EGMR Bsw29032/95

EGMRBsw29032/9512.7.2001

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Feldek gegen die Slovakei, Urteil vom 12.7.2001, Bsw. 29032/95.

 

Spruch:

Art. 9 EMRK, Art. 10 EMRK, Art. 14 EMRK - Behauptung der "faschistischen Vergangenheit" eines Ministers und Freiheit der Meinungsäußerung.

Verletzung von Art. 10 EMRK (5:2 Stimmen).

Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK

(einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 14 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: SKK 65.000,- für immateriellen Schaden, SKK 500.000,- für Kosten und Auslagen (5:2 Stimmen).

Text

Begründung

Sachverhalt:

1991 verfasste der Literaturwissenschaftler Dusan Slobodnik seine Autobiographie. Er schilderte darin ua. seine Verurteilung durch ein sowjet. Militärgericht im Jahr 1945 wegen eines Spionagebefehls, den er ein Jahr zuvor im Zuge eines von deutschen Ausbildnern veranstalteten Militärkurses erhalten hatte. Ferner wurden seine Anhaltung in sowjet. Gulags und die Aufhebung des Urteils durch das sowjet. Höchstgericht im Jahr 1960 erwähnt. Im Juni 1992 wurde Dusan Slobodnik zum Minister für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten der Slowakei ernannt. Am 20.7.1992 veröffentlichte die Tageszeitung „Telegraf" ein vom Bf. verfasstes Gedicht mit dem Titel „Gute Nacht, meine Lieben". Einer der Verse hatte folgenden Wortlaut:

„...In Bratislava regiert neuerlich der Staatsanwalt. Und die von einer Partei festgesetzten Regeln stehen über dem Gesetz. Ein Mitglied der SS und ein Angehöriger der STB (Anm.: STB (Statna bezpecnost) steht für die in der ehemaligen CSSR agierende Geheimpolizei) umarmten sich."

Das Gedicht war mit 17.7.1992 datiert - dem Tag, an dem die Souveränität der Slowakei verkündet worden war. Das Gedicht wurde auch in einer anderen Tageszeitung veröffentlicht. In Kommentaren zu diesem Gedicht vertraten zwei Journalisten die Ansicht, die Wendung „Mitglied der SS" beziehe sich auf Dusan Slobodnik. Am 30.7.1992 veröffentlichten mehrere Tageszeitungen eine Stellungnahme des Bf. an die staatliche Presseagentur. Sie trug die Überschrift „Für ein besseres Bild der Slowakei - ohne einen Minister mit faschistischer Vergangenheit" und enthielt folgende Passagen (Auszug):

„Bis heute hat die Slowakei am meisten verloren, wenn sich Angelegenheiten des slowak. Volkes in den Händen von Leuten befanden, die uns von der demokratischen Entwicklung wegführten. Der Preis war hoch - man denke nur an die Opfer des slowak. Volksaufstandes in den Jahren 1944/1945.

Heuer wurde Herr Slobodnik Minister für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten, und das Nächste, was in der Öffentlichkeit heraus kam, war seine faschistische Vergangenheit. Er hat diese Situation in einer Art und Weise dargestellt, die dem Schriftsteller Ladislav Mnacko den Beweis ermöglichte, ihn als Lügner zu entlarven. Er ist jedoch noch immer nicht von seinem Ministerposten zurückgetreten, was er in jedem anderen demokratischen Staat schon längst tun hätte müssen.

Glaubt Herr Slobodnik eigentlich, dass die Slowakei in seinem Fall einen Ausnahmestatus genießt und sie das einzige Land ist, welches das Recht besitzt, die Philosophie der Nürnberger Prozesse zu revidieren, die bindend für die Entwicklung aller anderen europäischen Länder nach dem Krieg war? Oder ist etwa die Botschaft des slowak. Volksaufstandes unrichtig? ... Glaubt denn Herr Meciar etwa, dass es ihm mit so einem Minister in der Regierung gelingen wird, die Menschen in Europa davon zu überzeugen, dass seine Reden über die demokratischen Absichten seiner Regierung für ernst gehalten werden? Ist es wirklich gut, Herrn Slobodnik in der Regierung zu haben, wenn diese Tatsache zur politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Isolation der Slowakei führen wird?

Herr Slobodnik nützt gerne jede Gelegenheit, um über die Verbesserung des slowak. Image auf der ganzen Welt zu sprechen. In diesem Punkt stimme ich mit ihm vollkommen überein. Er hat nun selbst Gelegenheit, etwas für das Image der Slowakei zu tun: nämlich zurückzutreten."

