Spruch:
Art. 6 Abs. 1 EMRK - Nichtmitteilung der Stellungnahme des Berichterstatters an den Bf. verstößt gegen Grundsatz der Waffengleichheit.
Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (6:1 Stimmen).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Was den Zuspruch von immateriellem Schaden anlangt, stellt das Urteil selbst eine ausreichend gerechte Entschädigung dar (6:1 Stimmen).
Text
Begründung
Sachverhalt:
Gegen den Bf. war ein Strafverfahren wegen Verdachts des mehrfachen Betruges anhängig. Am 20.12.2001 sprach ihn das Gericht zweiter Instanz von sieben Anklagepunkten frei, verurteilte ihn jedoch wegen versuchten Betruges zu einer bedingten Haftstrafe. Mit Urteil vom selben Tag wurde über ihn auch eine bedingte Freiheitsstrafe sowie eine Geldstrafe wegen Steuerhinterziehung verhängt. Gegen beide Urteile legte der Bf. jeweils ein Rechtsmittel beim Höchstgericht (Cour de cassation) ein. In der Folge wurde die Stellungnahme des Berichterstatters der zuständigen Strafkammer zwar dem Generalanwalt (avocat gnral), nicht jedoch dem Bf. übermittelt. Über den Ablauf der Ereignisse bei der öffentlichen Verhandlung am 27.11.2002 liegen unterschiedliche Versionen vor. Der Bf. bringt vor, dass ihm der Zutritt zum Verhandlungssaal von zwei Mitarbeitern der Geschäftsstelle und einem Aufsichtsorgan verwehrt worden sei. Die Regierung bekräftigt hingegen, dass an besagtem Tag über keinerlei Vorkommnisse berichtet worden sei und dass der Darstellung des Bf. kein Glauben geschenkt werden könne. Das Verfahren endete mit der Abweisung beider Rechtsmittel durch das Höchstgericht. Der Bf. wandte sich darauf mit einem Antrag auf Entschädigung für durch die Untersuchungshaft erlittene Nachteile an das Gericht zweiter Instanz, der jedoch wegen Fehlens der gesetzlichen Voraussetzungen abgelehnt wurde. Die Entscheidung wurde vom „Ausschuss für Haftentschädigungsfragen" bestätigt.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. erachtet sich in seinem Recht auf Zugang zu einem Gericht gemäß Art. 6 (1) EMRK verletzt, da ihm durch die abweisenden Entscheidungen des Höchstgerichts jegliche Möglichkeit auf Zuspruch einer Haftentschädigung genommen worden sei. Er beanstandet außerdem die fehlende Öffentlichkeit des Verfahrens entgegen Art. 6 (1) EMRK aufgrund der Verwehrung des Zutritts zum Verhandlungssaal. Schließlich rügt der Bf. die Verletzung seiner kontradiktorischen Rechte im Verfahren vor dem Höchstgericht, weil die Stellungnahme des Berichterstatters zwar dem Generalanwalt, nicht jedoch ihm zugekommen sei.
Zur behaupteten Verletzung des Rechts auf Zugang zu einem Gericht:
Der Bf. hatte ungeachtet der ablehnenden Entscheidung des Höchstgerichts die Möglichkeit, sich an das Gericht zweiter Instanz und an den „Ausschuss für Haftentschädigungsfragen" zu wenden, um eine Haftentschädigung zu erlangen. Er hat von diesen Möglichkeiten auch Gebrauch gemacht. Der GH vermag im vorliegenden Fall weder eine willkürliche Vorgangsweise der Gerichte zu erkennen, noch kommen ihm Zweifel an der korrekten Würdigung des Sachverhalts. Dieser Beschwerdepunkt ist daher wegen offensichtlicher Unbegründetheit gemäß Art. 35 (3) und (4) EMRK als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).
