EGMR Bsw58148/00

EGMRBsw58148/0018.5.2004

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Plon (Socit) gegen Frankreich, Urteil vom 18.5.2004, Bsw. 58148/00.

 

Spruch:

Art. 10 EMRK - Untersagung des Vertriebs eines politisch brisanten Buches.

Keine Verletzung von Art. 10 EMRK durch die einstweilige Verfügung (einstimmig).

Verletzung von Art. 10 EMRK durch das nachfolgend ergangene Urteil (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: EUR 26.449,87 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Die bf. Gesellschaft ist ein Verlag mit Sitz in Paris. Im November 1995 wurden ihr von Herrn Gonod, einem Journalisten, und von Dr. Gubler, dem langjährigen Vertrauensarzt des ehemaligen französischen Präsidenten Franois Mitterrand, die Verlegerrechte an ihrem gemeinsam verfassten Buch mit dem Titel „Le Grand Secret" (Das große Geheimnis) übertragen. Das Buch schilderte die von Dr. Gubler organisierte medizinische Betreuung Franois Mitterrands, nachdem bei diesem kurz nach seiner 1981 erfolgten erstmaligen Wahl zum Präsidenten der französischen Republik Prostatakrebs festgestellt worden war. Erwähnt wurden auch die Schwierigkeiten, mit denen sich Dr. Gubler bei der Verheimlichung der Krebserkrankung Franois Mitterrands konfrontiert sah, nachdem sich dieser verpflichtet hatte, halbjährlich ein Bulletin über seinen Gesundheitszustand veröffentlichen zu lassen.

Infolge des Ablebens von Franois Mitterrand am 8.1.1996 wurde der ursprünglich mit Mitte Jänner 1996 festgelegte Publikationstermin für das Buch verschoben. Am 10.1.1996 berichtete die Tageszeitung „Le Monde", dass Mitterrand bereits zu Beginn seiner ersten Präsidentschaft an Prostatakrebs gelitten hatte und die Öffentlichkeit von dieser Tatsache erst im Jahr 1992 in Kenntnis gesetzt worden war. Ferner wurde darauf hingewiesen, dass Dr. Gubler im Jahr 1994 von Franois Mitterrand als Vertrauensarzt entlassen worden sei. Der Artikel sorgte für ein breites Echo in den Medien und führte auch zu einer Diskussion über die richtige Wahl der medizinischen Behandlungsmethoden. Angesichts dieser Umstände entschied sich Dr. Gubler, das Buch bereits am 17.1.1996 zu veröffentlichen. Am selben Tag wandte sich die Familie Mitterrands an die Gerichte und behauptete einen Verstoß gegen die ärztliche Verschwiegenheitspflicht und eine Verletzung sowohl ihrer Privatsphäre als auch jener des Verstorbenen.

Am 18.1.1996 erließ der Präsident des Pariser Tribunal de grande instance eine einstweilige Verfügung, mit welcher der bf. Gesellschaft und Dr. Gubler der Vertrieb des Buches mit sofortiger Wirkung untersagt wurde, da die im Buch enthaltenen Enthüllungen von ihrer Natur und den Umständen her einen besonders schwerwiegenden Eingriff in die Privat- und Intimsphäre von Franois Mitterrand und seiner Familie darstellen würden. Noch im selben Jahr wurden Dr. Gubler, der Verlagsleiter der bf. Gesellschaft und Herr Gonod wegen Verletzung des Berufsgeheimnisses in Haupt- bzw. Mittäterschaft rechtskräftig für schuldig gesprochen.

