Spruch:
Art. 8 EMRK - Positive Verpflichtung zur Feststellung der Vaterschaft.
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).
Verletzung von 8 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 5.000,- für immateriellen Schaden, € 1.500,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung
Sachverhalt:
Am 5.9.2003 brachte die Bf. eine uneheliche Tochter zur Welt. Am 11.11.2003 erhob sie beim Kirovskiy Bezirksgericht in Astrakhan Klage gegen Herrn A., mit dem sie angeblich seit 2000 in einer Beziehung lebte, um dessen Vaterschaft feststellen zu lassen und Kindesunterhalt geltend zu machen. Im Zuge dieses Verfahrens ordnete das Gericht die Durchführung eines DNA-Tests an. Die hierfür nötigen Blutproben wurden in Astrakhan abgenommen und an ein forensisches Institut in Moskau geschickt. Das am 19.3.2004 übermittelte Ergebnis belegte die Vaterschaft von A. mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,99 %.
Am 2.6.2004 fand eine Anhörung der Parteien statt, in der die Zulässigkeit des DNA-Tests vom Vertreter von A. bestritten wurde, da dieser nicht dem vorgesehenen Verfahren entsprechend durchgeführt worden sei. Das Gericht wies die Klage der Bf. daraufhin mit der Begründung ab, die Bf. habe es verabsäumt, die von ihr vorgebrachten Behauptungen zu belegen. Entgegen den Vorgaben über die Durchführung von DNA-Tests seien die DNA-Proben von A., der Bf. und ihrer Tochter abgepackt worden, ohne diese mit den zur Identifizierung nötigen persönlichen Informationen zu versehen. Deshalb könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Blutproben, welche die Experten erhalten hatten, nicht jene der Betroffenen waren. Weitere von der Bf. beigebrachte Beweise, nämlich ein Foto, das die Bf. zusammen mit A. zeigte, befand das Gericht ebenfalls für unzureichend, um die Vaterschaft von A. zu beweisen.
Die Bf. erhob Berufung gegen dieses Urteil. Das Urteil wurde jedoch am 29.6.2004 vom Berufungsgericht Astrakhan bestätigt. Wie dieses ausführte, sei nach dem Zivilprozessrecht ein Sachverständigengutachten für das Gericht nicht bindend. Zudem sei der unter Verletzung der relevanten Verfahrensregeln durchgeführte DNA-Test nicht durch weitere Beweise bekräftigt worden.
Ein Antrag der Bf. auf Überprüfung dieses Urteils durch das Höchstgericht wurde am 20.6.2005 abgewiesen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:
Der Rüge der Bf. nach haben es die nationalen Gerichte trotz des vorliegenden Ergebnisses des DNA-Tests verabsäumt, die Vaterschaft des biologischen Vaters ihrer Tochter festzustellen. Diese Beschwerde ist nach Ansicht des GH unter Art. 8 EMRK zu prüfen.
1. Zur Zulässigkeit:
Die Regierung wendet ein, die Bf. habe den innerstaatlichen Rechtsweg nicht ausgeschöpft, da sie keinen Antrag auf Überprüfung durch das Höchstgericht gestellt habe. Tatsächlich wurde ein solcher Antrag jedoch eingebracht, wenn auch erfolglos. Da der Antrag überdies kein Rechtsmittel darstellt, das gemäß Art. 35 Abs. 1 EMRK ergriffen werden muss, ist die Einrede der Regierung zurückzuweisen.
Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie ist deshalb für zulässig zu erklären (einstimmig).
2. In der Sache selbst:
a) Zur Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK:
Der Begriff „Privatleben" ist weit zu verstehen. Er umfasst unter anderem die physische und gesellschaftliche Identität einer Person und beinhaltet das Recht auf personelle Selbstbestimmung, auf persönliche Entwicklung und das Recht, Beziehungen zu anderen Personen zu entwickeln.
In seiner Rechtsprechung hatte sich der GH bereits mit Fällen zu beschäftigen, in denen ein Mann die biologische Vaterschaft bezüglich eines unehelichen Kindes bestreiten oder aber feststellen lassen wollte. In diesen Fällen betraf das rechtliche Verhältnis des Vaters zu seinem vermeintlichen Kind sein „Privatleben". In einer Zahl weiterer Fälle wurde vom GH festgestellt, dass Art. 8 EMRK auch das Recht eines unehelichen Kindes auf Feststellung des rechtlichen Verhältnisses zu seinem natürlichen Vater umfasst.
Die vorliegende Beschwerde unterscheidet sich von den genannten Fällen. Die Bf. beschwert sich als Mutter eines unehelichen Kindes nämlich über eine Verletzung ihres eigenen Rechts aus Art. 8 EMRK. Im Kern dieses Falles steht die Möglichkeit der Bf., A. als den biologischen Vater ihrer Tochter feststellen zu lassen. Nach Ansicht des GH handelt es sich bei der Feststellung der Vaterschaft um eine Angelegenheit, die mit dem Privatleben der Bf., die die volle Verantwortung für ihr minderjähriges Kind trägt, in Zusammenhang steht. Abgesehen von den finanziellen und emotionalen Aspekten kann die Anerkennung des natürlichen Vaters auch für das gesellschaftliche Ansehen der Bf., für ihre familiäre medizinische Geschichte und für das Gefüge an Rechten und Pflichten zwischen den biologischen Eltern und dem Kind von Bedeutung sein.
Da der vorliegende Fall somit das Recht der Bf. auf Achtung ihres Privatlebens betrifft, ist Art. 8 EMRK anwendbar.
b) Zur Befolgung von Art. 8 EMRK:
Ein Staat hat die Rechte des Einzelnen gegen willkürliche Eingriffe der Behörden zu schützen. Zusätzlich können ihn aber auch positive Verpflichtungen treffen, um eine effektive Wahrung der Rechte aus Art. 8 EMRK zu garantieren. Dies kann sogar das Ergreifen von Maßnahmen erfordern, die geeignet sind, die Achtung des Privat- und Familienlebens im Bereich der Beziehungen einzelner Personen zueinander zu gewährleisten. Die positiven und negativen Verpflichtungen nach Art. 8 EMRK können nicht eindeutig voneinander abgegrenzt werden, auf beide Fälle sind aber ähnliche Grundsätze anzuwenden. Insbesondere gilt es, einen gerechten Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen zu schaffen.
Im vorliegenden Fall war es Aufgabe der Behörden, die Interessen der Mutter eines unehelichen Kindes gegen jene des vermeintlichen Vaters abzuwägen. Der GH hat nun zu prüfen, ob ihr Vorgehen den Anforderungen und dem Geist von Art. 8 EMRK entsprochen hat.
Nach russischem Familienrecht sollte eine Entscheidung zur Feststellung einer Vaterschaft auf eine verständliche und objektive Analyse aller Beweismittel gestützt werden, die die tatsächliche Herkunft eines Kindes belegen können. Keines der Beweismittel hat dabei überwiegende Bedeutung für die Gerichte.
Der GH ist sich der Feststellung der nationalen Gerichte bewusst, die Bf. habe keine ausreichenden Beweise für ihre Partnerschaft mit A. und für dessen Vaterschaft vorgebracht. Das Bezirksgericht hatte jedoch einen DNA-Test angeordnet, der mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,99 % belegte, dass A. der Vater ist. Ein solcher Test stellt heutzutage die einzige wissenschaftliche Methode dar, um eine Vaterschaft exakt festzustellen. Seine Beweiskraft überwiegt deshalb auch alle anderen, von den Parteien beigebrachten Beweismittel. Da die Bf. zudem vorbrachte, sie und A. hätten ihre Beziehung geheim gehalten, hätte allein der DNA-Test einen überzeugenden Beweis für die Vaterschaft bilden können. Die Gerichte hatten den DNA-Test jedoch wegen der unzureichenden Markierung der Blutproben für unzulässig erklärt und die Klage der Bf. abgewiesen, ohne einen neuerlichen Test anzuordnen.
Art. 8 EMRK entsprechend sollten in einem Verfahren zur Feststellung einer Vaterschaft die Interessen des betroffenen Kindes besonders berücksichtigt werden, was vorliegend eine eindeutige Antwort auf die Frage verlangt, ob A. tatsächlich der Vater des Mädchens ist. Wie es scheint, konnte dies ohne DNA-Test jedoch nicht geklärt werden und da die Gerichte den ersten für unzulässig erklärt hatten, war ein zweiter Test erforderlich. Die Bf. hatte zwar keinen zweiten Test beantragt, doch folgt aus dem Wortlaut der russischen Zivilprozessordnung, dass es im Ermessen des Gerichts liegt, eine zweite Untersuchung anzuordnen, wenn das Ergebnis der ersten angezweifelt wird. Im vorliegenden Fall hat dies besondere Bedeutung, da die Verletzung des Blutabnahmeverfahrens - so sie denn tatsächlich stattgefunden hat - dem Büro für forensisch-medizinische Untersuchungen und damit einer staatlichen Einrichtung zuzurechnen ist.
Indem die Gerichte den ersten DNA-Test einfach für unzulässig erklärt und keinen weiteren Test angeordnet haben, haben sie die Bestimmungen der Zivilprozessordnung nicht den Prinzipien des Art. 8 EMRK entsprechend angewendet. Die nationalen Behörden verabsäumten es damit, der positiven Verpflichtung des Staates nachzukommen, einen gerechten Ausgleich zwischen den Parteien des Verfahrens unter Berücksichtigung des Kindeswohls zu erzielen. Es liegt deshalb eine Verletzung von Art. 8 EMRK vor (einstimmig).
Entschädigung nach 41 EMRK:
€ 5.000,- für immateriellen Schaden, € 1.500,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Rasmussen/DK v. 28.11.1984, A/87; EuGRZ 1985, 511.
Yildirim/A v. 19.10.1999 (ZE).
Mikulic/HR v. 7.2.2002.
Shofman/RUS v. 24.11.2005.
Rzanski/PL v. 18.5.2006.
Jäggi/CH v. 13.7.2006; NL 2006, 196.
Dickson/GB v. 4.12.2007 (GK); NL 2007, 313.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 7.5.2009, Bsw. 3451/05, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 133) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/09_3/Kalacheva.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.
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