EGMR Bsw59519/00

EGMRBsw59519/0022.3.2007

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Staroszczyk gegen Polen, Urteil vom 22.3.2007, Bsw. 59519/00.

 

Spruch:

Art. 6 Abs. 1 EMRK - Konventionswidrigkeit des polnischen Verfahrenshilfesystems.

Verletzung von Art. 6 EMRK (4:3 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 4.000,- für immateriellen Schaden, € 3.500,- für Kosten und Auslagen (4:3 Stimmen).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Die Bf. besitzen ein Stück Land in Pruszkw in der Nähe von Warschau. 1982 wurden sie von den lokalen Behörden informiert, dass die Enteignung ihres Grundstücks zum Zwecke der Errichtung von Wohnhäusern vorgesehen sei. Die Bf. bzw. ihr Sohn wandten sich darauf an die Behörden und ersuchten um Zuteilung eines anderen Grundstücks. Im Mai 1986 teilte die Stadtverwaltung den Bf. mit, dass ihrem Begehren nicht entsprochen werden könne. Am 22.4.1987 wurde ihr Sohn über die positive Beurteilung seines Anliegens in Kenntnis gesetzt. Zu einer Enteignung kam es indes nicht, da die Bf. in den Verkauf ihres Landes einwilligten.

In der Folge fragten sie wiederholt vergeblich um die Zuweisung von Bauland an. 1990 erhielt ihr Sohn vom Stadtrat eine Benachrichtigung, wonach die Verteilung von Gemeindeparzellen auf illegalem Wege erfolgt sei und rückgängig gemacht werden müsse.

Die Bf. erhoben daraufhin Klage beim BG Pruszkw und stellten den Antrag, den Stadtrat anzuweisen, ihrem Sohn das versprochene Land zu übertragen. Am 3.6.1996 wurde ihrer Klage stattgegeben, da sie beim Verkauf ihres Landes von der berechtigten Annahme der gleichzeitigen Zuteilung eines Grundstücks an ihren Sohn ausgegangen wären. In der Folge wurde das Urteil vom LG Warschau wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung aufgehoben und an das BG Pruszkw zur neuerlichen Behandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Am 26.2.1998 wies Letzteres die Klage der Bf. mit der Begründung ab, die Übertragung ihres Grundstücks an den Staat sei angesichts der geplanten Enteignung ohnehin unvermeidlich gewesen. Sie könnten sich daher nicht in rechtlich bindender Weise auf das ihrem Sohn gegebene Versprechen berufen.

Die Bf. erhoben dagegen ein Rechtsmittel und beantragten erfolgreich die Gewährung von Verfahrenshilfe. Am 25.5.1999 wies das LG Warschau ihr Rechtsmittel ab und wies sie bzw. ihren Verfahrenshilfeanwalt K. B. darauf hin, dass dagegen Beschwerde an den Obersten Gerichtshof erhoben werden könne.

Am 23.9.1999 wurde den Bf. das Urteil zugestellt. In der Folge schickten sie K. B. einen eingeschriebenen Brief mit der Bitte um Kontaktaufnahme, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten. Sie beklagten sich daraufhin bei der Rechtsanwaltskammer über das Verhalten von K. B. Am 5.1.2000 schickten sie diesem neuerlich einen eingeschriebenen Brief und ersuchten ihn dringend um Nachricht, da sie ihn nicht erreichen könnten.

Am 21.1.2000 wurde K. B. das Urteil des LG Warschau zugestellt. Die Bf. trafen sich sechs Tage später mit ihm in seiner Kanzlei, wo er sie darüber informierte, dass er keinen Grund zur Einlegung einer Beschwerde an den Obersten Gerichtshof sehe. Mit Schreiben vom 15.2.2000 wandten sich die Bf. erneut an die Rechtsanwaltskammer. Am 1.3.2000 teilte ihnen diese mit, dass K. B. zu den Vorwürfen Stellung genommen und erklärt habe, er hätte keinen Grund zur Einlegung eines Rechtsmittels an das Höchstgericht gesehen. In einem solchen Fall wäre es Praxis der Rechtsanwaltskammer, keinen neuen Verfahrenshilfeanwalt zum Zwecke der Einbringung einer höchstgerichtlichen Beschwerde zu bestellen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung ihres Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK, da ihnen ein effektiver Zugang zu den Gerichten verwehrt worden sei.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK:

