Spruch:
Art. 5 Abs. 4 EMRK - Anhaltung eines geistig abnormen Rechtsbrechers in einer geschlossenen Anstalt
Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK (16:1 Stimmen).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: PLZ 15.000,- für immateriellen Schaden (16:1 Stimmen). Der Antrag des BF. auf Erstattung von Kosten und AUslagen wird mangels Kostenaufstellung zurückgewiesen (einstimmig).
Text
Begründung
Sachverhalt:
Gegen den Bf. war ein Strafverfahren wegen Totschlags an seiner Frau eingeleitet worden. Es stellte sich heraus, dass er zum Tatzeitpunkt unzurechnungsfähig gewesen war, worauf das Verfahren eingestellt wurde. Der Bf. wurde darauf 1988 in eine geschlossene Anstalt überstellt. Im März 1993 suchte der Rechtsvertreter des Bf. um dessen Entlassung aus der Anstalt an. Gleichzeitig stellte er den Antrag, den Bf. aus Gründen der Unparteilichkeit nicht von Fachärzten der Anstalt, sondern von Psychiatern der Universität Krakau untersuchen zu lassen. Das Gericht stimmte dem Antrag zu und übermittelte die Krankengeschichte des Bf. an besagte Universität. Er wurde dort von Ende Jänner bis Anfang Februar 1994 untersucht. In einem Ende November 1994 erstellten Gutachten kam das Expertengremium der Universität Krakau zu folgendem Ergebnis: Der psychische Zustand des Bf. mache seine Anhaltung nach wie vor notwendig; die Gründe, angesichts derer seine Einweisung seinerzeit erfolgt war, seien unverändert gegeben. Anfang Jänner 1995 entschied das Gericht nach Prüfung des Gutachtens, die Anhaltung des Bf. fortzusetzen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet, durch die Dauer des Verfahrens betreffend die Überprüfung der Rechtmäßigkeit seiner Anhaltung in seinem Recht gemäß Art. 5 (4) EMRK, "ein Verfahren zu beantragen, in dem von einem Gericht ehetunlich über die Rechtmäßigkeit der Haft entschieden wird und im Falle der Widerrechtlichkeit die Entlassung angeordnet wird", verletzt worden zu sein.
Die Dauer von einem Jahr, acht Monaten und acht Tagen ist an sich unvereinbar mit dem Gebot einer zügigen Haftkontrolle, wie sie Art. 5
(4) EMRK voraussetzt. Eine solche Dauer kann nur durch besondere Umstände gerechtfertigt sein. Es besteht auch kein Anlass, vom Grundsatz abzugehen, wonach Verzögerungen, die iZm. der Einholung von Sachverständigengutachten entstehen, in die Verantwortung des Staates fallen. Ferner kann die Komplexität eines medizinischen Falles die staatlichen Behörden nicht von ihren durch Art. 5 (4) EMRK vorgegebenen Verpflichtungen befreien. Im vorliegenden Fall konnte kein kausaler Zusammenhang zwischen der Komplexität des medizinischen Falles und der Verzögerung bei Erstellung des Sachverständigengutachtens festgestellt werden. Vor seiner Entscheidung, die Anhaltung des Bf. fortzusetzen, nahm das Gericht Einsicht in das medizinische Sachverständigengutachten, das auf der Grundlage der klinischen Untersuchung des Bf. - von Ende Jänner bis Anfang Februar 1994 - erstellt worden war. Das Anfang Jänner 1995 ergangene Urteil des Gerichts stützte sich daher auf ärztliche Diagnosen, die nicht mehr notwendigerweise den Zustand des Bf. zum Zeitpunkt seiner klinischen Untersuchung widerspiegeln mussten. Eine solche Verzögerung - nämlich zwischen klinischer Untersuchung und Erstellung des medizinischen Sachverständigengutachtens - widerspricht allein schon dem Ziel und Zweck von Art. 5 EMRK, nämlich dem Schutz von Personen gegen willkürlichen Freiheitsentzug. Das Verfahren betreffend die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Anhaltung des Bf. wurde daher nicht in der von Art. 5 (4) EMRK geforderten Zügigkeit abgewickelt. Verletzung von Art. 5 (4) EMRK (16:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Pastor Ridruejo).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: PLZ 15.000,-- für immateriellen Schaden (16:1 Stimmen). Der Antrag des Bf. auf Erstattung von Kosten und Auslagen wird mangels Kostenaufstellung zurückgewiesen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Winterwerp/NL, Urteil v. 24.10.1979, A/33, EuGRZ 1979, 650. Luberti/I, Urteil v. 23.2.1984, A/75, EuGRZ 1985, 642. Van der Leer/NL, Urteil v. 21.2.1990, A/170.
Megyeri/D, Urteil v. 12.5.1992, A/237, NL 92/4/5; EuGRZ 1992, 347; ÖJZ 1992, 808.
Anm.: Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 4.3.1998 eine Verletzung von
Art. 5 (4) EMRK festgestellt (13:2 Stimmen).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 25.3.1999, Bsw. 24557/94, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1999, 61) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/99_2/Musial.pdf
Das Original der Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)
