EGMR Bsw49418/99

EGMRBsw49418/9920.7.2004

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Hrico gegen die Slowakei, Urteil vom 20.7.2004, Bsw. 49418/99.

 

Spruch:

Art. 10 EMRK - Kritik an einem politisch aktiven Richter. Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: EUR 1.250,- für materiellen Schaden, EUR 1.000,- für immateriellen Schaden, EUR 780,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

1994 und 1995 erschienen in dem Magazin Domino Effekt, dessen Herausgeber und Chefredakteur der Bf. war, drei Artikel über ein Zivilverfahren zwischen dem Minister und späteren Abgeordneten zum Parlament Dusan Slobodnk und dem Dichter und Publizisten L'ubomr Feldek. Herr Slobodnk hatte den Dichter geklagt, nachdem ihm dieser öffentlich ua. seine faschistische Vergangenheit vorgeworfen hatte. Im ersten dieser Beiträge, der am 1.4.1994 erschien, wurde die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs kritisiert, der das Urteil des erstinstanzlichen Gerichts aufgehoben und Herrn Feldek wegen Beleidigung von Herrn Slobodnk zur Zahlung einer Entschädigung in der Höhe von SKK 200.000,-- verurteilt hatte. Der Artikel wandte sich in scharfen Worten gegen den Richter S., der federführend an dem Urteil beteiligt war, und warf ihm vor, seine Urteilsbegründung würde das Verhältnis in Frage stellen, das demokratische Staaten nach dem zweiten Weltkrieg gegenüber dem Faschismus an den Tag gelegt hätten. Am 12.8.1994 veröffentlichte Domino Effekt ein Interview mit dem ehemaligen Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs, der L'ubomr Feldek in dem Verfahren gegen Dusan Slobodnk vertreten hatte. In dem Interview kam das politische Engagement des Richters S. zur Sprache, der bei den Parlamentswahlen für die Christlich-Soziale Union kandidierte. Nach Ansicht des Interviewten wäre eine solche öffentliche Manifestation der politischen Ansichten für einen Richter ungewöhnlich und stehe in einem Spannungsverhältnis zur Objektivität und Unparteilichkeit des Gerichts. Es wäre höchst problematisch, dass der Fall Feldek gegen Slobodnk, in dem einer der wesentlichen Streitpunkte das Verhalten Slobodnks zwischen 1939 und 1945 war, von einem Richter entschieden wurde, der selbst für eine Partei kandidierte, die ein fragwürdiges Verhältnis zur faschistischen Vergangenheit der Slowakei habe. Die Christlich-Soziale Union vertrete nämlich eine klare Position zur Zeit von 1939 bis 1945 und verurteile das Verhalten der slowakischen Regierung während dieser Phase nicht.

In einem weiteren Artikel vom 16.6.1995 wurde berichtet, dass L'ubomr Feldek eine Beschwerde beim EGMR einbringen würde. Der Beitrag ließ keinen Zweifel an den Erfolgsaussichten der Beschwerde und warf den Richtern des slowakischen Höchstgerichts vor, bei ihrer Entscheidung bewusst die vom EGMR aufgestellten Grundsätze zum Recht der freien Meinungsäußerung missachtet zu haben.

Am 20.9.1995 brachte Richter S. eine Klage gegen den Bf. wegen Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte ein. Am 3.7.1996 verurteilte das Bezirksgericht Kosice den Bf. zur Veröffentlichung einer Entschuldigung im Magazin Domino Effekt und zur Zahlung einer Entschädigung in der Höhe von SKK 50.000,--. Dieses Urteil wurde vom Regionalgericht Kosice am 24.6.1997 mit der Begründung aufgehoben, dass der Beklagte in der Zwischenzeit seine Funktionen als Herausgeber und Chefredakteur des Magazins Domino Effekt niedergelegt habe und daher nicht mehr klagslegitimiert sei.