Mit Urteil vom 23.10.1996 wurden die bf. Gesellschaft, ihr Verlagsleiter und Dr. Gubler vom Pariser Tribunal de grande instance wegen der Offenlegung von Informationen entgegen der ärztlichen Verschwiegenheitspflicht zur gemeinschaftlichen Leistung von Schadenersatz in Höhe von FF 100.000,-- an die Witwe und von jeweils FF 80.000,-- an die Kinder Mitterrands verurteilt. Ausgehend von der zivilrechtlichen Haftung der bf. Gesellschaft für den verursachten Schaden führte das Gericht aus, dass die Begleitumstände des Falles, insbesondere die Übermittlung von Buchauszügen an die Presse, die Wiedergabe des Buches im Internet, seine Veröffentlichung nahezu unmittelbar nach dem Ableben von Franois Mitterrand und der Verkauf von bereits 40.000 Exemplaren, die Aufrechterhaltung des Vertriebsverbots, nicht zuletzt auch angesichts der durch das Erscheinen des Buches bei der Familie Mitterrand ausgelösten Emotionen, nach wie vor rechtfertigen würden. Die dagegen erhobenen Rechtsmittel blieben erfolglos.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die bf. Gesellschaft behauptet, das gegenständliche Vertriebsverbot sowie die Verurteilung zur Leistung einer ihrer Ansicht nach exorbitant hohen Schadenersatzsumme würden eine Verletzung ihres Rechts auf Freiheit der Meinungsäußerung gemäß Art. 10 EMRK darstellen.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK:

Die einstweilige Verfügung bzw. das nachfolgende Urteil stellen einen Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit der bf. Gesellschaft dar. Nach französischem Recht stellt die Verletzung der ärztlichen Verschwiegenheitspflicht nicht nur einen Verstoß gegen strafgesetzliche Vorschriften und die Berufspflichten dar, sie vermag gemäß Art. 1382 des Code Civil auch eine zivilrechtliche Haftung des Verursachers für allfällig eingetretene Schäden zu begründen. Die bf. Gesellschaft war daher in der Lage, die sie erwartenden gesetzlichen Sanktionen für den Fall der Publikation des Buches vorherzusehen. Der Eingriff beruhte somit auf einer gesetzlichen Grundlage. Im vorliegenden Fall haben sich die Gerichte auf zwei der in Art. 10

(2) EMRK aufgezählten Eingriffsvorbehalte gestützt, nämlich zum einen auf die Verhinderung der Verbreitung von vertraulichen Nachrichten, zum anderen auf den Schutz der Rechte anderer. Der Eingriff verfolgte insofern auch ein legitimes Ziel. Was die Notwendigkeit des Eingriffs anlangt, ist darauf zu verweisen, dass die Veröffentlichung des Buches im Zuge einer sich in Frankreich schon seit längerem hinziehenden Debatte über die Frage stattfand, ob und wie weit die Öffentlichkeit über schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen des Staatsoberhauptes informiert werden sollte und ob eine gesundheitlich geschwächte Person für ein derart gewichtiges Amt überhaupt geeignet sei. Darüber hinaus warf die von Franois Mitterrand ausdrücklich gewünschte Geheimhaltung seines Krebsleidens gegenüber der Öffentlichkeit und dessen Bekanntgabe erst mehr als zehn Jahre später die Frage nach der öffentlichen Transparenz des Lebens von Politikern auf. Angesichts dieser Umstände ist zu prüfen, ob der gerügte Eingriff einem dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis entsprach, wobei - mit Rücksicht auf den Zeitpunkt des Erlasses der in Frage stehenden Gerichtsentscheidungen - zwischen der einstweiligen Verfügung und dem nachfolgend ergangenen Urteil unterschieden werden muss.

1.) Zur Zulässigkeit der einstweiligen Verfügung:

Die Veröffentlichung des in Frage stehenden Buches erfolgte weniger als zehn Tage nach dem Ableben von Ex-Präsident Mitterrand. Angesichts der unmittelbaren Nähe zu dessen Sterbetag musste die Publikation des Buches, in dem dieser der bewussten Lüge gegenüber der französischen Bevölkerung hinsichtlich seines Gesundheitszustandes bezichtigt wurde, notwendigerweise zu einer Vergrößerung des Kummers und Schmerzes bei seiner Familie führen. Dazu kommt, dass der Tod von Franois Mitterrand im Zuge eines jahrelangen Kampfes gegen den Krebs und erst einige Monate nach dem Ablauf seiner Funktionsperiode erfolgte. Unter diesen Umständen war der durch die Herausgabe des Buches verursachte Schaden, was das Ansehen des Verstorbenen betraf, nicht unerheblich. Die Untersagung der Verbreitung des gegenständlichen Buches bis zur Fällung einer endgültigen Entscheidung über dessen Vereinbarkeit mit der ärztlichen Verschwiegenheitspflicht war somit in einer demokratischen Gesellschaft notwendig für den Schutz der Rechte von Ex-Präsident Mitterrand und seiner Angehörigen. Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

2.) Zur Zulässigkeit des nachfolgend ergangenen Urteils:

In seinem Urteil vom 23.10.1996 rechtfertigte das Pariser Tribunal de grande instance die Aufrechterhaltung des Vertriebsverbots mit der Notwendigkeit, einer erneuten Schädigung des Ansehens von Ex-Präsident Mitterrand im Falle einer nochmaligen Veröffentlichung entgegen zu treten. Es kam zu dem Ergebnis, dass die seither verstrichene Zeit die anlässlich der Buchveröffentlichung auftretenden Störungen nicht nachhaltig hätte beseitigen können, sodass eine Verbreitung des Buches trotz der bereits erfolgten Weitergabe der darin enthaltenen Informationen seitens der Medien nicht zulässig sei. Die einzige Möglichkeit habe darin bestanden, das Werk zur Gänze zu untersagen, da die inkriminierten Passagen - von ihrer Aufmachung her - nicht losgelöst von den übrigen gelesen werden könnten, ohne dass nicht der Inhalt des Buches gänzlich verfälscht würde.

Der GH kann sich dieser Argumentation nicht anschließen. Das gegenständliche Urteil erfolgte neuneinhalb Monate nach dem Ableben von Franois Mitterrand und somit nicht mehr in einem so engen zeitlichen Zusammenhang wie die einen Tag nach der Buchveröffentlichung angeordnete einstweilige Verfügung. Je weiter der Sterbetag von Ex-Präsident Mitterrand in die Ferne rückte, desto weniger war das anfängliche Kriterium der bei seiner Familie infolge des unverzüglichen Erscheinens des Buches ausgelösten Emotionen von Gewicht. Ab dem Zeitpunkt der Feststellung eines Verstoßes gegen die ärztliche Verschwiegenheitspflicht hätte der Ablauf der Zeit notwendigerweise bei der Beurteilung der Frage Berücksichtigung finden müssen, ob das strikte Veröffentlichungsverbot mit der Meinungsäußerungsfreiheit überhaupt noch vereinbar war. Dazu kommt, dass zum Zeitpunkt des Urteils bereits etwa 40.000 Exemplare verkauft waren, das Buch im Internet abrufbar und es überdies Gegenstand von zahlreichen Kommentaren in den Medien war. Die im Buch enthaltenen Informationen verloren damit zu einem überwiegenden Teil den ursprünglichen Gehalt an Vertraulichkeit. Unter diesen Umständen war die Wahrung der ärztlichen Verschwiegenheitspflicht nicht weiter ausschlaggebend. Das Vertriebsverbot erscheint auch insofern unverhältnismäßig, als es unabhängig von der Verpflichtung zur Schadenersatzleistung an die Familie Mitterrand erfolgte. Angesichts dieser Feststellung ist eine Prüfung der weiteren Behauptung der bf. Gesellschaft, sie wäre zu einer exorbitant hohen Schadenersatzsumme verurteilt worden, entbehrlich. Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

EUR 26.449,87 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Sunday Times/GB (Nr. 1) v. 26.4.1979, A/30 (= EuGRZ 1979, 386).

Observer & Guardian/GB v. 26.11.1991, A/216 (= NL 1992/1, 16 = EuGRZ

1995, 16 = ÖJZ 1992, 378).

Vereniging Weekblad Bluf!/NL v. 9.2.1995, A/306-A (= NL 1995, 89 =

ÖJZ 1995, 314).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 18.5.2004, Bsw. 58148/00, entstammt der Zeitschrift „ÖIM-Newsletter" (NL 2004, 120) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/04_3/Plon_F_f.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte