Spruch:
Art. 8 EMRK - Patientenrechhte und Achtung des Privatlebens. Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: EUR 10.000,- für immateriellen Schaden, EUR 15.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung
Sachverhalt:
Der 1986 geborene ErstBf. ist körperlich und geistig schwer behindert und benötigt rund um die Uhr Betreuung. Die ZweitBf. ist seine Mutter. Nachdem der ErstBf. im Juli 1998 im Krankenhaus St. Mary wegen einer Verstopfung der Atemwege operiert wurde, kam es zu postoperativen Komplikationen. In weiterer Folge musste er wiederholt wegen Atemproblemen im Krankenhaus stationär behandelt werden. Bei einer dieser Gelegenheiten besprachen die behandelnden Ärzte im September 1998 mit der ZweitBf. die mögliche Verabreichung von Morphium zur Schmerzlinderung. Sie sprach sich vehement dagegen aus und betonte, dass sie im Falle eines Herzstillstandes des ErstBf. auf allen zur Verfügung stehenden Maßnahmen zur Wiederbelebung bestehen würde.
Am 18.10.1998 wurde der ErstBf. neuerlich wegen Atemstillstandes in das Krankenhaus gebracht. Da die Ärzte in den frühen Morgenstunden des 20.10. zu der Ansicht gelangten, dass der ErstBf. im Sterben liege, ordneten sie die Verabreichung von Diamorphin zur Schmerzlinderung an. Die ZweitBf. sprach sich gegen diese Behandlung aus, da sie nicht glaubte, dass ihr Sohn sterben würde und befürchtete, das Diamorphin würde seine Heilung erschweren. Nachdem trotzdem mit der Verabreichung des Schmerzmittels begonnen worden war, kam es zu einem Streit zwischen den Ärzten und den Angehörigen des ErstBf. Diese äußerten die Befürchtung, die Ärzte würden dem ErstBf. insgeheim Sterbehilfe leisten, und versuchten, sie am Betreten des Krankenzimmers des ErstBf. zu hindern. Am selben Tag wurde ohne Rücksprache mit der ZweitBf. die Anordnung in den Krankenakt des ErstBf. aufgenommen, den Patienten nicht wiederzubeleben. (Anm.: Die Richtlinien der Britischen Medizinischen Gesellschaft sehen eine solche Anordnung (do-not-resusciate order) ua. dann vor, wenn erfolgreiche Maßnahmen zur Wiederbelebung eine für den Patienten nicht akzeptable Lebensqualität nach sich ziehen würden.) In weiterer Folge wurde die Dosis des Diamorphins wegen des anhaltenden Widerspruchs der Familie auf die Hälfte reduziert. Der Zustand des ErstBf. hatte sich nach Ansicht der Mediziner durch das Schmerzmittel deutlich gebessert.
Als die ZweitBf. am folgenden Tag feststellte, dass sich der Zustand ihres Sohnes wieder verschlechtert hatte, machte sie dafür die Verabreichung des Diamorphins verantwortlich. Dadurch in Aufregung versetzt, verlangte sie ein sofortiges Ende dieser Medikation. Als die Angehörigen versuchten, den ErstBf. zu wecken, kam es zu einem Handgemenge, bei dem zwei Ärzte und mehrere der herbei gerufenen Polizisten verletzt wurden.
Nachdem sich sein Gesundheitszustand gebessert hatte, konnte der ErstBf. am 21.10.1998 das Krankenhaus verlassen. Am 5.11.1998 teilte der medizinische Leiter der Krankenhausverwaltung der ZweitBf. mit, dass das Personal der Kinderstation besorgt über eine mögliche Wiederholung des Zwischenfalls sei und bezweifle, ob es in der Lage wäre, dem ErstBf. die benötigte Behandlung zukommen zu lassen. Er empfahl daher, die weitere medizinische Versorgung in einem anderen Krankenhaus vornehmen zu lassen und informierte die ZweitBf. darüber, dass sich bereits ein von ihm kontaktiertes Spital in Southampton bereit erklärt hätte, den ErstBf. im Falle einer neuerlichen Verschlechterung seines Zustandes aufzunehmen.
