EGMR Bsw31322/07

EGMRBsw31322/0720.1.2011

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Haas gegen die Schweiz, Urteil vom 20.1.2011, Bsw. 31322/07.

 

Spruch:

Art. 2, 8 EMRK - Keine Verpflichtung der Schweiz, Suizid zu ermöglichen.

Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Der 1953 geborene Bf. leidet seit etwa 20 Jahren an einer schweren bipolaren affektiven Störung. (Anm.: Besser bekannt auch als »manisch-depressive Erkrankung«.) Während dieser Zeit beging er zwei Selbstmordversuche und wurde wiederholt stationär behandelt. Am 1.7.2004 trat er der privaten Sterbehilfeorganisation »Dignitas« bei. Da der Bf. sein Leben aufgrund der schwer behandelbaren Krankheit als nicht mehr menschenwürdig erachtete, ersuchte er »Dignitas«, für ihn eine Freitodbegleitung in die Wege zu leiten. Seiner an mehrere Psychiater gestellten Bitte, ihm hierfür das Präparat Natrium-Pentobarbital (Anm.: Es handelt sich hierbei um ein starkes Schlafmittel, das in der Veterinärmedizin zum Einschläfern von Tieren verwendet wird. Es führt ab einer gewissen Dosis (15g) einen raschen und schmerzlosen Tod durch Einschlafen und Ersticken herbei.) zu verschreiben, wurde jedoch nicht entsprochen.In der Folge wandte sich der Bf. mit dem Ersuchen an die Behörden, ihm möge erlaubt werden, die genannte Substanz rezeptfrei zu beziehen. Sowohl das Bundesamt für Gesundheit als auch die Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich wiesen sein Gesuch mit der Begründung ab, Natrium-Pentobarbital könne in Apotheken nur gegen ärztliche Verschreibung bezogen werden. Dagegen eingebrachte Rechtsmittel blieben erfolglos.

Der Bf. brachte daraufhin zwei Verwaltungsgerichtsbeschwerden beim Bundesgericht ein, das diese mit Urteil vom 3.11.2006 abwies. Begründend führte es aus, zum Selbstbestimmungsrecht iSv. Art. 8 EMRK gehöre auch das Recht, über Art und Zeitpunkt der Beendigung des eigenen Lebens zu entscheiden, soweit der Betroffene in der Lage sei, seinen entsprechenden Willen frei zu bilden und danach zu handeln. Vom Recht auf den eigenen Tod gelte es den Anspruch auf Beihilfe zum Suizid seitens des Staates oder Dritter abzugrenzen. Ein solcher lasse sich weder aus Art. 10 Abs. 2 der Bundesverfassung noch aus Art. 8 EMRK entnehmen. Ein Anspruch des Sterbewilligen, dass ihm Beihilfe bei der Selbsttötung oder aktive Sterbehilfe geleistet werde, wenn er sich außerstande sehe, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen, bestehe nicht.

Der Fall Pretty/GB sei mit dem vorliegenden nicht vergleichbar: Die Suizidfreiheit des Bf. bzw. die Straffreiheit eines allfälligen Helfers sei hier nicht in Frage gestellt. Umstritten sei vielmehr, ob der Staat darüber hinaus, gestützt auf Art. 8 EMRK, auch sicherstellen müsse, dass der Bf. schmerz- und risikolos sterben könne, und deshalb dafür zu sorgen habe, dass er entgegen den gesetzlichen Regelungen ohne ärztliche Verschreibung Natrium-Pentobarbital erhalte. Diese Frage müsse verneint werden, sei doch nicht ersichtlich, inwiefern - im Hinblick auf mögliche Alternativen - die Suizidfreiheit bzw. die Freiheit, über die eigene Lebensqualität entscheiden zu können, vorliegend dadurch beeinträchtigt werde, dass der Staat die Abgabe des Präparats nur aufgrund einer ärztlichen Verschreibung und in Kenntnis des Gesundheitszustands des Betroffenen zulasse.

Als besonders heikel erweise sich die Frage nach der Verschreibung und Abgabe von Natrium-Pentobarbital für einen begleiteten Suizid bei psychisch kranken Personen. Ob die Voraussetzungen dafür gegeben seien, lasse sich nur anhand von medizinischen Spezialkenntnissen beurteilen und erweise sich in der Praxis als schwierig. Eine solche Einschätzung setze deshalb notwendigerweise das Vorliegen eines vertieften psychiatrischen Fachgutachtens voraus, was nur sichergestellt erscheine, wenn an der ärztlichen Verschreibungspflicht von Natrium-Pentobarbital festgehalten und die Verantwortung nicht (allein) in die Hände privater Sterbehilfeorganisationen gelegt werde, deren Aktivitäten übrigens mehrmals Anlass zu Kritik gegeben hätten.