Am 5.8.1992 erklärte Herr Slobodnik in aller Öffentlichkeit, den Bf. wegen obiger Äußerun­gen zu klagen. In einem in der Tageszeitung „Lidov noviny" veröffentlichten Interview äußerte sich der Bf. wie folgt:

„...Wenn ich von der faschistischen Vergangenheit von Herrn Slobodnik spreche, will ich ihn damit nicht charakterisieren. Ich vertrete lediglich die Ansicht, dass die Tatsache, dass er einen von der SS organisierten Kurs mit terroristischen Zielen besuchte, unter den Begriff „faschistische Vergangenheit" fällt. Ich bin der Überzeugung, dass so eine Person nichts in der Regierung eines demokratischen Staates zu suchen hat..."

Die Frage der behaupteten faschistischen Vergangenheit von Herrn Slobodnik wurde nicht nur in mehreren slowak. Zeitungen, sondern auch in der internationalen Presse erörtert. Am 9.9.1992 klagte Herr Slobodnik den Bf. wegen Ehrenbeleidigung. Die Klage wurde abgewiesen. Herr Slobodnik wandte sich darauf an das Höchstgericht und behauptete, der Bf. habe nicht bewiesen, dass er eine faschistische Vergangenheit habe, ferner habe das Gericht 1. Instanz verabsäumt, diesen Begriff zu verdeutlichen. Der Begriff „faschistische Vergangenheit" sei gleichbedeutend mit der Aussage, eine bestimmte Person sei früher ein Faschist gewesen. Was die Teilnahme des Kl. an og. Kurs angehe, habe der Bf. nicht beweisen können, dass dieser tatsächlich als Faschist anzusehen gewesen wäre. Der Kl. sei somit durch die Äußerung und das Gedicht in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt worden.

Der Bf. wurde dazu verurteilt, auf eigene Kosten eine Erklärung durch die Presseagentur der Slowakei und in freier Wahl veröffentlichen zu lassen, wonach seine vom 30.7.1992 gemachte Äußerung und der besagte Gedichtsvers eine üble Nachrede und Herabsetzung der staatsbürgerlichen Ehre und somit einen ungerechtfertigten Eingriff in die Persönlichkeitsrechte von Dusan Slobodnik dargestellt hätten. Ferner wurde er zur Zahlung von Schadenersatz für immateriellen Schaden in der Höhe von SKK 200.000,-- verurteilt.

1995 wurde das Urteil vom Höchstgericht in seiner Eigenschaft als Kassationsgericht hinsichtlich des Gedichtsverses und des Ausspruches über den Schadenersatz für immateriellen Schaden sowie des Ersatzes der Kosten aus Mangel an Beweisen aufgehoben und zur neuerlichen Entscheidung und Verhandlung an die 1. Instanz zurückverwiesen. Mit Urteil vom 15.4.1996 stellte das Gericht 1. Instanz das Verfahren hinsichtlich des Gedichts wegen Zurücknahme der Klage ein. Der Antrag des Kl. auf Zuspruch von Schadenersatz für immateriellen Schaden wurde abgewiesen: Es sei nicht erwiesen, dass die Ehre und das Ansehen des Kl. in der Gesellschaft durch die Äußerung des Bf. tatsächlich geschmälert worden wäre. Er habe insb. nicht überzeugend darlegen können, dass das beträchtliche Aufsehen, dass seine Person erregt habe, Folge der Äußerung des Bf. sei oder - was nicht ausgeschlossen werden könne - von den Zeitungsartikeln und seiner zuvor herausgegebenen Autobiographie herrühre. Das Urteil wurde 1998 vom Höchstgericht bestätigt. Dagegen legte der Bf. ein Rechtsmittel ein, das Verfahren ist anhängig.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet, die Gerichte hätten durch die Stattgabe der Klage von Herrn Slobodnik sein Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung gemäß Art. 10 EMRK verletzt. Er rügt ferner eine Verletzung seines Rechts auf Gedankenfreiheit gemäß Art. 9 EMRK durch die Veröffentlichung einer Erklärung, wonach seine Äußerung als üble Nachrede zu werten sei. Er behauptet außerdem, wegen seiner politischen Meinung benachteiligt worden zu sein, was eine Verletzung von Art. 14 EMRK darstelle (Diskriminierungsverbot).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK:

Unbestritten ist, dass ein Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung vorliegt. Dieser war gesetzlich vorgesehen und verfolgte ein legitimes Ziel, nämlich den Schutz des Rufes oder der Rechte anderer. Zu prüfen ist, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

Die Äußerung des Bf. erfolgte im Zuge einer politischen Debatte über Angelegenheiten von allgemeinem und öffentlichem Interesse betreffend die Geschichte der Slowakei, die Auswirkungen auf ihre zukünftige demokratische Entwicklung haben konnte. Wenn auch besagte Äußerung nicht die Quellen, auf die sie sich stützte, wiedergab, beruhte sie dennoch auf Tatsachen, die zuvor sowohl von Herrn Slobodnik selbst als auch von der Presse veröffentlicht worden waren. Der GH erinnert daran, dass die freie politische Debatte ein Eckpfeiler jeder demokratischen Gesellschaft ist. Für eine Einschränkung der politischen Rede müssen daher besonders gewichtige Gründe vorliegen. Der GH ist der Ansicht, dass es sich bei der Äußerung des Bf. um ein Werturteil handelte, für dessen Wahrheitsgehalt ein Beweis nicht geführt werden kann. Sie betraf die Klärung von politischen Fragen, die von entscheidender Bedeutung für die zukünftige Entwicklung der Slowakei waren. Generell ist zu sagen, dass die Grenzen akzeptabler Kritik bei Personen des öffentlichen Lebens weiter sind als bei Privatpersonen.

Was die vom slowak. Höchstgericht in seinem Urteil angeführten Gründe angeht, kann der GH dessen Ansicht, ein Werturteil sei nur dann zu berücksichtigen, wenn es sich zumindest an Tatsachen anlehnt, nicht beipflichten. Die Notwendigkeit eines Zusammenhanges zwischen einem Werturteil und Tatsachen, die dieses stützen, kann von Fall zu Fall, je nach den Gegebenheiten des Einzelfalls, verschieden sein. Im ggst. Fall baute das Werturteil des Bf. auf Informationen auf, die bereits einer breiteren Öffentlichkeit bekannt waren. Ebenso wenig kann auch der Art und Weise der Auslegung des Begriffs „faschistische Vergangenheit" durch das Höchstgericht beigepflichtet werden. Dieser ist nicht restriktiv, wie ihn das Höchstgericht begreift, sondern extensiv auszulegen. So kann eine Person, die einer faschistischen Organisation als Mitglied angehörte, auch dann von diesem Begriff mitumfasst sein, wenn sie keine bestimmten Aktivitäten zur Verfolgung faschistischer Ideale gesetzt hat. Das Höchstgericht konnte nicht überzeugend darlegen, dass der Schutz der Persönlichkeitsrechte einer Person des öffentlichen Lebens im vorliegenden Fall das Recht des Bf. auf freie Meinungsäußerung sowie das Interesse der Öffentlichkeit an der Diskussion von Fragen allgemeinen öffentlichen Interesses überwog. Aus den Entscheidungen der Gerichte geht auch nicht hervor, dass die politische Karriere und das Privat- und Berufsleben von Herrn Slobodnik durch die Äußerung des Bf. gelitten hätten. Die vom Höchstgericht herangezogenen Gründe waren als solche nicht ausreichend, um einen Eingriff in die Meinungsfreiheit des Bf. zu rechtfertigen. Der Eingriff war somit in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig. Verletzung von Art. 10 EMRK (5:2 Stimmen, gemeinsames Sondervotum der Richter Fischbach und Lorenzen). Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK:

Der Bf. legt dar, er sei wegen seiner politischen Meinung benachteiligt worden, weil er die maßgebliche Beweislast für seine Behauptungen tragen hätte müssen. Er behauptet ferner, dass die Gerichte den Begriff „faschistische Vergangenheit" fehlinterpretiert hätten. Schließlich habe er die Veröffentlichung einer Erklärung, in der seine Äußerung als rufschädigend bezeichnet wurde, dulden müssen. Der GH kann keinerlei Anhaltspunkt dafür finden, dass die gerügte Maßnahme einer unterschiedlichen Behandlung zuzuschreiben ist, die auf der politischen Meinung des Bf. oder einem anderen relevanten Grund beruht hätte. Keine Verletzung von Art. 14 EMRK (einstimmig).

Vgl. die vom GH zitierte Judikatur:

Lingens/A, Urteil v. 8.7.1986, A/103 (= EuGRZ 1986, 424).

Oberschlick (Nr. 1)/A, Urteil v. 23.5.1991, A/204 (= EuGRZ 1991,

216).

Vogt/D, Urteil v. 26.9.1995, A/323 (= NL 1995, 188 = EuGRZ 1995, 590

= ÖJZ 1996, 75).

De Haes & Gijsels/B, Urteil v. 24.2.1997 (= NL 1997, 50 = ÖJZ 1997, 912).

Lehideux & Isorni/F, Urteil v. 23.9.1998 (= NL 1998, 195).

Jerusalem/A, Urteil v. 27.2.2001 (= NL 2001, 52).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 12.7.2001, Bsw. 29032/95, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2001, 149) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/01_4/Feldek.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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