EGMR Bsw9146/07

EGMRBsw9146/0717.1.2012

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Harkins und Edwards gg. das Vereinigte Königreich, Urteil vom 17.1.2012, Bsw. 9146/07 und Bsw. 32650/07.

 

Spruch:

Art. 3 EMRK, Art. 5 EMRK - Auslieferung in Erwartung lebenslanger Freiheitsstrafe.

Verbindung der Beschwerden (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerden beider Bf. unter Art. 3 EMRK hinsichtlich der lebenslangen Freiheitsstrafe ohne Aussicht auf Begnadigung (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerden hinsichtlich der übrigen Beschwerdepunkte (einstimmig).

Feststellung, dass die Auslieferung des ErstBf. Art. 3 EMRK nicht verletzen würde (einstimmig).

Feststellung, dass die Auslieferung des ZweitBf. Art. 3 EMRK nicht verletzen würde (einstimmig).

Aufrechterhaltung der Anordnung nach Art. 39 VerfO, die Bf. bis auf Weiteres nicht an die USA auszuliefern (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Bei den beiden Bf. handelt es sich um einen britischen und einen amerikanischen Staatsangehörigen. Sie wurden 2000 bzw. 2006 in den USA wegen Mordes angeklagt. Der ErstBf. wurde beschuldigt, im Zuge eines in Florida begangenen Raubüberfalls einen Ladenbesitzer erschossen zu haben, während man dem ZweitBf. vorwarf, er habe in Maryland einen Mann im Zuge eines Streits tödlich verletzt. Beide Bf. flüchteten nach Großbritannien, wo sie 2003 bzw. 2007 von der Polizei auf Basis eines Haftbefehls festgenommen wurden.

In der Folge leiteten die britischen Behörden ein Auslieferungsverfahren gegen die Bf. ein, nachdem die amerikanische Botschaft mit diplomatischer Note versichert hatte, dass die Todesstrafe auf sie nicht Anwendung finden und ihnen im Fall einer Verurteilung höchstens lebenslange Freiheitsstrafe drohen werde. Der britische Außenminister ordnete daraufhin ihre Auslieferung an.

Der ErstBf. rief sodann den High Court mit der Begründung an, die in der diplomatischen Note zugesicherte Nichtanwendung der Todesstrafe sei nicht ausreichend, da sie durch die amerikanische Botschaft, nicht jedoch durch den Gouverneur von Florida erfolgt sei. In der Folge gab der stellvertretende Staatsanwalt des US-Bundesstaats Florida, Herr Borello, eine eidesstattliche Erklärung ab, wonach das Verhandlungsgericht gemäß langjähriger Tradition die Todesstrafe nicht diskutieren werde, solange die Staatsanwaltschaft nicht deren Verhängung beantragt habe. Sollte dies aber dennoch der Fall sein, so würde Letztere keine die Verhängung der Todesstrafe unterstützenden Beweise vorlegen. Der ErstBf. würde demnach nicht zum Tode verurteilt werden, sofern er wegen »Tötung im Zuge der Begehung eines schweren Verbrechens« (Anm: Nach dem Strafrecht des Bundesstaats Florida kann eine Person auch dann wegen Mordes verurteilt werden, wenn die Tötung nicht mit Absicht, aber im Zuge der Begehung eines schweren Verbrechens erfolgte (felony murder). Der ErstBf. hatte hartnäckig behauptet, der Schuss habe sich plötzlich gelöst, als er dem Opfer die Waffe an den Kopf hielt.) verurteilt werde.

Am 14.2.2007 wies der High Court den Antrag des ErstBf. auf Überprüfung der Auslieferungsentscheidung ab, da angesichts des klaren und bindenden Inhalts der diplomatischen Note und mit Rücksicht auf die vom Staatsanwalt gegebene eidesstattliche Erklärung kein reales Risiko einer Verhängung der Todesstrafe bestehe.

Am 20.3.2007 beschloss Verhandlungsrichter Weatherby vom Florida Circuit Court, von der Einleitung eines Verfahrens betreffend die mögliche Verhängung der Todesstrafe Abstand zu nehmen. Mittlerweile hatte sich der ErstBf. an den EGMR gewandt, der die britische Regierung am 2.4.2007 gemäß Art. 39 VerfO ersuchte, diesen bis auf Weiteres nicht an die USA auszuliefern.