Aufgrund einer Berufung des Klägers stellte der Oberste Gerichtshof fest, dass die drei Artikel die Grenzen der zulässigen Kritik überschritten hätten und die Vorwürfe unverhältnismäßig zu dem legitimen Ziel der Kritik eines Urteils bzw. der politischen Aktivität eines Richters gewesen wären. Er hob das Urteil auf und verweis die Sache zur neuerlichen Verhandlung an das Regionalgericht zurück. Dieses bestätigte den die Entschädigung betreffenden Teil des Urteils des Bezirksgerichts und wies die Klage in den übrigen Punkten aus formalen Gründen zurück.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Recht auf freie Meinungsäußerung). Er bringt vor, die strittigen Aussagen wären Werturteile, die auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage beruht hätten. Da der Richter S. für eine politische Partei kandidiert habe, wäre er eine Person des öffentlichen Lebens, bei der die Grenzen zulässiger Kritik weiter wären.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK:

Die Verurteilung des Bf. stellt einen Eingriff in sein Recht auf freie Meinungsäußerung dar. Es ist unbestritten, dass dieser gesetzlich vorgesehen war und dem legitimen Ziel der Wahrung der Autorität der Rechtsprechung und dem Schutz des guten Rufs und der Rechte des Richters S. diente. Die einzige strittige Frage ist daher, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Den Artikeln und dem Interview lag die unumstrittene Tatsache zugrunde, dass Richter S. auf der Liste der Christlich-Sozialen Union für die Parlamentswahlen kandidierte. Diese Partei vertritt einen klaren und allgemein bekannten Standpunkt zur Rolle der slowakischen Regierung in der Zeit von 1939 bis 1945. In den Beiträgen wurde die Meinung vertreten, dass ein Richter, der seine Absicht bekannt gegeben hat, sich politisch zu engagieren und diese Partei zu unterstützen, sich in einem Verfahren für befangen erklären sollte, das die angebliche faschistische Vergangenheit eines ehemaligen Ministers und seine Handlungen während des Zweiten Weltkriegs zum Gegenstand hat. Diese Meinungsäußerung stellt nach Ansicht des GH ein Werturteil über eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse dar, das nicht jeder Tatsachengrundlage entbehrte.

Zwar wurde die Kritik in harten Worten ausgedrückt, bei einem Richter, der die politische Bühne betritt und sich damit bewusst der öffentlichen Kritik aussetzt, sind jedoch die Grenzen der zulässigen Kritik weiter. Der GH erinnert in diesem Zusammenhang an seine st. Rspr., wonach Art. 10 EMRK auch Meinungsäußerungen schützt, die verletzen oder schockieren und zur journalistischen Freiheit auch die Möglichkeit gehört zu übertreiben.

Bei einer Gesamtbetrachtung der Beiträge kann nicht gesagt werden, dass die Meinungsäußerungen das Ziel hatten, die kritisierte Person zu beleidigen, herabzusetzen oder zu diskreditieren. Der GH stellt weiters fest, dass der Zivilprozess, auf den sich die Artikel im Domino Effekt bezogen, eine Angelegenheit von allgemeinem Interesse betraf, die auch Gegenstand einer politischen Debatte war. Unter diesen Umständen waren die von den slowakischen Gerichten angewandten Standards nicht mit den Grundsätzen des Art. 10 EMRK vereinbar und die von ihnen zur Rechtfertigung des Eingriffs vorgebrachten Gründe können nicht als ausreichend angesehen werden. Daran kann auch die relativ geringe Höhe der dem Bf. auferlegten Entschädigung nichts ändern. Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

EUR 1.250,-- für materiellen Schaden, EUR 1.000,-- für immateriellen

Schaden, EUR 780,-- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Lingens/A v. 8.7.1986, A/103 (= EuGRZ 1986, 424).

Prager & Oberschlick/A v. 26.4.1995, A/313 (= NL 1995, 121 = ÖJZ

1995, 675).

De Haes & Gijsels/B v. 24.2.1997 (= NL 1997, 50 = ÖJZ 1997, 912).

Feldek/SK v. 12.7.2001 (= NL 2001, 149).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 20.7.2004, Bsw. 49418/99, entstammt der Zeitschrift „ÖIM-Newsletter" (NL 2004, 188) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/04_4/Hrico.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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