Die von der ZweitBf. gegen diese Entscheidung der Krankenhausverwaltung erhobenen Rechtsmittel blieben erfolglos. Eine aufgrund einer Beschwerde der ZweitBf. an die Ärztekammer eingeleitete Untersuchung kam zu dem Schluss, dass den behandelnden Ärzten kein Fehlverhalten vorgeworfen werden könne. Auch die durch eine Anzeige der ZweitBf. eingeleitete strafrechtliche Untersuchung führte nicht zu einer Anklage gegen die Mediziner.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) durch die Verabreichung von Diamorphin gegen den Willen der ZweitBf. und durch die Anordnung, den ErstBf. nicht wiederzubeleben. Die innerstaatliche Rechtslage und Praxis habe keinen wirksamen Schutz der körperlichen und psychischen Integrität des ErstBf. gewährt, wie sie von Art. 8 EMRK garantiert werde.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:
a) Zum Vorliegen eines Eingriffs:
Der GH stellt fest, dass die ZweitBf. als Vertreterin des ErstBf. auch hinsichtlich dessen medizinischer Behandlung die Befugnis hatte, in seinem Namen zu handeln und seine Interessen zu vertreten. Sie sprach sich vehement gegen die Verabreichung von Diamorphin aus, die Ärzte setzten sich jedoch über ihren anhaltenden Widerstand hinweg. Diese Entscheidung, den ErstBf. gegen den Widerspruch seiner Mutter zu behandeln, begründete einen Eingriff in das Recht des ErstBf. auf Achtung seines Privatlebens, insbesondere in sein Recht auf körperliche Integrität. Es ist unbestritten, dass es sich bei dem Krankenhaus um eine öffentliche Einrichtung handelt und die Handlungen und Unterlassungen des medizinischen Personals geeignet sind, die Verantwortlichkeit der Reg. nach der Konvention zu begründen.
Was die von der ZweitBf. geltend gemachte Verletzung ihres Rechts auf Achtung des Familienlebens betrifft, stellt der GH fest, dass es nur geboten ist, die Angelegenheit unter dem Gesichtspunkt des Rechts des ErstBf. auf körperliche Integrität zu prüfen.
b) Zur Rechtfertigung des Eingriffs:
Ein Eingriff in ein durch Art. 8 EMRK garantiertes Recht ist nur dann nach Art. 8 (2) EMRK gerechtfertigt, wenn er gesetzlich vorgesehen ist, eines der in dieser Bestimmung genannten legitimen Ziele verfolgt und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist. Die Bf. stellen die Zulänglichkeit des innerstaatlichen Rechtssystems zur Lösung von Konflikten in Frage, die sich aus dem Widerstand von Eltern gegen eine medizinische Behandlung ihres Kindes ergeben. Ihrer Ansicht nach ist den Ärzten bei der Entscheidung über die Beiziehung der Gerichte im Falle des Widerstands der Eltern gegen eine Behandlung, die als Nebenwirkung den Tod ihres Kindes beschleunigen könnte, ein zu großes Ermessen eingeräumt.
Nach Ansicht des GH machen die Bf. mit diesem Vorbringen in Wirklichkeit geltend, dass in ihrem Fall die Auseinandersetzung zwischen ihnen und dem Personal des Krankenhauses von einem Gericht geschlichtet hätte werden sollen, und dass die den ErstBf. behandelnden Ärzte fälschlicherweise von einem Notfall ausgegangen seien. Diese Frage ist jedoch nicht vom Standpunkt der gesetzlichen Grundlage aus, sondern unter dem Gesichtspunkt der Notwendigkeit des Eingriffs zu prüfen.
Was das legitime Ziel des Eingriffs betrifft, stellt der GH fest, dass die Handlungen der Ärzte gemäß ihrer medizinischen Einschätzung den Interessen des ErstBf. dienten. Er weist darauf hin, dass er in seiner Zulässigkeitsentscheidung jede Andeutung, es wäre die Absicht der Ärzte gewesen, den Tod des Bf. zu beschleunigen, unter Art. 2 EMRK einstimmig zurückgewiesen hat.