Beginnend mit September 2009 wurde der britische Außenminister vom ErstBf. wiederholt ersucht, seine Auslieferungsentscheidung zu überdenken, da er befürchte, in den USA zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe ohne Möglichkeit der vorzeitigen Entlassung verurteilt zu werden. Am 9.3.2010 wies dieser seine Gesuche ab, da mit Rücksicht auf die besonderen Umstände der Tat eine Verurteilung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe ohne Aussicht auf Begnadigung sogar dann angemessen sei, wenn die »felony murder rule« Anwendung fände. Daran könnten auch sein jugendliches Alter zum Tatzeitpunkt und der Umstand nichts ändern, dass er laut einem psychiatrischen Attest an einer ernsten Persönlichkeitsstörung leide. Das dagegen erhobene Rechtsmittel an den High Court, in dem der ErstBf. eine Verletzung von Art. 3 EMRK behauptete, blieb erfolglos.

Der ZweitBf. rief ebenfalls vergeblich den High Court wegen behaupteter Verletzung von Art. 3 EMRK angesichts der möglichen Verurteilung zu Haft auf Lebenszeit an. Am 3.8.2007 ersuchte der EGMR die britische Regierung gemäß Art. 39 VerfO, von einer Auslieferung an die USA vorerst Abstand zu nehmen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügen eine Verletzung von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung), da sie Gefahr liefen, in den Vereinigten Staaten entweder zum Tode oder zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe ohne Aussicht auf Begnadigung verurteilt zu werden.

Der GH beschließt, die beiden Beschwerden gemäß Art. 42 VerfO zur gemeinsamen Entscheidung zu verbinden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK wegen des realen Risikos der Verurteilung zum Tode

Der GH hat bereits festgehalten, dass diplomatische Noten in Auslieferungsangelegenheiten ein probates Mittel für den ersuchenden Staat darstellen, dem ersuchten Staat jene Zusicherungen zu geben, die für den Fall einer Zustimmung zur Auslieferung als notwendig erachtet werden. Im vorliegenden Fall erachtet er die von der US-Regierung, der Staatsanwaltschaft und die von den Verhandlungsrichtern gegebenen Zusicherungen für klar und unmissverständlich. Somit besteht kein Risiko für die Bf., in den USA, sollte es zu einer Verurteilung im Sinne der Anklage kommen, zum Tode verurteilt zu werden. Dieser Beschwerdepunkt ist somit als offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 lit. a und Abs. 4 EMRK zurückzuweisen (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK hinsichtlich der drohenden lebenslangen Freiheitsstrafe ohne Aussicht auf Begnadigung

Zur Zulässigkeit

Die zwei Beschwerden sind weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und müssen daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Allgemeine Überlegungen

Art. 3 EMRK im extraterritorialen Kontext

Im Fall Chahal/GB hielt der GH fest, dass aus seinen im Urteil Soering/GB getroffenen Schlussfolgerungen keineswegs abzuleiten sei, dass das Risiko einer Misshandlung für den Fall der Rückführung in den Zielstaat gegen die Gründe, die für eine Ausweisung sprächen, abgewogen werden könne. Im Fall Saadi/I wies er das Argument zurück, wonach im Rahmen einer Ausweisungsentscheidung das Risiko der Misshandlung einer Person gegen die Gefahr, die sie verkörpere, abgewogen werden könne. Er hielt fest, dass sich die Konzepte des Risikos und der Gefährlichkeit nicht für einen Abwägungstest eigneten, da es sich hierbei um Begriffe handle, die nur unabhängig voneinander geprüft werden könnten.

Der GH findet, dass derselbe Ansatz bei der Beurteilung der Frage Anwendung finden sollte, ob der Mindestgrad an Schwere iSv. Art. 3 EMRK erreicht wurde. Er ist der Ansicht, dass seine Judikatur seit Soering/GB diesen Ansatz bestätigt. In Auslieferungsfällen, bei denen eine Verletzung von Art. 3 EMRK wegen des Risikos der Verurteilung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe ohne Aussicht auf Begnadigung gerügt wurde, hat er stets geprüft, ob das Risiko real war und ob es im Wege von diplomatischen Zusicherungen oder solchen der Staatsanwaltschaft des ersuchenden Staats verringert wurde. Er nahm dabei regelmäßig von einer Prüfung Abstand, ob das Mindestmaß an Schwere in Bezug auf die besonderen Umstände des Falls erreicht wurde, um in den Schutzbereich von Art. 3 EMRK zu fallen. In Fällen, in denen derartige Zusicherungen nicht gegeben oder für inadäquat erachtet worden waren, hat er ebenfalls nicht Rückgriff auf den Auslieferungskontext bei seiner Entscheidung darüber genommen, ob eine Verletzung von Art. 3 EMRK für den Fall der Übergabe der betreffenden Person vorliege. Tatsächlich hat der GH in den 25 Jahren nach Soering niemals eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit der von einem Vertragsstaat beabsichtigten Auslieferung oder anderen Form der Außerlandesschaffung vorgenommen. Insofern kann gesagt werden, dass er vom im Fall Soering verfolgten Ansatz abgewichen ist.

