem bietet es keine geeigneten Garantien gegen Missbrauch von disziplinären Maßnahmen zum Schaden der richterlichen Unabhängigkeit als einer der wichtigsten Werte zur Unterstützung des wirksamen Funktionierens von Demokratien.
Die Natur der festgestellten Verletzungen deutet darauf hin, dass der belangte Staat für die richtige Umsetzung des vorliegenden Urteils gefordert ist, eine Zahl von allgemeinen Maßnahmen zu ergreifen, die darauf abzielen, das richterliche Disziplinarsystem zu reformieren. Diese Maßnahmen sollten eine legislative Reform hinsichtlich der Restrukturierung der institutionellen Grundlage des Systems und außerdem die Entwicklung von geeigneten Formen und Grundsätzen für die schlüssige Anwendung des nationalen Rechts in diesem Bereich umfassen. Der GH unterstreicht, dass die Ukraine diese allgemeinen Reformen in ihrem Rechtssystem dringend in Kraft setzen muss.
Was die Anzeige individueller Maßnahmen anbelangt, so konnte die Amtsenthebung des Bf., eines Richters des Obersten Gerichtshofs, in offenkundiger Missachtung der oben genannten Grundsätze der Konvention als Bedrohung für die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit als Ganzer angesehen werden. Angesichts der obigen Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Notwendigkeit zur Einführung allgemeiner Maßnahmen zur Reform des richterlichen Disziplinarsystems würde die Wiedereröffnung des nationalen Verfahrens keine geeignete Form der Abhilfe für die Verletzungen der Rechte des Bf. begründen. Es sind keine Gründe ersichtlich, warum eine erneute Verhandlung des Falls des Bf. in naher Zukunft im Einklang mit den Grundsätzen der Konvention stehen sollte. Daher sieht der GH die Anordnung einer solchen Maßnahme nicht als sinnvoll an.
Der GH kann allerdings nicht akzeptieren, dass der Bf. in einem Zustand der Ungewissheit gelassen wird, was den Weg anbelangt, auf dem seine Rechte wiederhergestellt werden sollen. Die Natur der Situation des vorliegenden Falls lässt hinsichtlich der individuellen Maßnahmen, die erforderlich sind, um Abhilfe bezüglich der Verletzungen der Rechte des Bf. zu schaffen, keine Wahl. Angesichts der überaus außergewöhnlichen Umstände des Falls und des dringenden Bedarfs, den Verletzungen der Art. 6 und 8 EMRK ein Ende zu setzen, hält der GH fest, dass der belangte Staat die Wiedereinsetzung des Bf. in den Posten des Richters beim Obersten Gerichtshof zum frühestmöglichen Zeitpunkt sicherzustellen hat (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richterin Yudkivska).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
€ 6.000,- für immateriellen Schaden, € 12.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Oberschlick/A v. 23.5.1991 = EuGRZ 1991, 216 = ÖJZ 1991, 641
Goodwin/GB v. 27.3.1996 (GK) = NL 1996, 83 = ÖJZ 1996, 795
Werner/PL v. 15.11.2001
Gorzelik u.a./PL v. 17.2.2004 (GK) = NL 2004, 26
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 9.1.2013, Bsw. 21722/11 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2013, 11) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/13_1/Volkov.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.
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