Im Mai 2007 richtete der Bf. an 170 - fast ausschließlich in der Umgebung von Basel praktizierende - Psychiiater ein Schreiben, in dem er seinen Fall schilderte und anfragte, ob sie für ihn ein psychiatrisches Gutachten mit dem letztlichen Ziel einer Verschreibung von Natrium-Pentobarbital ausstellen könnten. Keiner der angeschriebenen Mediziner antwortete darauf positiv.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. beklagt sich über die Vorgaben, die erfüllt werden müssten, um Natrium-Pentobarbital zu erhalten. Er rügt eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) wegen Verletzung seines Rechts, über den Zeitpunkt und die Art seines Todes zu entscheiden. In einer außergewöhnlichen Situation wie der seinigen hätte der Staat den Zugang zu Selbstmord ermöglichenden Medikamenten garantieren müssen.

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

Im Fall Pretty/GB erachtete der GH den Wunsch der Bf., ein in ihren Augen zutiefst unwürdiges und mühseliges Leben zu beenden, als in den Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK fallend. Im Lichte dieses Urteils stellt das Recht einer Person zu entscheiden, wann und in welcher Form ihr Leben enden sollte - vorausgesetzt, sie ist in der Lage, darüber eine freie Entscheidung zu treffen und entsprechend zu handeln - einen Aspekt ihres Rechts auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 EMRK dar.

Der vorliegende Fall unterscheidet sich allerdings vom Fall Pretty/GB. Wie das Bundesgericht korrekt hervorgehoben hat, betrifft die gegenständliche Angelegenheit nämlich nicht die Freiheit zu sterben und die eventuelle Straflosigkeit der beim Selbstmord assistierenden Person. Gegenstand der Kontroverse ist, ob Art. 8 EMRK dem Staat eine Verpflichtung auferlegt, dafür Sorge zu tragen, dass der Bf. entgegen der einschlägigen Gesetzeslage Natrium-Pentobarbital ohne ärztliche Verschreibung bekommt, um schmerz- und risikolos sterben zu können. Anders gesagt besteht der Unterschied zu Pretty/GB darin, dass der Bf. nicht nur behauptet, sein Leben wäre schwierig und schmerzerfüllt, sondern auch, dass eine Selbsttötung sich ohne Rückgriff auf Natrium-Pentobarbital als würdelos erweisen würde. Ferner kann der Bf. auch nicht als eine behinderte Person eingestuft werden, die sich im Endstadium einer unheilbaren degenerativen Krankheit befindet, die sie daran hindert, ihrem Leben selbst ein Ende zu bereiten.

Der GH wird das Begehren des Bf. aus dem Blickwinkel einer positiven Verpflichtung der Staaten prüfen, die notwendigen Vorkehrungen für einen Selbstmord in Würde zu treffen. Im Zusammenhang mit der Prüfung einer möglichen Verletzung von Art. 8 EMRK ist jedoch auch Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) miteinzubeziehen, demzufolge es Aufgabe der Behörden ist, verwundbare Personen auch vor Handlungen zu schützen, mit denen sie ihr eigenes Leben gefährden. Die Behörden sind folglich verpflichtet, die Selbsttötung eines Individuums zu verhindern, falls seine diesbezügliche Entscheidung weder frei noch in voller Kenntnis der Umstände erfolgt ist.

Die Recherchen des GH haben ergeben, dass bei den Mitgliedstaaten bezüglich des Rechts eines Individuums auf Treffen einer Wahl, wann und wie es sein Leben beenden will, kein gemeinsamer Konsens besteht. In der Schweiz ist laut Art. 115 StGB Anstiftung und Beihilfe zum Selbstmord nur strafbar, wenn sie aus selbstsüchtigen Beweggründen vorgenommen wurden. In den Benelux-Ländern wurde Beihilfe zum Selbstmord »entkriminalisiert«, dies allerdings unter präzisen gesetzlichen Vorgaben. Andere Staaten gestatten nur »passive« Hilfeleistung zur Selbsttötung. Die große Mehrheit der Konventionsstaaten scheint aber dem Schutz des Lebens einer Person mehr Gewicht als deren Recht einzuräumen, es freiwillig zu beenden. In diesem Bereich ist der staatliche Ermessensspielraum daher als erheblich einzustufen.

Betreffend die auf dem Spiel stehenden Interessen anerkennt der GH den Wunsch des Bf., seinem Leben auf sichere, würdige und schmerzfreie Weise ein Ende zu bereiten, sind doch Selbstmordversuche im steten Steigen begriffen und haben diese oft gravierende Auswirkungen auf Opfer und nächste Angehörige.