Bezüglich der Notwendigkeit des Eingriffs hält der GH fest, dass die Situation, die sich zwischen 19.10. und 21.10.1998 ergab, nicht losgelöst von den früheren Gesprächen zwischen der ZweitBf. und den behandelnden Ärzten im Juli bzw. September beurteilt werden kann. Die Ärzte waren offensichtlich besorgt über die Weigerung der ZweitBf., ihren Ratschlägen zu folgen und insbesondere über ihren Widerstand gegen eine möglicherweise zur Linderung der Schmerzen des ErstBf. notwendige Verabreichung von Morphium. Zwei der Ärzte stellten in ihren Aktenvermerken fest, dass unter Umständen die Gerichte angerufen werden müssten, um die Pattstellung mit der ZweitBf. zu überwinden.
Es wurde dem GH gegenüber nicht zufrieden stellend dargelegt, warum die Krankenhausverwaltung sich zu diesem Zeitpunkt nicht an den High Court wandte. Die Ärzte waren wenig zuversichtlich über den Gesundheitszustand des ErstBf. und es bestand kein Zweifel, dass die ZweitBf. der von ihnen für notwendig erachteten Behandlung nicht zustimmen würde. Zwar hätte auch die ZweitBf. die Angelegenheit vor den High Court bringen können, doch unter den Umständen des vorliegenden Falls wäre es Sache der Krankenhausverwaltung gewesen, die Initiative zu ergreifen und angesichts des zu erwartenden Notfalls die Lage zu entschärfen.
Der GH anerkennt, dass die Ärzte das Maß an Konfrontation und Feindseligkeit nicht vorhersehen konnten, das sich nach der neuerlichen Aufnahme des ErstBf. am 18.10.1998 entwickelte. Dem Vorbringen der Reg., angesichts des kritischen, ein sofortiges Handeln der Ärzte erfordernden, Zustands des ErstBf. wäre die Anrufung des High Court keine realistische Option gewesen, ist aber entgegen zu halten, dass das Versäumnis der Krankenhausverwaltung, das Gericht schon früher anzurufen, zu dieser Situation beigetragen hat.
In Anbetracht dessen ist der GH nicht der Ansicht, dass eine Anrufung des High Court nicht möglich gewesen wäre, als der klare Widerstand der ZweitBf. gegen die Verabreichung von Diamorphin deutlich wurde. Die Ärzte nutzten die knappe zur Verfügung stehende Zeit statt dessen dazu, die ZweitBf. von ihren Ansichten zu überzeugen. Der GH hält in diesem Zusammenhang fest, dass die Krankenhausverwaltung in der Lage war, für die Anwesenheit eines Polizisten zu sorgen, jedoch nicht daran dachte, den High Court anzurufen.
Nach Ansicht des GH begründete die Entscheidung der Behörde, sich ohne gerichtliche Zustimmung über den Widerstand der ZweitBf. gegen die Behandlung des ErstBf. hinweg zu setzen, eine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Casadevall). Er erachtet eine gesonderte Erörterung der Bsw., soweit sie sich auf die Anordnung bezieht, den ErstBf. nicht wiederzubeleben, nicht für notwendig. Der GH hält jedoch fest, dass sich diese Entscheidung nur auf einzelne medizinische Maßnahmen bezog und die Anwendung anderer lebenserhaltender Techniken nicht ausschloss.
Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
EUR 10.000,-- für immateriellen Schaden, EUR 15.000,-- für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
X. & Y./NL v. 26.3.1985, A/91 (= EuGRZ 1985, 297).
Pretty/GB v. 28.4.2002 (= NL 2002, 91 = EuGRZ 2002, 234 = ÖJZ 2003, 311).
Odivre/F v. 13.2.2003 (= NL 2003, 27 = EuGRZ 2003, 584 ).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 9.3.2004, Bsw. 61827/00, entstammt der Zeitschrift „ÖIM-Newsletter" (NL 2004, 70) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/04_2/Glass_GB.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.
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