Bei der Auslegung von Art. 3 EMRK wird sich der GH von den Ausführungen des UN-Menschenrechtsausschusses zu Art. 7 UN-Pakt II leiten lassen. Letzterer hat klargestellt, dass diese Bestimmung eine Rückführung bei Bestehen eines realen Risikos der Folter und Fällen sonstiger Misshandlung verbiete. Bestätigung findet dieser Ansatz in Art. 19 GRC. Der Wortlaut dieser Bestimmung erhellt, dass sie ohne Berücksichtigung des Auslieferungskontexts und ohne Unterscheidung zwischen Folter und anderen Formen der Misshandlung Anwendung findet. Die vom GH und vom UN-Menschenrechtsausschuss vorgenommene Auslegung von Art. 3 EMRK bzw. von Art. 7 UN-Pakt II sowie der Wortlaut von Art. 19 GRC stehen zudem in Einklang mit Art. 3 und Art. 16 Abs. 2 UN-Folterkonvention.

Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass seine Schlussfolgerungen in Chahal/GB, die er in Saadi/I bekräftigt hat, auch auf Auslieferungen und andere Formen der Außerlandesschaffung und ohne Unterschied zwischen den unterschiedlichen Formen von Misshandlung iSv. Art. 3 EMRK Anwendung finden sollten.

Zur Freiheitsstrafe auf Lebenszeit

Im Folgenden ist zu prüfen, ob im Fall der Rückführung in einen anderen Staat ein völlig außer Verhältnis stehendes Strafurteil Art. 3 EMRK verletzen und inwiefern die Verhängung von lebenslanger Freiheitsstrafe ernste Fragen unter dieser Bestimmung aufwerfen könnte.

Der GH erkennt bezüglich der ersten Frage an, dass eine Strafe unter »seltenen und einmaligen« Umständen zu einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung bereits zum Zeitpunkt ihrer Auferlegung führen kann. Angesichts der unterschiedlichen Praktiken im Rechtssystem der Staaten, was die Länge von Freiheitsstrafen anbelangt, wird dies aber nur sehr selten der Fall sein.

Was die zweite Frage betrifft, muss in diesem Zusammenhang zwischen drei Arten von »Urteil auf Lebenszeit« unterschieden werden, nämlich a) einem mit der Aussicht auf vorzeitige Entlassung nach Verbüßung eines Mindestteils der Strafe; b) einem, bei dem keine solche Aussicht besteht und eine Freilassung aus der Haft erst nach einer beträchtlichen Zeitspanne erfolgt (discretionary life sentence) und c) einem, bei dem eine Entlassung nur auf Empfehlung eines unabhängigen Haftprüfungsausschusses möglich ist (mandatory life sentence).

Das erste Strafmaß kann also herabgesetzt werden, eine Frage unter Art. 3 EMRK stellt sich in diesem Fall nicht. Zum zweiten Strafmaß ist zu sagen, dass derartige Urteile normalerweise für schwere Verbrechen - wie Mord oder Totschlag - verhängt werden. Ein Angeklagter, der wegen eines derartigen Verbrechens verurteilt wurde, muss daher damit rechnen, dass er erhebliche Zeit im Gefängnis verbringen muss, bevor er realistischerweise auf eine Entlassung hoffen kann. Insofern kann zum Zeitpunkt der Verhängung eines discretionary life sentence, bei dem das Gericht alle Milderungs- bzw. Erschwerungsgründe berücksichtigt hat, kein Problem unter Art. 3 EMRK auftreten. Ein solches kann sich nur dann stellen, wenn gezeigt werden kann a) dass eine andauernde Inhaftierung aus legitimen strafpolitischen Gründen - wie etwa Abschreckung und Schutz der Öffentlichkeit - nicht länger gerechtfertigt ist und b) die Strafe - wie die Große Kammer in Kafkaris/CY hervorgehoben hat - sowohl de facto als auch de jure nicht herabgesetzt werden kann.

Das dritte Strafmaß erfordert hingegen eine sorgfältige Prüfung, wird doch der Angeklagte jeglicher Möglichkeit beraubt, vor dem Strafgericht mildernde Umstände vorzubringen. Mit anderen Worten wird er ungeachtet der Schwere der Schuld bzw. der Frage, ob das Strafgericht die Strafe als gerechtfertigt empfindet, dazu verurteilt, den Rest seiner Tage im Gefängnis zu verbringen.

Dies bedeutet aber nicht, dass Freiheitsstrafe auf Lebenszeit ohne Aussicht auf Begnadigung per se mit der Konvention unvereinbar ist, auch wenn der Trend in Europa zweifelsfrei in diese Richtung geht. Die Überlegungen des GH tendieren vielmehr dahin, dass - im Vergleich zu den anderen zwei Formen der lebenslangen Freiheitsstrafe - die Wahrscheinlichkeit in diesem speziellen Fall viel höher ist, dass eine derartige Strafe grob unverhältnismäßig ist, insbesondere weil das Strafgericht mildernde Umstände außer Acht zu lassen hat, die generell auf einen signifikant geringeren Grad an Schuld auf Seiten des Angeklagten - wie jugendliches Alter oder schwere Persönlichkeitsstörung - hindeuten.

Bei Nichtvorliegen von grober Unverhältnismäßigkeit treten ernste Fragen unter Art. 3 EMRK bei den letzten beiden Formen von lebenslanger Freiheitsstrafe folglich dann auf, wenn gezeigt wird, dass a) die Anhaltung des Bf. nicht länger aus legitimen strafpolitischen Gründen gerechtfertigt ist und b) die Strafe faktisch und von Rechts wegen nicht herabgesetzt werden kann.

Zum vorliegenden Fall

Zur Angelegenheit des ErstBf.

Im Fall des ErstBf. ist der GH nicht davon überzeugt, dass die Aussicht auf eine unbedingte lebenslange Freiheitsstrafe grob unverhältnismäßig wäre. Er war zwar zum Zeitpunkt der Tatbegehung erst 20 Jahre alt, aber doch kein Minderjähriger mehr. Ähnliches gilt für das vom ErstBf. vorgelegte psychiatrische Attest, demzufolge er an mentalen Problemen leide. Wie auch die Regierung darlegt, kann von einer psychischen Störung keine Rede sein. Insgesamt betrachtet liegen beim ErstBf. gewisse Milderungsgründe vor, die jedoch in seinem Fall auf keine signifikant geringere Schuld hindeuten.

Der GH akzeptiert ferner, dass eine Strafe, wie sie der ErstBf. in den USA erwartet, für ein ähnliches - in Großbritannien begangenes - Delikt kaum verhängt würde. Er will insofern nicht ausschließen, dass eine derartige Strafe ausnahmsweise grob unverhältnismäßig sein könnte - vor allem dann, wenn die Tatumstände darauf hindeuten, dass im Hinblick auf die Tötung keine wirkliche Schuld auf Seiten des Angeklagten festzustellen war.

Er teilt jedoch die Ansicht von Richter Gross vom High Court, wonach eine Tötung im Zuge eines bewaffneten Raubüberfalls ein besonders erschwerender Umstand sei. Die Strafe, die der ErstBf. wahrscheinlich erwartet, erscheint dem GH daher auch unter der Voraussetzung, dass die Staatsanwaltschaft bei ihm keinen Tötungsvorsatz nachweisen sollte, nicht grob unverhältnismäßig.

Dazu kommt, dass der ErstBf. in den USA weder strafrechtlich verurteilt wurde noch dort seine Haftstrafe angetreten hat. Er vermochte somit nicht erfolgreich darzulegen, dass nach erfolgter Auslieferung eine Inhaftierung keinem legitimen strafpolitischen Zweck dienen würde. Es ist gut möglich, dass - wie die Regierung andeutet - der Punkt, an dem die fortgesetzte Anhaltung des ErstBf. keinem legitimen Ziel mehr dient, niemals erreicht werden wird. Andererseits ist noch weniger gewiss, dass der Gouverneur von Florida und der Begnadigungsausschuss sich weigern würden, nach Ablauf einer gewissen Zeitspanne von ihrer Befugnis zur Umwandlung der Strafe Gebrauch zu machen.