Er ist dennoch der Ansicht, dass das gesetzlich vorgeschriebene Erfordernis einer ärztlichen Verschreibung einem legitimen Ziel dient, nämlich selbsttötungswillige Personen vor übereilten Entscheidungen zu bewahren und allfälligem Missbrauch vorzubeugen, namentlich um zu verhindern, dass nicht einsichtsfähige Personen eine tödliche Dosis von Natrium-Pentobarbital bekommen. Dies muss umso mehr für ein Land wie die Schweiz gelten, in der Gesetzgebung und Praxis relativ leicht Beihilfe zum Selbstmord gestatten. Sofern ein Staat auf diesem Gebiet einen liberalen Ansatz verfolgt, müssen auch geeignete Maßnahmen zu deren Umsetzung und adäquate Vorkehrungen gegen Missbrauch bestehen.

Wie die Regierung ist auch der GH der Ansicht, dass ein eingeschränkter Zugang zu Natrium-Pentobarbital dem Schutz der Gesundheit, der öffentlichen Sicherheit und der Verhinderung von Straftaten dient. Er teilt die Auffassung des Bundesgerichts, wonach das von Art. 2 EMRK geschützte Recht auf Leben die Staaten verpflichtet, ein Kontrollverfahren vorzuschreiben, welches gewährleistet, dass die Entscheidung tatsächlich dem freien und wohlerwogenen Willen des Suizidwilligen entspricht. Das Erfordernis einer - auf Grundlage eines umfassenden psychiatrischen Gutachtens fußenden - ärztlichen Verschreibung stellt insofern ein zulässiges Mittel dar, um dem Rechnung zu tragen. Diese Lösung entspricht auch dem Geist des UN-Übereinkommens vom 21.2.1971 über psychotrope Stoffe und ähnlichen, von einzelnen Konventionsstaaten implementierten Vertragswerken des Europarats.

Im vorliegenden Fall divergieren die Ansichten der Parteien hinsichtlich des effektiven Zugangs zu einer für den Bf. positiven medizinischen Expertise (die ihm den Zugang zu Natrium-Pentobarbital verschafft hätte) erheblich. Der -GH will nicht ausschließen, dass die Psychiater sich deswegen zurückhaltend verhalten haben, weil sie sich mit einem Ersuchen auf Verschreibung einer tödlich wirkenden Substanz konfrontiert sehen. Mit Rücksicht auf die delikate Frage der Urteilsfähigkeit des Bf. ist auch die durchaus reale Gefahr einer Strafverfolgung zu berücksichtigen, falls sich ein Mediziner dazu bereit erklärt, ein Gutachten zwecks Erleichterung des Selbstmords zu verfassen.

Der GH schließt sich den Ausführungen der Regierung an, wonach die vom Bf. unternommenen Anstrengungen im Hinblick auf die Kontaktaufnahme mit einem Psychiater gewisse Fragen aufwerfen. Zum einen hat der Bf. die 170 Briefe erst nach Ergang des Urteils des Bundesgerichts weggeschickt. Sie können daher nicht von vornherein für die Bewertung des vorliegenden Falls herangezogen werden. Abgesehen davon scheinen die Schreiben ihrem Inhalt nach nicht unbedingt einen ermutigenden Einfluss auf die Psychiater gehabt zu haben, darauf positiv zu antworten. So stellte der Bf. etwa klar, grundsätzlich jegliche Therapie abzulehnen und sich einer eingehenden Prüfung, ob es nicht mögliche Alternativen gegenüber einer Selbsttötung gäbe, zu verweigen. Angesichts der vorliegenden Informationen ist der GH nicht überzeugt, dass es dem Bf. unmöglich gewesen wäre, einen Spezialisten zu finden, der ihm bei der Selbsttötung behilflich gewesen wäre. Er glaubt daher nicht, dass dessen Recht, Zeit und Art seines Todes zu wählen, theoretisch bzw. illusorisch war.

Mit Rücksicht auf das vorhin Gesagte und den staatlichen Ermessensspielraum ist - auch gesetzt den Fall, die Staaten träfe eine positive Verpflichtung, Vorkehrungen für die Erleichterung eines »Selbstmords in Würde« zu treffen - keine Verletzung von Art. 8 EMRK durch die schweizerischen Behörden festzustellen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Pretty/GB v. 29.4.2002, NL 2002, 91; EuGRZ 2002, 234; ÖJZ 2003, 311.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 20.1.2011, Bsw. 31322/07, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2011, 20) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/11_1/Haas.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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