Zur fehlenden Öffentlichkeit des Verfahrens vor dem Höchstgericht:
Der Bf. hat zum Beweis für seine Behauptungen zwei Zugbillets und eine am Verhandlungstag ausgestellte Bestätigung des Höchstgerichts vorgelegt. Zwar mag es für einen Bf. schwierig sein zu beweisen, dass ihm der Zugang zum Verhandlungssaal mit physischen Mitteln verwehrt wurde. Aus den vorliegenden Akten lässt sich jedoch eine derartige Schlussfolgerung nicht belegen. Auch dieser Beschwerdepunkt ist wegen offensichtlicher Unbegründetheit gemäß Art. 35 (3) und (4) EMRK als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).
Zur Nichtmitteilung der Stellungnahme des Berichterstatters:
Der vorliegende Beschwerdepunkt wirft komplexe Sach- und Rechtsfragen auf, die eine meritorische Prüfung erfordern. Er ist somit gemäß Art. 35 (3) EMRK für zulässig zu erklären (einstimmig).
Die Reg. bringt vor, der Cour de cassation habe in Umsetzung der Urteile Reinhardt & Slimane Kaid/F und Slimane Kaid/F inzwischen Vorsorge zur Bewahrung des kontradiktorischen Charakters des höchstgerichtlichen Verfahrens und der Waffengleichheit zwischen den Parteien getroffen. Die Stellungnahme des Berichterstatters umfasst nunmehr zwei Teile: Der erste, welcher den Parteien und der Staatsanwaltschaft gleichzeitig übermittelt wird, besteht aus einer Sachverhaltsdarstellung, einem Bericht über die Begründetheit des Rechtsmittels und einer rechtlichen Analyse, während der zweite - der weder den Parteien noch dem Generalanwalt zugestellt wird - die persönliche Meinung des Berichterstatters sowie einen Urteilsentwurf enthält.
Der GH hält fest, dass die neue Praxis in der Tat das von ihm im erstgenannten Urteil festgestellte Ungleichgewicht (Anm.: Der GH sah ein solches als gegeben an, weil Bericht und Urteilsentwurf des Berichterstatters lediglich dem Generalanwalt - nicht jedoch den Bf. - übermittelt und sie auch nicht über dessen schriftliche Stellungnahme an den Cour de Cassation unterrichtet wurden. Er erblickte darin eine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (Recht auf ein faires Verfahren).) zwischen den Parteien beseitigt hat. Er sieht daher keinerlei Grund, in der vorliegenden Vorgangsweise eine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK zu erblicken. Im Übrigen bleiben die persönliche Meinung des Berichterstatters sowie der von ihm verfasste Urteilsentwurf gegenüber den Parteien in jedem Fall vertraulich. Die neue Praxis ist daher mit der Rspr. des GH grundsätzlich vereinbar, da sie zum einen der Vertraulichkeit der persönlichen Meinung des Berichterstatters und zum anderen dem Prinzip der Geheimhaltung von Beratungen Rechnung trägt.
Der Bf. behauptet, entgegen der neuen Praxis sei die rechtliche Analyse im ersten Teil des Berichts zwar dem Generalanwalt, nicht jedoch ihm selbst übermittelt worden. Die Reg. hat diesem Vorbringen zwar nicht widersprochen, jedoch vorgebracht, eine Verletzung der Waffengleichheit liege ohnehin nicht vor. Es bleibt jedoch eine Tatsache, dass dem Bf. aus offenbar unbekannten Gründen die Stellungnahme des Berichterstatters nicht zugestellt wurde, dem Generalanwalt aber schon. Ein solches, den Bf. benachteiligendes Ungleichgewicht ist mit den Grundsätzen eines fairen Verfahrens nicht vereinbar. Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (6:1 Stimmen; Sondervotum von Richterin Thomassen).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
Was den Zuspruch von immateriellem Schaden anlangt, stellt das Urteil
selbst eine ausreichend gerechte Entschädigung dar (6:1 Stimmen;
Sondervotum von Richterin Thomassen).
Vom GH zitierte Judikatur:
Reinhardt & Slimane Kaid/F v. 31.3.1998 (= ÖJZ 1999, 151).
Slimane Kaid/F v. 25.1.2000.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 2.11.2004, Bsw. 69225/01, entstammt der Zeitschrift „ÖIM-Newsletter" (NL 2004, 272) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/04_6/Fabre.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.
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