Zur Angelegenheit des ZweitBf.

Der ZweitBf. hat schlimmstenfalls eine Freiheitsstrafe auf Lebenszeit nach Fall b) zu erwarten. Angesichts der Tatsache, dass eine derartige Strafe vom Gericht lediglich nach Berücksichtigung aller Milderungs- und Erschwerungsgründe und nur dann verhängt werden darf, wenn Tötungsvorsatz nachgewiesen wird, findet der GH nicht, dass sie grob unverhältnismäßig wäre. Der ZweitBf. vermochte weder zu beweisen, dass seine Inhaftierung keinem legitimen strafpolitischen Zweck dienen noch dass sich der Gouverneur von Maryland weigern würde, seine Haft zur Bewährung auszusetzen.

Ergebnis

Beide Bf. vermochten nicht darzutun, dass sie einem realen Risiko einer die Schwelle des Art. 3 EMRK erreichenden Behandlung ausgesetzt wären, sollten sie nach ihrer Auslieferung an die USA zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe ohne Aussicht auf Begnadigung verurteilt werden. Keine Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmende Sondervoten von Richter Garlicki und von Richterin Kalaydjieva).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 EMRK

Der ZweitBf. beantragte, sein Vorbringen zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK auch unter Art. 5 EMRK zu prüfen.

Der GH hat diese Frage bereits im Fall Kafkaris/CY (Nr. 2) beantwortet. Der Bf. hatte nach Ergang des Urteils der Großen Kammer eine Beschwerde unter Art. 5 Abs. 4 EMRK eingebracht, worin er mit dem Hinweis auf das Urteil des GH im Fall Stafford/GB behauptete, er habe den punitiven Teil seiner Strafe bereits verbüßt, sodass neue Fragen betreffend die Rechtmäßigkeit seiner fortgesetzten Anhaltung auftreten würden.

Der GH wies die Beschwerde als offensichtlich unbegründet mit der Begründung zurück, dass das Geschworenengericht in seinem Strafurteil deutlich gemacht hatte, dass der Bf. zu Freiheitsstrafe für den Rest seines Lebens verurteilt worden sei. Die vom Bf. aufgeworfenen »neuen Fragen« waren daher nicht geeignet, die anfänglich für die Notwendigkeit der Anhaltung sprechenden Gründe als obsolet zu erachten oder deren Rechtmäßigkeit in Frage zu stellen. Auch von einer Aufteilung des Strafurteils in einen punitiven und einen protektiven Teil konnte, wie vom Bf. behauptet, keine Rede sein. Der GH kam daher zu dem Schluss, dass die von Art. 5 Abs. 4 EMRK verlangte Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Haft in der von den maltesischen Gerichten ausgesprochenen Verurteilung bereits enthalten und folglich keine gesonderte Haftprüfung mehr erforderlich war.

Die vorliegende Rüge unterscheidet sich nicht von jener in Kafkaris/CY (Nr. 2). Das Recht des US-Bundesstaats Maryland verfolgt mit Urteilen auf Lebenszeit ohne Aussicht auf Begnadigung sowohl ein bestrafendes als auch ein abschreckendes Ziel. Eine solche Strafe unterscheidet sich daher von der lebenslangen Freiheitsstrafe, wie sie dem Fall Stafford/GB zugrunde lag.

Diese Rüge ist daher als offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK zurückzuweisen (einstimmig).

Zur Weitergeltung von Art. 39 VerfO

Die Empfehlung des GH, die britische Regierung möge die Bf. im Interesse eines ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens bis auf Weiteres nicht an die USA ausliefern, bleibt aufrecht (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Soering/GB v. 7.7.1989 = EuGRZ 1989, 314

Chahal/GB v. 15.11.1996 (GK) = NL 1996, 168 = ÖJZ 1997, 632

Nivette/F v. 14.12.2000 (ZE)

Stafford/GB v. 28.5.2002 (GK) = NL 2002, 102

Kafkaris/CY v. 12.2.2008 (GK) = NL 2008, 24

Saadi/I v. 28.2.2008 (GK) = NL 2008, 36

Ahmad u.a./GB v. 6.7.2010 (ZE)

Kafkaris/CY (Nr. 2) v. 21.6.2011 (ZE)

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 17.1.2012, Bsw. 9146/07 und Bsw. 32650/07 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 11) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/12_1/Harkins.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte