Spruch:
Art. 8 EMRK, § 18 Abs. 1 FrG 1992, § 18 Abs. 2 Z. 2 FrG 1992, § 20 Abs. 1 FrG 1992, Beschluss 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei - Verhängung und Durchsetzung eines Aufenthaltsverbots ohne Klärung der Möglichkeit der Familiennachfolge in die Türkei.
Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Was den beantragten Zuspruch von immateriellem Schaden betrifft, stellt das Urteil selbst eine ausreichend gerechte Entschädigung dar. EUR 8.000,- für Kosten und Auslagen (jeweils einstimmig).
Text
Begründung
Sachverhalt:
Der ErstBf., ein 1975 geborener türk. Staatsangehöriger, stieß 1989 zu seiner in Österreich lebenden Familie. Im April 1994 ging er mit der ZweitBf., einer türk. Staatsangehörigen, die sich von Geburt an in Österreich aufgehalten hatte, eine Ehe nach moslemischem Ritus ein. Im August 1995 kam ihre Tochter, die DrittBf., zur Welt. Am 5.1.1993 wurde der ErstBf. von einem Schweizer Gericht wegen Ladendiebstahls zu einer bedingten „Einschließungsstrafe von drei Tagen" verurteilt. Im Mai desselben Jahres wurde er vom BG Dornbirn des Diebstahls gemäß § 127 StGB für schuldig befunden. Das Gericht fällte einen Schuldspruch unter Vorbehalt der Strafe gemäß § 13 (1) JGG und setzte eine Probezeit von drei Jahren fest. Zwischen 1992 und 1993 wurde der ErstBf. insgesamt drei Mal wegen Übertretungen gegen die Straßenverkehrsordnung zu Geldstrafen verurteilt. Im Zeitraum Februar und April 1994 folgten drei weitere Geldstrafen, jeweils wegen Lenkens eines Fahrzeugs, ohne im Besitz der erforderlichen Lenkerberechtigung zu sein. Zudem wurde er am 6.4.1994 von der BH Dornbirn zu einer Geldstrafe von ATS 14.500,-- verurteilt, weil er im Februar unter Missachtung des Rotlichts einer Verkehrsampel bei einer erlaubten Geschwindigkeit von 60 km/h mit einer Geschwindigkeit von 170 km/h mit einem KfZ auf einer Bundesstraße gefahren war, ohne im Besitz der hiefür erforderlichen Lenkerberechtigung zu sein. Am 21.9.1994 wurde von der BH Dornbirn ein fünfjähriges Aufenthaltsverbot über den ErstBf. verhängt. Die Sicherheitsdirektion Vorarlberg wies seine Berufung mit dem Hinweis auf § 18 (1) und (2) Z.2 FrG 1992 ab: Der ErstBf. halte sich seit seinem 14. Lebensjahr gemeinsam mit seiner Familie im Bundesgebiet auf; seit April 1994 wohne er mit seiner Ehegattin, die in Österreich geboren sei, zusammen und verfüge über eine Arbeitsstelle. Der Entzug der Aufenthaltsberechtigung bewirke zwar einen Eingriff in das Privat- und Familienleben des ErstBf., andererseits habe er seit seinem Aufenthalt im Bundesgebiet immer wieder gegen strafrechtliche Bestimmungen verstoßen und auch gravierende Verwaltungsübertretungen begangen. Es sei zu erwarten, dass der ErstBf. auch in Hinkunft ähnliche strafbare Handlungen begehen werde. Der Entzug der Aufenthaltsberechtigung sei daher zur Erreichung der in Art. 8 (2) EMRK genannten Ziele, insb. der Verhinderung weiterer strafbarer Handlungen sowie dem Schutz der Rechte anderer, dringend geboten. Trotz des hohen Ausmaßes an Integration im Bundesgebiet sei davon auszugehen, dass die Auswirkungen des Aufenthaltsverbotes auf die Lebenssituation des ErstBf. und seiner Familie nicht so schwer wögen wie die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von seiner Erlassung. Der ErstBf. wurde am 11.5.1995 in Schubhaft genommen. Mit Beschluss vom 13.6.1995 lehnte der VfGH die Behandlung seiner zwischenzeitig eingebrachten Bsw. wegen mangelnder Aussicht auf Erfolg ab. Vor dem VwGH brachte der ErstBf. vor, dass das gegen ihn erlassene Aufenthaltsverbot angesichts seiner privaten und familiären Interessen unzulässig sei. Trotz einer Verurteilung wegen Diebstahls sei bis heute keine einzige gerichtliche Strafe gegen ihn verhängt worden, wohingegen alle übrigen Verurteilungen lediglich Verwaltungsübertretungen betroffen hätten. Weder seiner Gattin, die in Österreich geboren sei und dort einer Beschäftigung nachgehe, noch seiner Tochter sei zuzumuten, ihm in die Türkei nachzufolgen. Ferner sei Österreich an das Assoziierungsabkommen mit der Türkei gebunden, wonach türk. Arbeitnehmer, die länger als vier Jahre ununterbrochen eine ordnungsgemäße Beschäftigung in einem Mitgliedstaat ausgeübt haben, freien Zugang zum Arbeitsmarkt und Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis hätten. In der Folge wurde der Bsw. aufschiebende Wirkung zuerkannt und der ErstBf. aus der Schubhaft entlassen.
Am 4.12.1996 wurde die Bsw. vom VwGH als unbegründet abgewiesen: Die belangte Behörde sei zu Recht von einer erheblichen Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ausgegangen, zumal der ErstBf. über einen größeren Zeitraum wiederholt Straftaten sowie Verwaltungsstraftaten begangen hätte. Die Behörde habe auch die beträchtlichen privaten und familiären Beziehungen des ErstBf. im Bundesgebiet korrekt abgewogen. Was das Assoziierungsabkommen mit der Türkei, darunter insb. der Beschluss 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei, betreffe, sei festzustellen, dass die darin genannten Rechte jeweils nur nach einer gewissen Anzahl von Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung zuerkannt werden könnten. Der ErstBf. habe es verabsäumt darzulegen, dass diese Voraussetzungen in seinem Falle vorgelegen seien. Der Sicherheitsdirektion Vorarlberg könne daher kein Vorwurf gemacht werden, dass sie dem ErstBf. ein aus dem genannten Beschluss erfließendes Aufenthaltsrecht nicht zuerkannt habe.
Im März 1997 ließen sich der ErstBf. und die ZweitBf. standesamtlich trauen. Am 16.6.1997 wurde ein Ausweisungsbescheid gegen den ErstBf. erlassen. Er verließ Österreich am 1.7.1997 und lebt seither in der Türkei, wo er mehrere Male von der Zweit- und der DrittBf. besucht wurde. Im März 2001 ließen sich der ErstBf. und die ZweitBf. scheiden, wobei letzterer das alleinige Sorgerecht zugesprochen und ersterem ein Besuchsrecht eingeräumt wurde. Ihre Tochter lebt zeitweise bei Verwandten in der Türkei, es ist jedoch geplant, dass sie zu ihrer Mutter nach Österreich zurückkehrt.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behaupten, das gegen den ErstBf. verhängte Aufenthaltsverbot habe ihr Recht auf Achtung des Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK verletzt.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:
Der GH erinnert an seine st. Rspr., wonach die Frage, ob ein Familien- bzw. Privatleben iSd. Art. 8 EMRK vorliegt, zum Zeitpunkt der Durchsetzbarkeit des Aufenthaltsverbots zu entscheiden ist. Im vorliegenden Fall war dies der 4.12.1996 - der Tag, an dem der VwGH die Bsw. des Bf. als unbegründet abgewiesen hat. Die Bf. können daher ihr Vorbringen sowohl auf die seit Anfang 1994 bestehende Lebensgemeinschaft, die vor der Einleitung der aufenthaltsbeendigenden Maßnahmen eingegangen wurde, als auch auf die Geburt ihrer Tochter im August 1995 stützen. Das Aufenthaltsverbot, das die Trennung des ErstBf. von der Zweit- und DrittBf. zur Folge hatte, stellte somit einen Eingriff in das Recht der Bf. auf Achtung des Privat- und Familienlebens dar. Das Aufenthaltsverbot stützte sich auf die §§ 18 (1) und (2) FrG 1992. Die Bf. bringen vor, dass diesen Bestimmungen der Beschluss 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei vorgehe. Der GH stellt fest, dass diese Frage vom VwGH eingehend geprüft wurde und dieser zu dem Ergebnis gekommen ist, dass der ErstBf. es verabsäumt hätte darzulegen, dass obiger Beschluss auf seinen Fall anzuwenden gewesen wäre. Der Eingriff war somit gesetzlich vorgesehen. Darüber hinaus diente er auch einem legitimen Ziel, nämlich der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung und der Verhinderung von strafbaren Handlungen. Was die Notwendigkeit des Eingriffs anlangt, ist festzuhalten, dass es den Konventionsstaaten freigestellt ist, die Ausweisung von ausländischen Straftätern zu verfügen. Entscheidungen in diesem Bereich haben jedoch, insoweit sie in ein durch Art. 8 (1) EMRK geschütztes Recht eingreifen, in einer demokratischen Gesellschaft notwendig zu sein, dh. sie müssen durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt und insb. dem verfolgten legitimen Ziel gegenüber verhältnismäßig sein.
Was die Familiensituation und die Dauer des Aufenthalts des ErstBf. betrifft, ist festzuhalten, dass dieser kein Einwanderer der zweiten Generation ist, also jemand, der in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll, geboren wurde oder dort die meiste Zeit seines Lebens verbracht hat. Der ErstBf. kam im Alter von 14 Jahren nach Österreich, sodass vorausgesetzt werden kann, dass eine Bindung zu seinem Heimatstaat besteht und er insb. die türk. Sprache beherrscht. Andererseits war der ErstBf. bei seiner Einreise nach Österreich noch Jugendlicher und lebten bzw. leben dort nach wie vor seine engsten Familienangehörigen. Zum Zeitpunkt des abweisenden Erkenntnisses des VwGH hatte der Bf. sieben Jahre in Österreich verbracht und ist dort einer Arbeit nachgegangen. Die Lebensgemeinschaft mit der ZweitBf., einer türk. Staatsangehörigen, die in Österreich geboren ist und dort ihr ganzes Leben verbracht hat, bestand bereits seit beinahe drei Jahren, ihre gemeinsame Tochter, die DrittBf., zählte ein Jahr und vier Monate. Zwar gingen die Behörden bei Erlassung des Aufenthaltsverbots von einem hohen Ausmaß an Integration des ErstBf. im Bundesgebiet aus. Die Frage, welche Auswirkungen das Aufenthaltsverbot auf sein Familienleben haben könnte, wurde jedoch gänzlich unberücksichtigt gelassen. So wäre etwa zu klären gewesen, ob die ZweitBf. in der Lage gewesen wäre, ihrem Gatten in die Türkei nachzufolgen, ob sie überhaupt die türk. Sprache beherrschte und ob sie - über die türk. Staatsangehörigkeit hinaus - weitere Beziehungen zu diesem Land pflegte.
Es trifft zu, dass sich die Familiensituation des Bf. mittlerweile geändert hat. Der ErstBf. und die ZweitBf. ließen sich im März 2001 scheiden und leben seither in der Türkei bzw. Österreich. Die DrittBf. lebt zur Zeit bei Verwandten in der Türkei. Laut der Aussage ihrer Mutter, welcher die alleinige Obsorge zukommt, ist beabsichtigt, sie nach Österreich zurückzubringen. Wie der GH bereits oben betont hat, ist er jedoch zu einer Würdigung der Umstände zum Zeitpunkt der Durchsetzbarkeit des Aufenthaltsverbots aufgerufen. Seine Aufgabe beschränkt sich somit auf die Feststellung, ob die Behörden ihrer Verpflichtung zur Achtung des Familienlebens der Bf. zum genannten Zeitpunkt nachgekommen sind. Auf Ereignisse, die nachher stattgefunden haben, kann nicht eingegangen werden. Dies gilt auch für Spekulationen dahingehend, ob zwischen den angefochtenen Maßnahmen und den nachfolgenden Entwicklungen, darunter insb. die Scheidung der Eltern, ein ursächlicher Zusammenhang festzustellen ist.
Als Nächstes ist auf die Schwere der vom ErstBf. begangenen Straf- und Verwaltungsstraftaten einzugehen, da diese ein wesentliches Kriterium für die Ermittlung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in das Familienleben der Bf. bildet. Der GH hält fest, dass der ErstBf. im Jahr 1993, also noch in jugendlichem Alter, zweimal strafgerichtlich und zwischen 1992 und April 1994 insgesamt sieben Mal wegen Übertretungen der Straßenverkehrsordnung verurteilt wurde. Die über ihn verhängten Geldstrafen belaufen sich auf eine Summe von insgesamt ATS 28.000,-- (umgerechnet EUR 2.035,--). Die aufgezählten Delikte können somit - insgesamt betrachtet - nicht als nebensächlich eingestuft werden. Aus den niedrigen Strafen, die über den ErstBf. verhängt wurden, geht allerdings hervor, dass die Delikte von den Behörden selbst als geringfügig erachtet wurden. Dazu kommt, dass der ErstBf. im Zeitraum April 1994 bis Dezember 1996, also von der Einleitung bis zum Abschluss des aufenthaltsbeendigenden Verfahrens, keine weiteren Delikte begangen hat. Die Annahme der Behörden, dass der ErstBf. eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle, weil zu vermuten sei, dass er auch in Hinkunft ähnlich strafbare Handlungen begehen werde, wird somit abgemildert durch die besonderen Umstände im konkreten Fall. Der Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens der Bf. war daher nicht verhältnismäßig gegenüber dem gesetzlich verfolgten Ziel. Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
Was den beantragten Zuspruch von immateriellem Schaden betrifft, stellt das Urteil selbst eine ausreichend gerechte Entschädigung dar. EUR 8.000,-- für Kosten und Auslagen (jeweils einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Bouchelkia/F v. 29.1.1997 (= NL 1997, 20 = ÖJZ 1998, 116).
El Boujadi/F v. 26.7.1997 (= NL 1997, 226).
Mehemi/F v. 26.9.1997 (= NL 1997, 228 = ÖJZ 1998, 625).
Dalia/F v. 19.2.1998 (= NL 1998, 57 = ÖJZ 1998, 937).
Ezzouhdi/F v. 13.2.2001.
Boultif/CH v. 2.8.2001 (= NL 2001, 159).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 31.10.2002, Bsw. 37295/97, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2002, 251) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/02_6/Yildiz.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.
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