1. Zu den Einwänden der Regierung:

a) Unvereinbarkeit ratione personae:

Die Regierung wendet ein, der Staat könne für auftretende Unstimmigkeiten zwischen den Bf. und ihrem Anwalt nicht verantwortlich gemacht werden. Anwälte würden einem unabhängigen Berufsstand mit eigenen Verhaltensregeln und Disziplinarvorschriften angehören. Den Behörden käme keinerlei direkte Kontrollmöglichkeit hinsichtlich der Ausübung rechtsanwaltlicher Pflichten zu. Sie könnten daher einen Verfahrenshilfeanwalt nicht zur Einbringung eines höchstgerichtlichen Rechtsmittels verhalten.

b) Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs:

Die Regierung bringt vor, es wäre dem Bf. offen gestanden, bei der Rechtsanwaltskammer um Zuteilung eines anderen Prozessvertreters zu ersuchen. Für den Fall, dass es diesem nicht möglich gewesen wäre, rechtzeitig ein Rechtsmittel beim Höchstgericht innerhalb der dafür vorgesehenen Frist einzubringen, hätte er rückwirkend um Entbindung von diesem Formerfordernis ansuchen können.

Ferner wäre es den Bf. frei gestanden, für das Verfahren vor dem Höchstgericht einen Rechtsanwalt ihrer Wahl zu benennen. Für den Fall des Obsiegens hätten sie ihren Verfahrenshilfeanwalt aufgrund seiner Weigerung, ein Rechtsmittel beim Obersten Gerichtshof einzubringen, belangen können.

c) Schlussfolgerungen des GH:

Der GH stellt fest, dass zwischen den Einwänden der Regierung und dem Vorbringen der Bf. ein enger Zusammenhang besteht. Er hat daher anlässlich der Zulässigkeitsprüfung beschlossen, diese Punkte im Rahmen der meritorischen Prüfung der Beschwerde zu behandeln. Er bestätigt hiermit seinen Ansatz.

2. In der Sache selbst:

Die Bf. bringen vor, angesichts des Fehlens von Regelungen im polnischen Recht betreffend Situationen, in denen sich ein Verfahrenshilfeanwalt weigert, eine Beschwerde an den Obersten Gerichtshof zu verfassen, seien sie jeglicher Möglichkeit beraubt worden, ihre Sache in effektiver Art und Weise zu vertreten. Im vorliegenden Fall versuchten die Bf. vergeblich, ihren Verfahrenshilfeanwalt zu kontaktieren. Am 21.1.2000 gelang es endlich, ihm das Urteil zuzustellen. Nach den einschlägigen Bestimmungen des nationalen Rechts begann ab diesem Zeitpunkt die 30-tägige Frist für die Einbringung einer höchstgerichtlichen Beschwerde zu laufen. Sechs Tage später teilte K. B. den Bf. mit, dass er keinen Grund zur Einbringung einer Beschwerde beim Obersten Gerichtshof sehe. Mit Rücksicht auf den offenkundigen und eklatanten Mangel an Sorgfalt, den dieser bezüglich einer Kontaktaufnahme mit seinen Klienten an den Tag gelegt hatte, ist der GH nicht überzeugt, dass der Verbleib von 24 Tagen, um einen anderen Rechtsvertreter zu finden, ausreichend war, um das Interesse der Bf. an einer effektiven Vertretung ihres Anliegens zu wahren.

Es kann nicht Aufgabe des Staates sein, einen Rechtsanwalt, mag er im Wege der Verfahrenshilfe bestellt worden sein oder nicht, zur Ergreifung eines Rechtsmittels, dessen Erfolgsaussichten er negativ beurteilt, zu verpflichten. Ein derartiges Verständnis wäre mit der essentiellen Rolle von unabhängigen Anwälten in einer demokratischen Gesellschaft unvereinbar. Es ist Aufgabe des Staates, das erforderliche Gleichgewicht zwischen einem effektiven Zugang zur Justiz auf der einen Seite und der Unabhängigkeit des Rechtsanwaltsstandes auf der anderen Seite zu garantieren. In diesem Zusammenhang ist auf eine Resolution des Obersten Gerichtshofs aus dem Jahr 2000 zu verweisen, in der dieser eine an ihn gerichtete Rechtsfrage, nämlich ob ein Verfahrenshilfeanwalt berechtigt sei, die Einbringung einer Kassationsbeschwerde abzulehnen, positiv beantwortete. Er begründete dies mit der Aufgabe des Verfahrenshilfeanwalts, der von ihm betreuten Partei umfassenden rechtlichen Rat zu gewähren, was auch die Darlegung der Erfolgsaussichten bezüglich der Anrufung eines Höchstgerichts umfasse. Es sei daher zulässig, wenn er sich weigere, ein Rechtsmittel an den Obersten Gerichtshof vorzubereiten oder bei diesem einzubringen.

Der GH schließt sich diesem Standpunkt an. Zweifellos sollte aber die Weigerung eines Verfahrenshilfeanwalts, ein Rechtsmittel bei einem Höchstgericht einzubringen, bestimmten Anforderungen entsprechen. Sie darf nicht derart formuliert sein, dass der Klient über die Gründe dafür im Ungewissen bleibt.

Nach geltendem polnischen Recht ist ein Verfahrenshilfeanwalt nicht zur Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme über die Erfolgsaussichten einer höchstgerichtlichen Beschwerde verpflichtet. Es existieren auch keinerlei rechtliche Vorgaben hinsichtlich der Darlegung von Gründen, die er zur Rechtfertigung seiner Weigerung, den Obersten Gerichtshof anzurufen, vorzubringen hat. Im vorliegenden Fall führte dies dazu, dass die Bf. von K. B. lediglich mündlich über seine Absicht, in ihrem Fall keine höchstgerichtliche Beschwerde einzubringen, informiert wurden. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der polnische Verfassungsgerichtshof in einem Urteil vom 31.3.2005 festgehalten hat, dass die rechtlichen Bestimmungen hinsichtlich der Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Kassationsbeschwerde zu ernsten Auslegungsproblemen und Diskrepanzen in der Rechtsprechung der Gerichte geführt hätten.

Wäre eine schriftliche Ausführung der Weigerung der Einbringung einer Kassationsbeschwerde unter Angabe der dafür maßgeblichen Gründe gesetzlich vorgeschrieben gewesen, so hätte dies eine objektive ex post-Bewertung der Frage ermöglicht, ob eine solche Weigerung nach den Umständen des Einzelfalls willkürlich war. Im Lichte des Erkenntnisses des polnischen Verfassungsgerichtshofs, der die Schwierigkeiten einer solchen Bewertung aufgezeigt hat, wäre eine derartige Vorgangsweise besonders zu begrüßen gewesen. Die Bf. verfügten somit nicht über die notwendigen Informationen hinsichtlich ihrer rechtlichen Situation, insbesondere was die Erfolgschancen einer Beschwerde an den Obersten Gerichtshof anlangte. Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass den Bf. ein effektiver und konkreter Zugang zu den Gerichten, was ihre rechtliche Vertretung nach dem polnischen Verfahrenshilfesystem anlangt, verwehrt wurde. Die Einwendungen der polnischen Regierung sind zurückzuweisen (einstimmig) und es ist eine Verletzung von Art. 6 EMRK festzustellen (4:3 Stimmen; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richterin Vajic; Sondervotum von Richter Loucaides, gefolgt von Richter Rozakis und Richterin Steiner).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 4.000,- für immateriellen Schaden, € 3.500,- für Kosten und Auslagen (4:3 Stimmen; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richterin Vajic; Sondervotum von Richter Loucaides, gefolgt von Richter Rozakis und Richterin Steiner).

Vom GH zitierte Judikatur:

Artico/I v. 13.5.1980, A/37, EuGRZ 1980, 662.

Goddi/I v. 9.4.1984, A/76, EuGRZ 1985, 234.

Imbrioscia/CH v. 24.11.1993, A/275, ÖJZ 1994, 517.

Daud/P v. 21.4.1998, ÖJZ 1999, 198.

Gnahor/F v. 19.9.2000.

Del Sol/F v. 26.2.2002.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 22.3.2007, Bsw. 59519/00, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2007, 88) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/07_2/Staroszczyk.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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